Eine Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. Wenn man fragt, was Biologie sei, fällt die Antwort leichter: Es ist die Wissenschaft, welche mit den Methoden der Beobachtung und des Experiments alle Formen des Lebens untersucht. Auch die Mathematik ist eine Wissenschaft. Aber worauf beruht ihre Methode? Und was ist ihr Gegenstand?
Bei der Methode der Mathematik scheint es ziemlich klar: Es ist die Logik. Oder das Denken. Manche meinen, das sei das Gleiche. Begründungen mathematischer Aussagen jedenfalls müssen logisch einwandfrei sein. Verbirgt sich in einer Argumentationskette für den Nachweis einer Formel ein Denkfehler oder eine Lücke, die sich nicht schließen lässt, ist der angebliche Beweis nichts wert. Selbst wenn ihn eine mathematische Koryphäe vorträgt. Selbst wenn sich die Formel in Anwendungen hundertfach bewährt hat.
Anhand eines Beispiels aus dem Fundus der Mathematikgeschichte versteht man am besten, warum sich die Gemeinschaft der Mathematikerinnen und Mathematiker gar nicht darüber einig ist, wie sehr man sich auf die Logik verlassen darf. Und ob die Logik wirklich das Denken umfasst. Die Pointe der Geschichte schließlich ist, dass wohl bis zum Ende aller Tage völlig unklar bleiben wird, was die Mathematik wirklich zu leisten vermag.
Die Geschichte besteht aus zwei Teilen, den beiden letzten Kapiteln dieses Buches. In ihrem ersten Teil berichtet sie vom bedeutendsten deutschsprachigen Mathematiker um 1900, von David Hilbert, und sie erzählt von seiner Devise, um die sich die ganze Geschichte rankt. Im zweiten Teil der Geschichte erfahren wir, welches Geschick denen widerfahren ist, die sich Hilberts Leitspruch anschlossen, und jenen, die Hilberts Parole zu folgen nicht bereit waren.
Um 1900 kannte die mathematische Welt zwei Zentren: Göttingen in Deutschland und Paris in Frankreich.
Der eminenteste Göttinger Mathematiker war in dieser Zeit David Hilbert. Er leistete nicht nur selbst in allen Gebieten der Mathematik Pionierarbeit, er scharte auch eine große Runde höchst begabter junger Menschen aus aller Herren Länder um sich, die er zur Mathematik zu verführen verstand: den Russen Sergej Bernstein, der eigentlich in Paris studierte, die Amerikanerin Anne Bosworth, die von der Universität Chicago nach Göttingen gekommen war, den Italiener Ugo Napoleone Giuseppe Broggi, der später an der Universität von Buenos Aires wirkte, den Österreicher Paul Georg Funk, der nach seiner Studienzeit in der Tschechoslowakei und nach für ihn bitteren Jahren im „Dritten Reich“ schließlich an der Technischen Universität Wien lehrte, die Russin Nadjeschda Gernet, später ein Opfer in dem von den Nazis fast vollständig ausgehungerten Leningrad, dem früheren und späteren Sankt Petersburg, den Rumänen Alexandru Myller, der an der Universität von Iaşi einen Schwerpunkt der Mathematik in Rumänien setzte, den Polen Hugo Steinhaus, der in Lemberg, dem späteren Lwów, eine nach dem Ort benannte Schule der polnischen Mathematik begründete, den Japaner Teiji Takagi, der nach Tokio zurückkehrte und durch seine Forschung und Lehre seine Heimat für die moderne Mathematik öffnete – die Genannten sind nur ein paar von Dutzenden.
Unbedingt hervorgehoben werden muss Emmy Noether. Eigentlich war sie keine Schülerin Hilberts, sie promovierte bei Paul Gordan in Erlangen, wo ihr Vater Max Noether Mathematik lehrte. Ihr Doktorvater Gordan war Mathematiker der alten Schule: Nicht abstraktes Denken, sondern kompliziertes Rechnen stand bei ihm im Vordergrund. Als er erfuhr, dass in seinem eigenen Spezialgebiet, der sogenannten Invariantentheorie, Hilbert eine Reihe seiner nach mühevollem Rechnen erhaltenen Ergebnisse von einem völlig abstrakten Standpunkt aus ohne Beleg durch Rechnungen in einem Zuge herzuleiten verstand, beschwerte er sich bitter: „Das ist nicht Mathematik, das ist Theologie!“, soll er geschimpft haben. Emmy Noether hingegen erkannte richtungsweisend Neues in Hilberts Denken und schlug sich sofort auf seine Seite. Hilbert und sein väterlicher Freund Felix Klein versuchten, in ihrer Universität für Noether eine Stelle als Forscherin zu schaffen. Sie zog tatsächlich nach Göttingen. Allerdings schlugen ihr vonseiten konservativer Professoren Missachtung und Ablehnung entgegen und blieb ihr, obwohl sie zweifellos hochqualifiziert war, beinahe die Universitätskarriere versagt. Sie konnte jahrelang ihre Vorlesungen nur unter Hilberts Namen ankündigen. Als einige Professoren Noethers Anwesenheit an der Universität bekämpften – nicht weil sie sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, sondern nur, weil die Männer unter sich bleiben wollten –, empörte sich Hilbert: „Meine Herren, eine Fakultät ist doch keine Badeanstalt!“
Der wohl tiefste Denker unter den Mathematikern des 20. Jahrhunderts, Hermann Weyl, beschrieb im Nachruf auf seinen ehemaligen Lehrer Hilbert, wie er von ihm zur Mathematik gelockt worden war (dies ist die Übertragung des englischen Textes ins Deutsche; Weyl hatte 1933 aus Abscheu vor Hitler Deutschland den Rücken gekehrt): „Noch höre ich das Echo vom süßen Tone des Verführers, der Hilbert war und der alle, die ihm begegneten, unwiderstehlich in den Bann der Mathematik zog. Wer nach Beispielen fragt, dem antworte ich mit meiner eigenen Geschichte. Ich fuhr mit 18 als junger Mann vom Lande nach Göttingen. Die Universität wählte ich eigentlich nur, weil der Direktor meiner Schule ein Cousin Hilberts war und mich mit einem Empfehlungsschreiben an ihn ausstattete. Bedenkenlos, ja völlig naiv nahm ich es mir heraus, gerade jenen Kurs zu belegen, den Hilbert in diesem Semester ankündigte: über den Zahlbegriff und die Quadratur des Kreises. Das meiste, was ich dort hörte, war für mich schlicht zu hoch. Aber ich fühlte, dass mir dort die Türen zu einer neuen Welt geöffnet wurden. Nicht lange saß ich zu Hilberts Füßen, da fasste ich beherzt den Entschluss, ich müsse unbedingt alles lesen und studieren, was dieser Mann geschrieben hatte. Nach dem ersten Jahr bin ich mit Hilberts Zahlbericht unter dem Arm nach Hause gereist, und während der Sommerferien habe ich mich mit aller Kraft darin vertieft – ohne dass ich irgendwelche Vorkenntnisse in elementarer Zahlentheorie oder in Galoistheorie hatte. Es waren die glücklichsten Monate meines ganzen Lebens, deren Erinnerung für mich so tröstlich ist, dass weder Zweifel noch Enttäuschungen, die uns allen im Laufe unserer Jahre widerfahren, ihr etwas anhaben können.“