Gödel selbst fand seine Erkenntnis außerordentlich ermutigend. Er war felsenfest überzeugt, dass die Mathematik, auch jene, die das Rechnen mit unendlichen Dezimalzahlen erlaubt, widerspruchsfrei ist. Nimmt man diesen Standpunkt ein, ist Hilberts Programm eine unnötige Fleißaufgabe. Und es ist wenig verloren, wenn man erkennt, dass diese Fleißaufgabe undurchführbar ist.
Dafür aber viel gewonnen. Denn wenn es eine Aussage gibt, von der man feststellt, dass sie innerhalb des logischen Systems, in dem sie formuliert wurde, weder beweisbar noch widerlegbar ist, dann steht diese Aussage als mögliches neues Axiom zur Verfügung. Das bedeutet, man könnte gleichsam per Dekret erklären, dass die Aussage Gültigkeit besitzt, und hat damit das bisherige System um diese Aussage bereichert. Und auch das um diese Aussage erweiterte System bleibt widerspruchsfrei. Man könnte aber genauso verfügen, dass die Negation dieser Aussage zutrifft. Dann erhält man aus dem bisherigen System ebenfalls ein erweitertes, aber anderes System, das genauso widerspruchsfrei ist.37
Und man wird nie um Aussagen verlegen sein, von denen feststeht, dass sie innerhalb des logischen Systems, in dem sie formuliert wurden, weder beweisbar noch widerlegbar sind. Es gibt sie zuhauf – und in den jeweils bereicherten Systemen mindestens so viele wie zuvor: unendlich viele.
Darum, so erkannte Gödel, gibt es eine überbordende Unzahl von verschiedenartigsten Möglichkeiten, Mathematik zu betreiben. Abgesehen vom festen Kern der Arithmetik, die in allen Variationen Gültigkeit besitzt, gelten in der einen Spielart von Mathematik Aussagen, die in der anderen als falsch verworfen werden, und umgekehrt. Aber jede der verschiedenen Lesarten von Mathematik ist, wenn man sich auf sie einlässt, widerspruchsfrei. Bei der Wahl der jeweiligen Variante ist man völlig frei. Schon Cantor schien dies geahnt zu haben, als er das eigenartige Wort prägte: „Das Wesen der Mathematik liegt in ihrer Freiheit.“
Es ist eine Freiheit, die das Gefühl von Allmacht wachruft.
Eine Allmacht, die Gödel bedrückte. Denn er war überzeugt, dass all das, was widerspruchsfrei ist, tatsächlich existiert, buchstäblich manifest vorhanden ist. Nicht bloß abstrakt, in Gedanken, sondern konkret, in der handgreiflichen Wirklichkeit. Dass es eine unermessliche Vielzahl von in sich widerspruchsfreien „Welten“ gibt; ein „Multiversum“, das myriadenfach vielfältiger ist als jenes der ohnehin höchst spekulativen Kosmologie. Jedes der unendlich vielen widerspruchsfreien mathematischen Systeme beherrscht je eine dieser Welten. Und weil Gödel von all diesen unzähligen Welten wusste, waren sie in seinem Bewusstsein ineinander verschränkt. Jede von ihnen ist vorhanden, wenn man sich in ihr bewegt, und sogleich verschwunden, wenn man zu einer anderen wechselt. Sie sind wie Spukgestalten.
Gödel, der größte Logiker des 20. Jahrhunderts, glaubte ernsthaft an Gespenster.
Dementsprechend bizarr verlief sein Leben: Ständig war er von der Angst verfolgt, sein schwaches Herz könne plötzlich stillstehen, sein Essen könne ihm schaden, die Nerven könnten versagen. Den Ärzten mit ihren logisch inkonsistenten Diagnosen war ohnehin nie zu trauen. Egal wie heiß es war, stets war er bedacht, warm angezogen zu sein, denn die Gefahr eines plötzlichen Fiebers schwebte wie ein Damoklesschwert über ihm. Hinzu kamen Psychosen und Depressionen. Den ersten Nervenzusammenbruch löste die Ermordung des von Gödel verehrten Professors Moritz Schlick mitten im Hauptgebäude der Universität aus. Nirgends, so schloss Gödel, konnte man seines Daseins sicher sein.
Dann aber wieder erstaunt, wie weitsichtig Gödel die einzig richtige Entscheidung seines Lebens zu treffen vermochte, die Wahl seiner zukünftigen Frau: Seine Eltern waren entsetzt. Gödel verliebte sich in Adele Porkert, eine Garderobiere eines verrufenen Nachtklubs, eine um fast sieben Jahre ältere Frau aus bescheidenen Verhältnissen, dazu noch geschieden. Erst nach dem Tod des Vaters setzte Gödel bei seiner entsetzten Mutter durch, Adele heiraten zu dürfen. Wie recht er mit seiner Entscheidung hatte: Adele rettete ihren lebensuntüchtigen „Kurtsi“ mehrfach vor drohender Gefahr. Zum Beispiel als nach Hitlers Einmarsch in Wien rotzige SA-Männer ihren Mann als Juden anpöbelten und sie, ihren Regenschirm schwingend, die unverschämte Horde in die Flucht trieb. Für sie und ihren Mann war klar: Sie durften nicht länger in Wien bleiben. Gödel war kein Jude, er war als kriegsverwendungstauglich eingestuft worden. Seine Einberufung zur Wehrmacht wäre der sichere Tod des schmächtigen und ungelenken Männleins gewesen. Mit einer Einladung des bereits im Institute for Advanced Study in Princeton residierenden John von Neumann nach Amerika in den Händen, konnte Adele ihren Kurt davor bewahren. Da ihnen aber durch den Krieg der direkte Weg in den Westen verwehrt war, musste Adele ihren Mann zur Reise in die Sowjetunion, mit der Transsibirischen Eisenbahn bis hin zur Pazifikküste Asiens, über den Ozean nach Kalifornien und von dort über den amerikanischen Kontinent bis nach Princeton Schritt um Schritt überreden. Als sie endlich an der amerikanischen Ostküste angekommen waren, steigerte sich die Hypochondrie Gödels ins Unermessliche: Er ängstigte sich, vergiftet zu werden. Seine Frau musste alle Speisen vor seinen Augen zubereiten und mit dem Besteck, das er danach verwenden sollte, kosten.
Princeton war für Adele Gödel, die zu intellektuellen Kreisen keinen Zugang fand, ein Alptraum. Nur die Sorge um ihren Mann gab ihrem Leben einen Sinn. Dieser aber schottete sich von fast allen seinen Kollegen ab. In seiner Kammer, zu der niemand Zutritt erhielt, erforschte er die mathematischen Welten und beantwortete er die Briefe, die an ihn gerichtet waren. Wobei er die Antwortschreiben nie abschickte, sondern auf seinem Schreibtisch stapelte. Sie waren vorhanden, sie existierten – das musste genügen.
Allein zu Albert Einstein fand er Zugang, ja die beiden Gelehrten befreundeten sich, und ihre gegenseitige Zuneigung hielt bis zu Einsteins Tod 1955 an. Worüber sie sich während ihrer Spaziergänge unterhielten, weiß man nicht. Bestimmt freute sich Einstein darüber, in Gödel jemanden gefunden zu haben, der an eine vom beobachtenden Subjekt unabhängige Außenwelt glaubte, ja sogar an eine Außenwelt, die in vielfachen Variationen denkmöglich und daher auch in all dieser Mannigfaltigkeit verwirklicht ist. Umgekehrt dürfte Einstein, so vermutete der Physiker John Archibald Wheeler, seinen Freund Gödel davon abgehalten haben, sich mit der Quantentheorie zu beschäftigen. In ihr, so argwöhnte Einstein bis zu seinem Tod, seien immer noch Widersprüche verborgen – für Gödel Grund genug, die Finger davon zu lassen. Man kann sich die Szene lebhaft ausmalen: Die naiv besorgte Adele Gödel verpackt ihren eigenbrötlerischen Mann in mehrere Schichten von Mänteln, führt ihn zur Tür und sagt zu ihm: „Kurtsi, jetzt musst du nur noch den Weg bis zur Kreuzung nach oben gehen, dort wartet schon der Albert auf dich.“
Die Erkenntnis, dass aufgrund der Allgemeinen Relativitätstheorie Zeitreisen nicht nur in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit nicht ausgeschlossen sind, war eine Frucht der langen Gespräche zwischen Einstein und Gödel. Für den kauzigen Logiker nur ein weiterer Hinweis dafür, dass es Aristoteles und Leibniz noch immer genauso „gibt“, wie er weiß, dass es im fernen Europa Wien „gibt“ – Aristoteles und Leibniz sind „da“. Sie sind da als Gespenster.
Nach Einsteins Tod wurde Gödel noch wunderlicher. Oskar Morgenstern, der ihn manchmal besuchen durfte, erzählte, dass er einmal in Gödels Haus umherirrte, ohne auf ihn zu stoßen. Erst als er in den Keller ging, fand er Gödel zitternd in mehrere Mäntel gehüllt hinter dem Heizkessel verborgen. Gespenster der verstorben Geglaubten, so mutmaßte Gödel, schwirrten im Hause umher.
Noch viel mehr Wundersames wäre über Gödel zu erzählen, der am 14. Januar 1978 verhungerte, weil er aus Angst, vergiftet zu werden, jede Nahrungsaufnahme verweigerte. Daniel Kehlmann, der schon in der „Vermessung der Welt“ ein phantasievolles Bild von Carl Friedrich Gauß entworfen hatte, porträtierte Gödel und seine Welten wunderbar in dem Drama „Geister in Princeton“. All jenen, die mehr über Gödel erfahren wollen, sei es ans Herz gelegt.
Kein Wunder, dass die anderen Mathematiker des Institute for Advanced Study lange Zeit davor zurückschreckten, Gödel zum Professor zu ernennen. Nicht weil sie sein Werk nicht schätzten, dies taten sie sehr wohl, allen voran der 1933 von Göttingen nach Princeton ausgewanderte Hermann Weyl. Sondern weil sie die Eigenarten Gödels verstörten. „Es genügt“, sagte der ebenfalls aus Protest gegen die Nationalsozialisten aus Deutschland emigrierte Zahlentheoretiker Carl Ludwig Siegel, „dass ein Spinner als Professor für Mathematik in Princeton zugelassen ist. Zwei wären aber zu viel.“ Mit dem „einen Spinner“ meinte Siegel sich selbst.