Eine Zahl, die aus der Kälte kam

Wir versetzen uns in die Zeit des Kalten Krieges, als aus der Sicht der Geheimdienste die Welt noch „in Ordnung“ war. Die Briten und Amerikaner waren auf der Seite des Westens, die Russen auf der des Ostens, und dazwischen schien für ewig unverrückbar ein Eiserner Vorhang errichtet. Er trennte zwei Welten.

Es war die Zeit des George Smiley, des Helden der frühen Romane von John le Carré, in den BBC-Mehrteilern „Dame, König, As, Spion“ (1979) und „Agent in eigener Sache“ (1982) grandios verkörpert von Sir Alec Guinness, in der brillanten Kinofassung (2011) des erstgenannten Buchs dann von Gary Oldman.

Einst, in den späten Dreißiger- und den Vierzigerjahren, hatte die britische „Intelligence“ – ein besserer Name fiel den Gründern des Geheimdienstes für ihre Firma, die sie später flapsig den „Circus“ nannten, nicht ein – mit George Smiley als einem ihrer besten Agenten noch unzweifelhaft für das Gute gestritten: gegen Hitler und, als nach dessen Untergang die Sowjetunion vom Verbündeten zum Feind wurde, auch gegen Stalin. Doch nun, in den 70er Jahren, verkam in Smileys Augen der einst heroische Kampf zum zynischen Spiel. Die moralisch tönenden Ansprüche, mit denen sich die Agenten über Wasser hielten, klangen zunehmend hohl. „Man muss“, so sagten die Obersten des Circus, „dreckige Dinge tun, um dafür sorgen zu können, dass die Bürger unseres Landes ruhig in ihren Betten schlafen.“ Aber Smiley wusste, dass sie sich damit selbst belogen: um die Schuldgefühle zu unterdrücken, wenn wieder einmal angeworbene Verräter vom Feind enttarnt und an die Wand gestellt wurden. Hin- und hergerissen von peinigenden Gewissensbissen einerseits und der unverbrüchlichen Loyalität andererseits, kündigte er alle 14 Tage mit der festen Absicht, sich zur Ruhe zu setzen und seiner Lieblingsbeschäftigung, der Lektüre von Literatur des deutschen Barock, zu frönen. Um ein paar Tage später, manchmal salbungsvoll von aalglatten Bücklingen aus dem Ministerium gerufen, wieder im Circus aufzukreuzen und erneut für Englands Ehre ins Feindesland, in die Kälte zu gehen.

Von dort, genauer aus der Hauptstadt der damaligen Tschechoslowakei, so wollen wir unsere fiktive Geschichte, in der Primzahlen die entscheidende Rolle spielen, beginnen, bittet er den Circus um Hilfe: Ein Agent soll, ausgerüstet mit Decknamen und falschen Papieren, durch den Eisernen Vorhang zu ihm dringen. Smiley will aber nicht irgendeinen, sondern einen ganz bestimmten Agenten treffen: den mit der Nummer 007, keinen anderen. Liebhaber John le Carrés wissen, dass man sich 007 nicht wie James Bond vorstellen darf. Der Agent ist vielmehr ein unauffällig aussehender Mann, durch die harte Ausbildung und jahrelange Tätigkeit im Feld zu einem eiskalten Zyniker verkommen; kräftig, verschlagen und – soweit man es von Leuten zweifelhafter Herkunft erwarten darf – verlässlich und gehorsam.

Wie aber gelingt es Smiley, seinen Leuten in London mitzuteilen, dass sie den Agenten mit der Nummer 7 zu ihm senden sollen? Würde er diese Zahl funken oder in einem Brief aufzeichnen, es wäre der glatte Wahnsinn. Denn Smiley weiß: Seine Funksprüche werden abgehört, seine Briefe abgefangen. Sobald die Spione des Ostens die Nummer 7 hören oder lesen, ist der Agent enttarnt, bevor er noch beim Eisernen Vorhang angekommen ist.

Noch verrückter wäre es, nicht die Nummer, sondern den Namen des Agenten nach London zu funken oder zu schreiben. In den Karteikarten des Ostens sind alle Namen und Decknamen der dort bekannten britischen Agenten, zu denen 007 als alter Hase zählt, verzeichnet.

Darum muss sich Smiley entschließen, den Namen des Agenten auf eine geschickte Weise zu tarnen: zu verschlüsseln.

Seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte, seitdem die Schrift und die Zahlen erfunden waren, seitdem Rivalitäten, gar Kriege zwischen Völkern herrschten, bemühten sich schlaue Köpfe darum, möglichst geschickt Mitteilungen so als Geheimbotschaften zu chiffrieren, dass sie der Feind mit großer Gewissheit nicht entziffern konnte. Jedenfalls nicht in der kurzen Zeit, während der die Mitteilung bedeutsam war.

Eine jahrtausendealte, sicher schon zur Zeit der Entstehung der Bibel gebräuchliche Methode der Verschlüsselung heißt Atbasch. Der eigenartige Name hat mit den Buchstaben des hebräischen Alphabets zu tun: Der erste Buchstabe א, aleph, cum grano salis das A, und der letzte Buchstabe ת, tow, das T, stehen für die erste Silbe des Wortes Atbasch. Und der zweite Buchstabe ב, beth, also das B, und der vorletzte Buchstabe ש, schin, der Zischlaut SCH, für die zweite Silbe (das eingeschobene „a“ in „-basch“ dient bloß dazu, diese Silbe aussprechen zu können). Die Verschlüsselungsmethode ergibt sich aus ihrem Namen: Man vertauscht in einer Botschaft den ersten Buchstaben des Alphabets mit dem letzten, den zweiten mit dem vorletzten, und so weiter. Dann entsteht daraus ein Buchstabengefüge, das man nur als Wirrwarr empfindet, aus dem man – jedenfalls beim ersten Hinblicken – nicht mehr die ursprüngliche Botschaft zu lesen vermag.

Julius Cäsar hat Verschlüsselungen dieser Art gerne für seine Geheimbotschaften verwendet. Wollen wir zum Beispiel mit dem Atbasch, auf das lateinische Alphabet mit seinen 23 Buchstaben angewendet (das I und das J sowie das U und das V werden jeweils als ein Buchstabe geschrieben und das W kannte man noch nicht – es entstand erst im Mittelalter als doppeltes V), die folgende Geheimbotschaft entschlüsseln:

ZNTZ PZXEZ TFE

Zu diesem Zweck brauchen wir nur zweimal das lateinische Alphabet aufzuschreiben: einmal von links nach rechts und direkt darunter von rechts nach links:

A

B

C

D

E

F

G

H

I

K

L

M

N

O

P

Q

R

S

T

V

X

Y

Z

Z

Y

X

V

T

S

R

Q

P

O

N

M

L

K

I

H

G

F

E

D

C

B

A

Dieser Tabelle entnehmen wir, dass wir jeden vorkommenden Buchstaben Z durch A, den Buchstaben N durch L, jeden vorkommenden Buchstaben T durch E, den Buchstaben P durch I, den Buchstaben X durch C, jeden vorkommenden Buchstaben E durch T und den Buchstaben F durch S ersetzen müssen. Führen wir diese Ersetzungen durch, erhalten wir die ursprüngliche Botschaft Cäsars zurück:

ALEA IACTA EST

Dieses berühmte lateinische Zitat, übersetzt: „Der Würfel ist geworfen“, soll Cäsar beim Überschreiten des Flusses Rubikon geäußert haben. Den Rubikon mit einem Heer in Richtung Rom zu überschreiten bedeutete nämlich, die militärische Herrschaft über Rom anstreben zu wollen. Es gab danach kein Zurück.

Wie man sehr rasch erkennt, ist die Verschlüsselungsmethode mit dem Atbasch allzu einfach. Es ist als wirklich sicheres Kodierungsverfahren unbrauchbar. Sobald ein Geheimdienst ein wenig Routine besitzt, hat er eine mit dem Atbasch kodierte Mitteilung in Windeseile entschlüsselt.

Dass George Smiley den Namen des Agenten mit dem Atbasch verschlüsselt, kommt folglich nicht in Frage. Auch andere naheliegende Methoden, zum Beispiel jeden Buchstaben durch den unmittelbar nachfolgenden zu ersetzen (ebenfalls eine bereits von Cäsar benutzte Verschlüsselungsvariante), sind den gewieften Spionen des Ostens nicht gewachsen. Smiley muss sich weitaus raffinierterer Verfahren bedienen.

Er weiß darüber gut Bescheid und fordert daher den Circus in London auf, ihm Hilfsmittel zur Codierung seiner Nachricht zu senden. Als Antwort bekommt er aus London zwei Zahlen: den Modul 221 und den Exponenten 11.

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