Das A und O einer erfolgreichen OTP-Verschlüsselung ist, dass die Zeichenfolge:
1 4 1 5 9 2 6 5 3 5 8 9 7 9 3 2 3 8 4 6 2 6 4 3 3 8 3 2 7 9 5 0 2 8 8 …
auf Smileys Zettel keinerlei Muster besitzt. Die Ziffern müssen völlig wirr aufeinanderfolgen. Sie entsprechen dem Rauschen, das man hört, wenn ein Radioapparat nicht auf einen Sender eingestellt ist. Nur dadurch geht die Botschaft Smileys an den Circus, 0 0 7 0 0 7 0 0 7, in diesem Rauschen unter: Aus der Zahl mit einem Muster – und das Muster ist die Botschaft – wird nach Addition modulo zehn zur Zahl auf dem Zettel von Smileys Schuh eine Ziffernfolge ohne erkennbares Muster.
Es ist offensichtlich, dass Karlas Agenten mit der abgefangenen Nachricht
1 4 8 5 9 9 6 5 0
nichts anfangen können. Denn wie sollten sie diese entziffern? Die Ziffern folgen genauso wirr aufeinander wie die Ziffern auf Smileys Zettel. Natürlich könnte Karla seine Untergebenen antreiben, alle denkbaren Ziffernfolgen über die verschlüsselte Nachricht zu schreiben, die beiden Zeilen modulo zehn zu addieren und zu hoffen, dass sich plötzlich ein Muster ergibt, das auf Smileys Botschaft rückschließen lässt. Doch das ist aussichtslos: Denn die Fülle der möglichen denkbaren Ziffernfolgen ist so überwältigend groß, dass nicht einmal Heere geschundener Sowjetbürger, die in unermüdlicher Arbeit Karlas wahnwitzigem Befehl nachkommen, dies bewältigen könnten.
Und selbst wenn es gelänge, nichts wäre gewonnen.
Denn es könnte geschehen, dass einer der von Karla zur Entzifferung Verdammten plötzlich aufspringt, zu Karlas Büro eilt und ihm sein Resultat 3 3 3 3 3 3 3 3 3 zeigen will, das er aus der verschlüsselten Nachricht entnommen hat. Denn es gibt eine Zufallsfolge von Ziffern, bei der die Botschaft 3 3 3 3 3 3 3 3 3 verschlüsselt zu genau der gleichen Ziffernfolge führt, die Karla von Smiley Funkspruch abgefangen hat. Als der Angestellte in Karlas kahles und verrauchtes Zimmer stürmt, sieht er sich jedoch einem Dutzend anderer Kollegen gegenüber, die Karla ebenfalls ein sinnvolles Resultat präsentieren wollen. Jedes von ihnen ist mit der gleichen Wahrscheinlichkeit Smileys Botschaft. Karla hat keinen Anhaltspunkt, welches das richtige sein könnte. Man könnte sogar jede Wette darauf eingehen, dass es nicht darunter ist.
Kennt man also eine Ziffernfolge, bei der die Ziffern völlig wirr aufeinanderfolgen, hat man mit dem One-Time-Pad die unknackbare Methode zur Verschlüsselung in der Hand. Jedenfalls für eine Botschaft. Will man mehrere Botschaften verschlüsseln, braucht man für jede einzelne von ihnen wieder eine andere Ziffernfolge, bei der die Ziffern wie vom Zufall gelenkt der Reihe nach auftauchen.
Wie bekommt man solche Ziffernfolgen? Nichts einfacher als das, könnte man meinen: Man tippt einfach ganz chaotisch Ziffern von einer Tastatur in den Computer. Aber einer solchen Methode ist nicht zu trauen. Selbst dann nicht, wenn sie von Hopi-Indianern durchgeführt würde, die von einem so fremden Kulturkreis kommen, dass sie unsere Ziffern nicht kennen und daher völlig ahnungslos die Tasten drückten. Auch dann nicht, wenn die zehn Tasten nicht beschriftet wären und man keinen Bildschirm vorm Auge hätte, also wirklich blind die Tasten betätigte. Nicht einmal dann, wenn man statt Menschen Tiere zum wilden Drücken der Tasten veranlasste. Egal, wie man es anstellt: Wenn man nur genügend lang dieses sinnlose Tun treibt, irgendwie gerät man, Mensch wie Tier, immer in ein Muster. Und das Muster ist des Zufalls schlimmster Feind.
Eine Idee, die auch tatsächlich verfolgt wird, wäre, Zufallsprozesse in der Natur auszunützen. Das können die kleinen Spannungsschwankungen sein, die sich im Stromnetz unentwegt einstellen. Aber auch der Zerfall eines radioaktiven Stoffes, denn die Quantentheorie lehrt, dass solche Zerfälle unvorhersehbar und prinzipiell zufällig sind.
Wie überhaupt die Quantentheorie zumindest theoretisch Möglichkeiten unknackbarer Verschlüsselungen verheißt. Doch, wie Goethe sagt, „Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gerne loswerden möchte“. Im Kopf gebildete glänzende Theorien sind etwas ganz anderes als deren Verwirklichung am widerborstigen Material.
Die Mathematik ist zuverlässiger als die Natur.