Der Mathematiker der Intuition

Hilbert gleichrangig, aber von völlig anderem Wesen, war Frankreichs größter Mathematiker um 1900: Henri Poincaré, ein älterer Cousin des späteren französischen Präsidenten Raymond Poincaré. Der ungarische Psychologe Lajos Székely untersuchte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie Genies zu ihren Erkenntnissen gelangten. Als er Henri Poincaré fragte, wie er zu einer seiner genialen Entdeckungen gekommen war, erhielt er die verblüffende Antwort: „Als ich in die Straßenbahn einstieg.“

An anderer Stelle äußerte sich Poincaré ausführlicher: „Fünfzehn Tage lang mühte ich mich zu beweisen, dass es Funktionen, die ich später Fuchssche Funktionen nannte, nicht geben könne. Ich war damals sehr unwissend; jeden Tag setzte ich mich an meinen Arbeitstisch, blieb dort ein bis zwei Stunden und probierte zahllose Kombinationen, ohne Ergebnis. Eines Abends trank ich ganz gegen meine Gewohnheit schwarzen Kaffee und konnte nicht schlafen. Ideen stiegen in großen Mengen auf; ich fühlte sie zusammenstoßen, bis sie sich paarweise verbanden, sozusagen stabile Kombinationen eingingen. Bis zum nächsten Morgen hatte ich die Existenz einer Klasse Fuchsscher Funktionen festgestellt. Ich musste nur noch die Ergebnisse niederschreiben, was bloß ein paar Stunden dauerte.“

Dieser Bericht erinnert an jenen des Chemikers August Kekulé, der folgendermaßen schildert, wie er auf einer Omnibusfahrt zur Idee der chemischen Bindung von Atomen gelangte: „Ich versank in Träumereien. Da gaukelten vor meinen Augen die Atome. Ich hatte sie immer in Bewegung gesehen, jene kleine Wesen, aber es war mir nie gelungen, die Art ihrer Bewegung zu erlauschen. Heute sah ich, wie vielfach zwei kleinere sich zu Pärchen zusammenfügten; wie größere zwei kleine umfassten, noch größere drei und selbst vier der kleinen festhielten, und wie sich alles in wirbelndem Reigen drehte. Ich sah, wie größere eine Reihe bildeten und nur an den Enden der Kette noch kleinere mitschleppten … Der Ruf des Conducteurs, Clapham Road, erweckte mich aus meinen Träumereien.“

Im Gegensatz zu Hilbert war Poincaré wenig daran interessiert, Schülerinnen und Schüler um sich zu scharen, mit denen er seine Einsichten teilte. Er lebte weitaus zurückgezogener. Das sogenannte „Mathematics Genealogy Project“, das bestrebt ist, alle Personen zu erfassen, die im Fach Mathematik ihre Doktorarbeit schrieben, zählt bei David Hilbert 75 Dissertanten, bei Henri Poincaré nur fünf.

Und im Gegensatz zu Hilbert war Poincaré nicht davon überzeugt, dass man Mathematik als formales logisches Spiel mit Axiomen verstehen könne. Poincaré gab im mathematischen Denken der Intuition, der Einsicht, dem ungetrübten Blick in das Wesen der Dinge Vorrang gegenüber der Logik.

Die in sich ruhende unerschütterliche Gewissheit, dass ein mathematischer Sachverhalt besteht, war in den Augen Poincarés das Wesentliche. Die Logik diente ihm bloß dazu, diese für sich selbst gewonnene Erkenntnis allen anderen als unbezweifelbar mitteilen zu können.

Wir sind uns der Zahlen und des Rechnens mit ihnen gewiss. Nichts ist für uns einsichtiger als die Tatsache, dass sechs mal sieben zweiundvierzig ergibt. Wir sind uns genauso dessen gewiss, dass es unendlich viele Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, … gibt. Allerdings nur in dem Sinn, dass wir davon überzeugt sind, dass keine Zahl die letzte ist. Zu jeder Zahl, wie groß sie auch sein mag, können wir, jedenfalls in Gedanken, noch eins addieren und damit eine noch größere Zahl erzeugen. Mehr aber kann man dem Unendlichen nicht entlocken. Auch nicht mit formalen Axiomen.

Anhand der unendlichen Dezimalzahl

π = 3,141 592 653 589 793 238 462 643 383 279 502 88 …

kann man den Unterschied zwischen den Auffassungen Hilberts auf der einen Seite und Poincarés auf der anderen Seite am besten beschreiben: Was bedeuten die drei Punkte am Ende der riesenlangen Ziffernentwicklung? Hilberts Antwort würde lauten:

„Dies ist die Dezimalentwicklung von π. Auf den ganzzahligen Teil 3 folgen unendlich viele Dezimalstellen. Die ersten 35 habe ich angeschrieben, unendlich viele weitere folgen nach. Natürlich gelingt es nicht, sie anzuschreiben. Aber meine Axiome lassen zu, dass ich sie mir alle wie gegeben denken darf. Dies meine ich im folgenden Sinn: Von jeder Behauptung über die Dezimalstellen von π kann mit meinen Axiomen jedenfalls im Prinzip entschieden werden, ob sie zutrifft oder nicht.“

Poincaré wäre in seiner Antwort weitaus vorsichtiger:

„Dies ist die Dezimalentwicklung von π. Auf den ganzzahligen Teil 3 folgen hier 35 Dezimalstellen. Doch damit ist die Dezimalentwicklung noch nicht zu Ende. Es gibt ein Verfahren, nach dem man auch 350, oder 3500, ja beliebig viele Dezimalstellen von π nach dem Komma berechnen kann. Beliebig viele, aber stets immer nur endlich viele! Die Vorstellung, es gäbe Axiome, mit denen die Gesamtheit der Behauptungen über die Dezimalstellen von π in wahre und in falsche Aussagen eingeteilt werden können, widerspricht diametral dem Wesen des Unendlichen.“

Hilbert starb 1943, Poincaré hingegen wurde nur 58 Jahre alt und starb knapp vor dem Ersten Weltkrieg. Dies trug maßgeblich dazu bei, dass die Mathematik in Paris in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts nicht die gleiche Blüte erlebte wie in Göttingen. Überdies raffte der Krieg eine große Zahl mathematischer Talente brutal hinweg, und die wenigen jungen französischen Intellektuellen, die sich in der Zwischenkriegszeit mit Mathematik auseinandersetzen wollten, fühlten sich gleichsam verlassen. Die alten Professoren an den Universitäten hatten kaum etwas vom Elan des Henri Poincaré; die verstaubten Vorlesungen orientierten sie immer noch an den altehrwürdigen, aber bereits antiquierten Lehrbüchern aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.32

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