Jenny Erpenbeck
Gehen, ging, gegangen

Für Wolfgang

Für Franz

Für meine Freunde

Gott schuf das Volumen, der Teufel die Oberfläche.

(Wolfgang Pauli)

Auch wenn es mich sehr stört, muss ich eine große Hemmung überwinden, um ein Insekt zu töten.

Ich weiß nicht, ob es Mitleid ist. Ich glaube nicht, nein.

Vielleicht einfach ein Sichgewöhnen an Zusammenhänge. Und ein Versuch, sich einzufügen in Zusammenhänge, die existieren, Einverständnis.

(Heiner Müller)

In the end, we will remember not the words of our enemies, but the silence of our friends.

(Martin Luther King)

1

Vielleicht liegen noch viele Jahre vor ihm, vielleicht nur noch ein paar. Es ist jedenfalls so, dass Richard von jetzt an nicht mehr pünktlich aufstehen muss, um morgens im Institut zu erscheinen. Er hat jetzt einfach nur Zeit. Zeit, um zu reisen, sagt man. Zeit, um Bücher zu lesen. Proust. Dostojewski. Zeit, um Musik zu hören. Er weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis er sich daran gewöhnt hat, Zeit zu haben. Sein Kopf jedenfalls arbeitet noch, so wie immer. Was fängt er jetzt mit dem Kopf an? Mit den Gedanken, die immer weiter denken in seinem Kopf? Erfolg hat er gehabt. Und nun? Das, was Erfolg genannt wird. Seine Bücher wurden gedruckt, zu Konferenzen wurde er eingeladen, seine Vorlesungen waren bis zuletzt gut besucht, Studenten haben seine Bücher gelesen, sich Stellen darin angestrichen und zur Prüfung auswendig gewusst. Wo sind die Studenten jetzt? Manche haben Assistenzstellen an Universitäten, zwei oder drei sind inzwischen selbst Professoren. Von anderen hat er lange nichts mehr gehört. Einer hält freundschaftlichen Kontakt zu ihm, ein paar melden sich von Zeit zu Zeit.

So.

Von seinem Schreibtisch aus sieht er den See.

Richard kocht sich einen Kaffee.

Er geht mit der Tasse in der Hand in den Garten und sieht nach, ob die Maulwürfe neue Hügel aufgeworfen haben.

Der See liegt still da, wie immer in diesem Sommer.

Richard wartet, aber er weiß nicht, worauf. Die Zeit ist jetzt eine ganz andere Art von Zeit. Auf einmal. Denkt er. Und dann denkt er, dass er, natürlich, nicht aufhören kann mit dem Denken. Das Denken ist ja er selbst, und ist gleichzeitig die Maschine, der er unterworfen ist. Auch wenn er ganz allein ist mit seinem Kopf, kann er, natürlich, nicht aufhören mit dem Denken. Auch, wenn wirklich kein Hahn danach kräht, denkt er.

Er stellt sich einen kurzen Moment lang vor, wie ein Hahn mit dem Schnabel in seiner Abhandlung über den» Begriff der Welt im Werk von Lukrez «blättert.

Er geht wieder ins Haus zurück.

Er überlegt, ob es für das Jackett zu warm ist. Braucht er überhaupt ein Jackett, wenn er allein in seinem Haus herumgeht?

Vor Jahren, als er durch Zufall erfuhr, dass seine Geliebte ihn betrog, half ihm nichts anderes über die Enttäuschung hinweg, als die Enttäuschung in Arbeit zu verwandeln. Monatelang war das Verhalten dieser Geliebten Gegenstand seiner Untersuchungen gewesen. Beinahe hundert Seiten hatte er geschrieben, um alles, was zu diesem Betrug geführt hatte, und auch die Art, wie der Betrug von der jungen Frau ins Werk gesetzt worden war, zu ergründen. Seine Arbeit hatte in Hinsicht auf die Beziehung zu keinem besonderen Ergebnis geführt, denn die Geliebte verließ ihn wenig später endgültig. Aber immerhin hatte er auf diese Weise die ersten Monate nach der Entdeckung, in denen ihm wirklich elend zumute gewesen war, hinter sich gebracht. Das beste Heilmittel gegen die Liebe, wusste ja schon Ovid, ist die Arbeit.

Nun aber quält ihn nicht die Zeit, die mit einer unnützen Liebe ausgefüllt ist, sondern die Zeit an sich. Vergehen soll sie, aber auch nicht vergehen. Einen kurzen Augenblick hat er die Vision eines zornigen, bunten Hahnes, der mit seinem Schnabel und seinen Krallen ein Buch zerfetzt, dessen Titel ist:»Versuch über das Warten«.

Vielleicht ist eine Strickjacke seiner Situation wirklich angemessener als ein Jackett. Bequemer jedenfalls. Und rasieren müsste er sich jetzt, da er nicht mehr täglich unter Leute geht, eigentlich auch nicht mehr jeden Morgen. Wachsen lassen, was wachsen will. Einfach nur nicht mehr dagegenhalten, oder ist das schon der Anfang vom Sterben? Das Wachsen der Anfang vom Sterben? Nein, das kann nicht stimmen, denkt er.

Den Mann, der unten im See liegt, haben sie immer noch nicht gefunden. Kein Selbstmord, sondern beim Baden ertrunken. Seit diesem Tag im Juni liegt der See still da. Tag für Tag still. Juni still. Juli still. Und jetzt, bald ist schon Herbst, immer noch still. Kein Ruderboot, keine kreischenden Kinder, kein Angler. Wenn in diesem Sommer irgendwer vom Steg der öffentlichen Badestelle einen Kopfsprung ins Wasser macht, kann es nur ein Fremder sein, der von dem Unglück nichts weiß. Beim Abtrocknen spricht den dann vielleicht eine Ortskundige an, die gerade ihren Hund ausführt, oder ein Fahrradfahrer, der kurz vom Rad steigt, um zu fragen: Sie wissen wohl nicht? Richard hat noch nie so einem Ahnungslosen etwas von dem Unglück gesagt, warum auch, warum jemandem, der nur einen schönen Tag haben will, den Tag verderben. An seinem Zaun spazieren die Ausflügler ebenso heiter, wie sie gekommen sind, auch auf dem Heimweg wieder vorüber.

Aber er muss, wenn er an seinem Schreibtisch sitzt, den See sehen.

Er war an dem Tag, als es passierte, in der Stadt. Im Institut noch, obwohl es ein Sonntag war. Besaß noch den Generalschlüssel, den er inzwischen abgegeben hat. Eines dieser Wochenenden, an denen er versuchte, sein Büro nach und nach leerzuräumen. Die Schubladen, die Schränke. Gegen 13.45 Uhr. Da war er gerade dabei, Bücher aus dem Regal, vom Fußboden, vom Sofa, vom Sessel, vom kleinen Tisch zu räumen und in Kartons zu packen. Zwanzig, fünfundzwanzig Bücher unten in jeden Karton, und darauf dann die leichteren Dinge: Manuskripte, Briefe, Büroklammern, Mappen, alte Zeitungsausschnitte. Bleistifte, Kugelschreiber, Radiergummis, die Briefwaage. Zwei Ruderboote seien in der Nähe gewesen, aber keiner von den Insassen habe geglaubt, dass da gerade ein Unglück geschieht. Hätten den Mann winken sehen und es für einen Scherz gehalten. Seien weggerudert sogar, hat er gehört. Wer die Insassen waren, weiß aber keiner. Junge Männer heißt es. Kräftige sogar, die hätten helfen können. Wer genau, weiß aber keiner. Oder hatten vielleicht doch Angst, dass der Mann sie mit hinunterzieht, wer weiß.

Seine Sekretärin hatte angeboten, ihm beim Packen zu helfen. Vielen Dank, aber. Irgendwie schien ihm, als läge allen — auch oder vielleicht gerade denen, die ihn mochten — viel daran, ihn nun so bald wie möglich aus ihrem Gesichtskreis zu schieben. Deswegen hatte er lieber allein gepackt, sonnabends und sonntags, wenn es im Institut ganz still war. Er merkte, dass er viel Zeit brauchte, um all das, was zum Teil seit Jahren unangesehen im Regal oder in einer der Schubladen gelegen hatte, hervorzuziehen und zu entscheiden, ob es in den blauen Sack für den Müll gehörte oder in einen der Kartons, die er nach Hause mitnehmen wollte. Unwillkürlich hatte er in diesem oder jenem Manuskript zu blättern begonnen und dann lesend viertel und halbe Stunden lang mitten im Zimmer gestanden. Die Arbeit eines Studenten über den»11. Gesang der Odyssee«, die Arbeit einer Studentin, in die er einmal ein wenig verliebt gewesen war, über» Bedeutungsebenen in den Metamorphosen von Ovid«.

An einem Tag Anfang August dann hatte es einen Umtrunk und einige Reden anlässlich seiner Emeritierung gegeben, die Sekretärin, manche Kollegen und auch er selbst hatten Tränen in den Augen gehabt, aber niemand, auch er selbst nicht, hatte wirklich geweint. Jeder wurde ja irgendwann alt. War irgendwann alt. In den Jahren zuvor war es häufig an ihm gewesen, die Abschiedsreden zu halten, oft war er es gewesen, der mit der Sekretärin besprach, wie viele Kanapees, und ob Wein, ob Sekt, ob Orangensaft oder Wasser. Jetzt hatte irgendwer anders dafür gesorgt. Es würde alles auch ohne ihn gehen. Auch das sein Verdienst. In den letzten Monaten hatte er viele Male mit anhören müssen, wie würdig sein Nachfolger sei, wie glücklich die Wahl, bei der er selbst noch mitgewirkt hatte, auch er lobte, wenn das Gespräch darauf kam, den jungen Mann, als beträfe die Vorfreude noch ihn selbst, sprach dessen Namen, der bald anstelle seines eigenen Namens im Briefkopf des Instituts zu lesen sein würde, ganz ohne zu zögern aus, ab Herbst würde der Nachfolger seine Vorlesung übernehmen und sich an die Unterrichtspläne halten, die er, jetzt Emeritus, noch kurz vor seinem Abtritt geschrieben hatte, für die Zeit, die ohne ihn auskommen würde.

Der Fortgehende selbst muss sein Fortgehen organisieren, das ist so üblich, aber erst jetzt fällt ihm auf, dass er niemals zuvor wirklich verstanden hat, was das eigentlich heißt. Und es auch jetzt nicht versteht. Ebensowenig kann er verstehen, dass der Abschied von ihm für die andern Teil eines Alltags ist, für ihn allein aber tatsächlich ein Ende. Wenn ihm in den letzten Monaten jemand gesagt hatte, wie traurig, wie schade, wie unvorstellbar es sei, dass er bald gehe, war es ihm schwergefallen, die erwartete Rührung zu zeigen, denn das Wehklagen desjenigen, der vorgab, erschüttert zu sein, hieß doch nur, dass der traurige, der unvorstellbare Fakt, dass er ging, jammerschade! von diesem als etwas Unabwendbares längst akzeptiert worden war.

Von den kalten Platten, die im Institut anlässlich seiner Verabschiedung aufgetischt worden waren, blieben außer der Petersilie nur einige Lachsbrötchen übrig, wahrscheinlich weil bei so einer Hitze mancher dem Fisch misstraute. Der See, der da jetzt vor ihm liegt und glänzt, wusste, scheint ihm, immer schon mehr als er, dessen Beruf doch das Nachdenken ist. Oder war? Für den See ist es einerlei, ob ein Fisch in ihm zerfällt oder ein Mensch.

Am Tag nach dem Empfang hatte die Sommerschließzeit des Instituts begonnen, jener hatte vor, hierhin zu fahren, jener dorthin, nur er hatte keine Reise geplant, denn für ihn war das Ausweiden seines über die Jahre hinweg gewachsenen Arbeitszimmers nun in die letzte Phase getreten.

Zwei Wochen später standen die Regalbretter mit einer Schnur zusammengebunden an der Wand, waren die gepackten Kartons hinter der Tür aufgestapelt, und bildeten die paar Möbel, die er zu sich nach Haus transportieren lassen würde, in der Mitte des Zimmers einen kleinen, sperrigen Haufen. Ein Besen mit plattgedrückten Borsten war daran angelehnt, eine Schere lag auf dem Fensterbrett neben einem staubigen Briefumschlag, viereinhalb große Müllsäcke standen in einer Ecke, eine Rolle Klebeband lag auf dem Boden, in der Wand steckten noch ein paar Nägel, an denen kein Bild mehr hing. Zuletzt hatte er den Schlüssel für das Institut abgegeben.

Jetzt müsste er hier im Haus für die Möbel die passenden Plätze suchen, die Kartons öffnen und alles, was darin ist, seinem Privathaushalt einverleiben. Bein zu Bein, Blut zu Blut, auf dass es geleimet sei. Die Merseburger Zaubersprüche, jaja. Auch das, was man Bildung nennt, alles, was er weiß und gelernt hat, ist von nun an nur noch sein Privateigentum. Seit gestern steht alles im Keller und wartet. Aber wie sieht so ein Tag aus, der geeignet wäre, mit dem Auspacken zu beginnen? Wie der heutige jedenfalls nicht. Morgen vielleicht? Oder später. Irgendein Tag, an dem er sonst nichts zu tun hat. Ob sich das Auspacken überhaupt lohnt, ist die Frage. Noch lohnt. Wenn er Kinder hätte. Oder wenigstens Neffen und Nichten. So aber ist all das, was seine Frau früher immer seinen Krempel genannt hat, nur noch zu seinem eigenen Vergnügen da. Und wenn er irgendwann nicht mehr ist, zu niemandes Vergnügen. Natürlich, irgendein Antiquar wird dann wahrscheinlich die Bücher nehmen, und dieses oder jenes davon, eine Erstausgabe oder ein handsigniertes Exemplar, vielleicht noch einmal einen Liebhaber finden. Einen wie ihn, einen, der noch, während er lebt, Krempel anhäufen darf. Und immer so weiter. Aber alles andre? Alles, was um ihn herum ein System bildet und nur sinnvoll ist, solange er seine Wege dazwischen geht, seine Handgriffe macht, sich an dies oder jenes erinnert — all das wird auseinandertreiben und sich verlieren, wenn er nicht mehr ist. Darüber könnte er auch einmal schreiben, über die Schwerkraft, die die leblosen Dinge mit den lebendigen Wesen zu einer Welt verknüpft. Ist er eine Sonne? Er muss aufpassen, dass er nicht irre wird, wenn er jetzt ganze Tage allein ist und mit niemandem spricht.

Aber dennoch.

Der Bauernschrank, an dem eine Leiste fehlt, wird nach seinem Tod ganz sicher nicht mehr in demselben Haushalt stehen wie die Tasse, in der er sich am Nachmittag immer seinen türkischen Kaffee macht, der Sessel, in dem er beim Fernsehen sitzt, wird allabendlich von anderen Händen herumgerückt werden als von denen, die die Schubladen seines Schreibtischs aufziehen, sein Telefon wird mit dem scharfen Messer, mit dem er immer die Zwiebeln schneidet, nicht den Besitzer teilen, und auch nicht sein Rasierapparat. Vieles, was er schätzt, was durchaus noch funktioniert oder ihm einfach gefällt, wird weggeworfen werden. Zwischen der Müllhalde, auf der zum Beispiel sein alter Wecker landen wird, und dem Haushalt dessen, der sich sein Zwiebelmustergeschirr leisten kann, wird es dann eine unsichtbare Verbindung geben, die darin besteht, dass beides einmal ihm gehört hat. Nur weiß natürlich, wenn er nicht mehr lebt, niemand von dieser Verbindung. Oder besteht so eine Verbindung dennoch für alle Zeit, gleichsam objektiv? Und wenn ja, in welcher Maßeinheit ließe sie sich dann messen? Wenn es tatsächlich der durch ihn gestiftete Sinn ist, der seinen Haushalt, von der Zahnbürste bis hin zum gotischen Kruzifix, das an der Wand hängt, in ein Universum verwandelt, stellt sich sofort die nächste grundlegende Frage: Hat Sinn eine Masse?

Richard muss wirklich aufpassen, dass er nicht irre wird. Vielleicht wird es ihm besser gehen, wenn der Tote endlich gefunden ist. Eine Taucherbrille soll der Unglückselige getragen haben. Das könnte lächerlich sein, aber keinen von denen, die das wissen, hat er in diesem Sommer je darüber lachen sehen. Neulich auf dem Dorffest, das trotzdem stattfand, nur ohne Tanz, hatte er den Vorsitzenden des Anglerverbandes mehrmals hintereinander sagen hören: Mit einer Taucherbrille! Mit einer Taucherbrille! Als sei gerade dieses Detail das am schwersten zu ertragende an dem Sterben des Schwimmers, und tatsächlich hatten alle anderen Männer, die mit dem Bierkrug in der Hand auch da standen, darauf lange Zeit nichts erwidert, sondern nur schweigend auf den Schaum in ihrem Bierglas geschaut und genickt.

Auch er wird bis zum Ende das tun, was ihm Spaß macht. Den Kopf voran in die Grube. Nachdenken. Lesen. Und wenn der Kopf irgendwann nicht mehr mitmacht, weiß auch kein Kopf mehr, was fehlt. Es kann dauern, bis der Körper wieder nach oben kommt, wurde gesagt. Beinahe drei Monate dauert es schon. Es kann auch sein, dass er verschwunden bleibt, wurde gesagt. Sich in Algen verfangen hat, oder für immer abgesunken ist in den Schlamm, der am Grunde des Sees angeblich meterdick ist. Ein tiefer See ist es, achtzehn Meter. Nach oben hin lieblich, aber in Wahrheit eine Kluft. Jeder der Anwohner, auch er selbst, schaut mit einem gewissen Zögern seither das Schilf an, mit einem gewissen Zögern die spiegelblanke Oberfläche des Sees an, an windstillen Tagen. Er kann von seinem Schreibtisch aus auf den See sehen. Schön ist der See, so wie in den anderen Sommern, aber damit ist es in diesem Sommer nicht getan. Der See gehört, solange der Tote nicht gefunden und weggebracht ist, diesem Toten. Einen ganzen Sommer lang schon, und bald ist Herbst, gehört der See einem Toten.

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