Unendliche Dezimalzahlen

Mit jemandem zu diskutieren, der bezweifelt, dass sechs mal sieben zweiundvierzig ergibt, ist sinnlos. Das Rechnen mit den Zahlen 1, 2, 3, … besitzt, wie Hermann Weyl sagt, „den Charakter einer aus völlig durchleuchteter Evidenz geborenen, klar auf sich selbst ruhenden Überzeugung“. Niemand hat auch nur den geringsten Zweifel, dass unmissverständlich feststeht, wie man ganze Zahlen addiert, subtrahiert, multipliziert. Die Entscheidung, welche von zwei verschiedenen Zahlen die größere ist, wird stets einhellig getroffen. Und auch die Division geht nach glasklaren Regeln vor sich.

Nichts belegt diese Gewissheit besser als das Vertrauen, das wir alle in die elektronischen Rechenmaschinen setzen. Nie in der Geschichte der Menschheit wurde auch nur annähernd so viel gerechnet wie in unseren Tagen – zwar nicht von Menschen, aber von Maschinen. Menschen verlernen zunehmend selbst die einfachsten Rechenfertigkeiten und verlassen sich blind auf die Maschinenergebnisse. Ein eigenartiger Trend zur freiwilligen Unterwerfung, der dann gefährlich wird, wenn damit zugleich die Kontrolle über die Programmierung der Maschinen verloren geht.

Ein zugegeben bizarres Beispiel beweist, wie felsenfest wir von der Sicherheit des Rechnens mit ganzen Zahlen überzeugt sind. In einem früheren Kapitel sprachen wir von der Größe π, die das Verhältnis vom Umfang zum Durchmesser eines Kreises beschreibt und deren erste 35 Stellen nach dem Komma

π = 3,141 592 653 589 793 238 462 643 383 279 502 88 …

lauten. Um 1600 hatte der Rechenmeister Ludolph van Ceulen 35 Jahre gebraucht, bis er zu diesem Ergebnis gelangt war. Heute kann man in Millisekunden die ersten zehntausend Stellen von π nach dem Komma mit dem elektronischen Rechner hervorzaubern. Allerdings werden diese nicht mehr nach den umständlichen Formeln ermittelt, die noch Ludolph verwendet hatte, sondern mit sehr effektiven Rechenmethoden, die unter anderem von Carl Friedrich Gauß, dem bedeutendsten Mathematiker der Neuzeit, stammen. Welche Methode man auch immer verwendet, schließlich endet sie bei der Addition, Subtraktion, Multiplikation von ganzen Zahlen und dem Größenvergleich von zwei ganzen Zahlen. Denn sonst könnte man sie nicht im elektronischen Rechner programmieren.

In den letzten Jahrzehnten hat sich ein regelrechter Sport im Auffinden von möglichst vielen Nachkommastellen von π entwickelt. 2009 stellte Daisuke Takahashi mit Hilfe eines High-Performance-Computers an der Universität Tsukuba in Japan einen Rekord auf: Er berechnete 2 600 000 000 000, also 2,6 Billionen Stellen von π. Schon 2010 wurde dieser Rekord vom Pariser Computerwissenschaftler Fabrice Bellard gebrochen: Bellard hat eine Formel von David Chudnovsky herangezogen und mit seinem Personal Computer nach 131 Rechentagen 2 699 999 990 000, also fast 2,7 Billionen Stellen von π nach dem Komma ermittelt. Natürlich hat er diese nicht ausgedruckt. Denn wenn auf einer Seite 5000 Ziffern Platz finden, würde dies den Druck von mehr als einer halben Million Bände bedeuten, jeder Band bestehend aus tausend Seiten, alle diese Seiten eng bedruckt mit wirr aufeinanderfolgenden Ziffern – eine riesige Bibliothek.

Im gleichen Jahr ließ der Japaner Shigeru Kondo seinen selbst zusammengestellten Computer 90 Tage lang laufen und ermittelte mit einem von seinem amerikanischen Kollegen Alexander Yee implementierten Programm fünf Billionen Stellen von π nach dem Komma. Danach ließen die beiden ihre Rechenmaschine 371 Tage laufen und gelangten im Oktober 2011 zu zehn Billionen Nachkommastellen von π. Und das „Rennen“ kann unbeschränkt weitergehen, denn unendlich viele Stellen harren noch immer ihrer Entdeckung … Selbstverständlich „braucht“ niemand wirklich so viele Nachkommastellen von π. In den meisten Fällen genügt für praktische Berechnungen der von Archimedes gefundene Wert π = 3,14… mit zwei genauen Nachkommastellen.

Der Nutzen dieser Berechnungen besteht darin, die Güte der verwendeten Computer zu testen. Denn man verwendet zur Berechnung der Billionen Stellen nach dem Komma von π zwei voneinander unabhängige Programme. Ständig werden die ermittelten Ziffern verglichen. Falls sich unterschiedliche Werte ergeben, weiß man, dass der Computer einen Hardwaredefekt besitzt. Denn die Formeln selbst sind fehlerfrei, und die Arithmetik der ganzen Zahlen kann nie in die Irre führen.

π ist eine Größe, die man gerne eine unendliche Dezimalzahl nennt. Dies nicht deshalb, weil π unendlich wäre – das ist diese Größe sicher nicht, ist sie doch kleiner als 3,142. Sondern deshalb, weil wir wissen, dass die Dezimalentwicklung von π nie abbricht. Und es handelt sich sogar um eine sogenannte „irrationale“, unendliche Dezimalzahl, weil sich in ihrer unendlichen Dezimalentwicklung nie eine Periode einstellen wird.

Tatsächlich sieht es nur so aus, als ob π eine Zahl wäre. In Wahrheit ist sie dies streng genommen nicht. Denn so wie mit den ganzen Zahlen kann man mit π nicht rechnen. Wenn zum Beispiel ein Kreis mit dem Radius von einem Meter vorliegt, besitzt seine Fläche genau π Quadratmeter als Inhalt. Sucht man die Seitenlänge des flächengleichen Quadrats, hat man die Wurzel von π zu berechnen. Wie aber führt man diese „Quadratur des Kreises“ durch?

Die Wurzel einer positiven ganzen Zahl zu berechnen ist einfach: Man tippt die Zahl in den Computer und drückt danach die Wurzeltaste. Sofort leuchtet das Ergebnis am Bildschirm auf. (Meist ist dieses eine unendliche Dezimalzahl: Man bekommt also nur die ersten paar ihrer unendlich vielen Stellen zu Gesicht.)

So die Wurzel von π zu berechnen, ist hingegen unmöglich. Denn bevor man im Computer die Wurzeltaste drücken darf, müsste man alle unendlich vielen Stellen von π eingetippt haben. Das ist schlicht nicht zu schaffen. Das Unendliche stellt sich dieser Methode entgegen.

Natürlich begnügt sich eine aufs Praktische bedachte Person damit, nach der Eingabe von 3,142 die Wurzeltaste zu drücken, vielleicht das Ergebnis mit jenen zu vergleichen, die nach der Eingabe von 3,1416 und von 3,14159 und dem jeweiligen Drücken der Wurzeltaste aufscheinen: Wenn bei allen Ergebnissen die für die weitere Rechnung benötigten Stellen stabil bleiben, reicht dies für die Praxis aus. Doch der auf Präzision bedachte Mathematiker muss zugeben: Keines dieser Ergebnisse kann die genaue Wurzel von π sein. Denn nie wurde π exakt eingegeben.

Ein wenig erinnert dieses Dilemma an die Näherungskonstruktion von Kochanski. Der Satz von Lindemann versichert, dass die exakte Quadratur des Kreises mit Zirkel und Lineal nie gelingen kann. Das Quadrat des Adam Kochanski kommt dem idealen Quadrat sehr nahe, exakt mit ihm übereinstimmen kann es jedoch nicht.

Doch ebenso, wie es das ideale Quadrat, dessen Fläche mit der eines gegebenen Kreises übereinstimmt, „gibt“ – nämlich in unserem Denken –, genauso muss es die exakte Wurzel von π „geben“ – ebenso nur in unserem Denken. Auf ein Computerergebnis dürfen wir hingegen nie und nimmer hoffen.

Und davon war David Hilbert überzeugt: Ebenso wie wir uns auf die Arithmetik der ganzen Zahlen verlassen, dürfen wir annehmen, dass auch das Rechnen mit unendlichen Dezimalzahlen eine sichere Sache ist.

Hilbert teilte diese Überzeugung mit Newton und Leibniz, den Erfindern des „Kalküls“, die wie selbstverständlich mit „unendlichen“ Dezimalzahlen wie mit den ganzen Zahlen rechnen zu können glaubten. Hilbert teilte diese Überzeugung mit der Heerschar aller Mathematiker vor ihm, die den „Kalkül“ von Newton und Leibniz weiter ausbauten und in vielfacher Weise zur Anwendung brachten.

Aber Hilbert wusste, dass Überzeugung allein noch keinen triftigen Grund darstellt. Und es gibt in der Tat eigenartige Phänomene, wenn man mit dem Unendlichen so verfährt, als wäre dies ein harmloser Begriff. Denn es spielt die Logik verrückt, wenn das Unendliche ins Spiel kommt.

Загрузка...