Die beiden Amerikaner Ken Jennings und Brad Rutter gelten als die besten Quizspieler, die je in amerikanischen Fernsehshows aufgetreten sind. 2004 siegte Ken Jennings in der höchst populären Quizsendung Jeopardy unglaubliche vierundsiebzigmal in Folge. Dann aber verlor er gegen Brad Rutter, der dadurch einen höheren Jeopardy-Gesamtgewinn als Jennings verbuchen konnte. Bei der Quizshow Jeopardy können Kandidaten nur mit umfassendem Wissen und schneller Reaktionsfähigkeit gewinnen, vor allem aber müssen sie phantasievoll Begriffe kombinieren können. Die Aufgaben bei Jeopardy prüfen nicht pure Sachkenntnis, sie sind pfiffig und ausgefuchst. Nur Gewiefte finden sofort die Antworten auf Fragen wie zum Beispiel diese: „Was ist das: Unsere höfliche Anerkennung der Ähnlichkeit einer anderen Person mit uns selber?“
„Bewunderung“ wird als Lösungswort erwartet.
In drei vom 14. bis zum 16. Februar 2011 ausgestrahlten Folgen von Jeopardy trat ein geheimnisvoller Watson gegen die Jeopardy-Matadore Ken Jennings und Brad Rutter in den Ring. Watson gewann das Spiel haushoch mit einem Endstand von 77 147 Punkten gegenüber den 24 000 Punkten, die Jennings einheimste, und den 21 600 Punkten, die Rutter ergatterte. Das Preisgeld des Hauptgewinns von einer Million Dollar stellte Watson gemeinnützigen Zwecken zur Verfügung. Jennings und Rutter kündigten daraufhin an, jeweils die Hälfte ihrer Preise von 300 000 bzw. 200 000 Dollar zu spenden. Wer ist dieser menschenfreundliche Meisterdenker Watson, der den beiden scharfsinnigsten Quizspielern Amerikas eine derart klare Niederlage bereitete? Man bekam ihn bei der Ausstrahlung der Sendung nicht zu Gesicht. Den Platz zwischen Jennings und Rutter nahm nur ein blaues kugeliges Phantom ein. Denn Watson war in einem Nebenraum versteckt. Er wäre für den Kandidatensessel viel zu groß gewesen. Watson ist nämlich kein Mensch, sondern eine Maschine.
Eine Zahlenmaschine.
Es mag sein, dass das Wort „Zahlenmaschine“ ungewohnt klingt. Es ist jedoch treffender als das gebräuchliche Wort „Computer“ oder seine deutsche Übersetzung „Rechenmaschine“ (das lateinische computare bedeutet „rechnen“). Die Maschine Watson beansprucht hingegen, viel mehr als bloß rechnen zu können. Sie gaukelt vor, denken zu können. Was Watsons „Gehirnwindungen“, die von IBM zusammengesetzten Bausteine des „Denkens“, in Wahrheit tun, ist Zahlen zu manipulieren. Nichts anderes.
Im Französischen ist das Wort „Computer“ unbekannt, obwohl „computer“ als Wort im Altfranzösischen existiert. Man spricht in den französischsprachigen Ländern von einem „ordinateur“. Schon in den Wörterbüchern des 19. Jahrhunderts taucht dieser Begriff zur Bezeichnung desjenigen auf, der für das „Mettre en ordre“, für das „Anordnen“ zuständig ist. Eigentlich keine schlechte Bezeichnung. Wenn man nun bedenkt, dass alles Auflisten und Katalogisieren im Grunde darin besteht, den Dingen Zahlen zuzuweisen, mit denen sie sortiert und eingestuft werden, dürfen wir den „ordinateur“, da er ja eine Maschine bezeichnet, getrost mit „Zahlenmaschine“ ins Deutsche übertragen.
Wie immer es sei: Die Zahlenmaschine Watson überflügelte mit dem von ihr vorgespielten Wissen, mit ihrer Schnelligkeit, mit ihrer scheinbaren intellektuellen Beweglichkeit die spitzfindigsten Menschen. Ein Triumph der Vertreter der „künstlichen Intelligenz“: Pioniere der Informationstheorie wie John McCarthy, Marvin Minsky, Claude Shannon, Allen Newell und Herbert Simon formulierten erstmals 1956 auf einer wegweisenden Konferenz im Dartmouth College die These, dass Denken nichts anderes als Verarbeitung von Information, dass Verarbeitung von Information nichts anderes als Manipulation von Symbolen, dass Manipulation von Symbolen nichts anderes als nachvollziehbarer Umgang mit Zahlen und wenn man so will „Rechnen“ im allgemeinsten Sinn des Wortes sei. Beim Denken komme es auf ein menschliches Wesen nicht an: „Intelligence is mind implemented by any patternable kind of matter“, behaupteten sie. Sinngemäß übertragen: Jede formbare Materie ist als Träger von Denkvorgängen geeignet. Am besten jene Art von Materie, mit der man fast mühelos Bauelemente für zuverlässig funktionierende Strukturen beliebig hoher Komplexität formen kann: elektrische Bauteile wie Widerstände, Kondensatoren, Spulen, Dioden, Transistoren.
Der Sozialwissenschaftler der Gruppe, Herbert Simon, sagte schon 1957 voraus, dass innerhalb der folgenden zehn Jahre ein Computer Schachweltmeister werden und einen wichtigen mathematischen Satz entdecken und beweisen würde. Er hatte sich dabei etwas verschätzt, aber völlig daneben lag er mit seiner Prognose nicht. 1997 gelang es dem von IBM entwickelten System Deep Blue, den Schach-Weltmeister Garri Kasparov in sechs Partien zu schlagen.
Weitaus gewagter waren die Prophezeiungen Marvin Minskys: 1970 behauptete er, dass es in drei bis acht Jahren – jedenfalls hierin irrte er – Maschinen mit der durchschnittlichen Intelligenz eines Menschen geben werde, die Shakespeare lesen und Autos warten würden. Und noch abenteuerlicher war die grenzenlose Erwartungshaltung des Roboterspezialisten Hans Moravec von der Carnegie Mellon University: Mit Marvin Minsky teilte er die Überzeugung, dass mit der „künstlichen Intelligenz“ der ultimative Traum der Menschheit wahr werden würde, die Überwindung des Todes: Im Buch „Mind Children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz“ entwarf er ein Szenario der Evolution des „postbiologischen“ Lebens: Ein Roboter überträgt das im menschlichen Gehirn gespeicherte Wissen so in eine Zahlenmaschine, dass die Biomasse des Gehirns überflüssig wird und ein posthumanes Zeitalter beginnen kann, in dem das gespeicherte Wissen beliebig lange zugreifbar bleibt. Die Zahlenmaschine Watson schien bei Jeopardy zu beweisen, dass uns nur mehr wenige kurze Schritte bis hin zur Verwirklichung der Utopien – oder sollte man eher von Horrorszenarien sprechen? – von Minsky und Moravec trennen. Jedenfalls erlitten Jennings und Rutter, zwei Menschen aus Fleisch und Blut, im intellektuellen Wettstreit mit Watson ein Debakel.
Doch in Wahrheit war Watsons fulminanter Auftritt Blendwerk und Gaukelspiel. Niemand anderer als Blaise Pascal, der Konstrukteur der ersten funktionierenden Rechenmaschine, hätte dies besser durchschaut. Mit ihm wollen wir die Geschichte beginnen.