Eid Mubarak heiße das Fest, mit dem man das Ende des Fastenmonats Ramadan feiere. Die Männer gehen vormittags zum großen Gebet, während die Frauen zu Hause das Essen zubereiten. Dann essen alle zusammen, von mittags an bis in die Nacht. Die Kinder bekommen Geschenke oder ein Taschengeld, damit sie während der zwei Feiertage Spaß haben können. The children should have fun, sagt Raschid. Alle tragen ihre neuen Gewänder, einen Stoff hat mein Vater zu Eid Mubarak immer für die Frauen in unserer Familie gekauft, und einen anderen Stoff für die Männer: mich, meine Brüder und Neffen. Im Jahr 2000 war es ein blauer Stoff. Dieses blaue Gewand hatte ich an dem Tag an, und dazu eine Kappe.
Richard und Raschid sitzen bei geschlossener Tür in einem Kämmerchen gleich neben dem Eingang. Einer der Männer vom Wachdienst hat ihnen, als Richard nach einem ruhigen Platz fragte, diesen Raum aufgesperrt. Nun sitzen die beiden zwischen zusammengefalteten Kartons, die schon für den Umzug bereitgestellt sind, und Türmen aus übereinandergestapelten Stühlen, Raschid hat sich einen Stuhl mit weinrotem Polster heruntergenommen, Richard sich einen mit gelbem.
Zu Eid Mubarak versöhnt man sich mit allen, mit denen man das Jahr über Streit hatte, sagt Raschid. Man besucht die Familie. Spendet für die Armen. Kennst du die fünf Säulen des Islam?
Richard schüttelt den Kopf.
The five pillars of Islam are: Erstens das Vertrauen auf Gott, zweitens das Beten, drittens das Teilen mit den Armen, viertens das Fasten während des Ramadan, und fünftens, wenn man es sich leisten kann, wenigstens einmal im Leben das Pilgern nach Mekka.
Aha, sagt Richard.
Wer tötet, ist kein Muslim.
Richard nickt.
Nur, wenn man essen will, darf man töten, aber niemanden, auch nicht das kleinste Insekt, das deinen Weg kreuzt, darfst du einfach so, ohne Grund töten. Es kann sein, dass auch so ein Tier Kinder zu Hause hat, die warten. Man weiß es nicht. Nie.
Nein, sagt Richard.
Nicht einmal eine Fliege!
Gut, sagt Richard.
Wer tötet, ist kein Muslim.
Wenn Sommer ist, saugt Richard die Fliegen und Wespen, die um sein Essen herumschwirren, mit dem Staubsauger ein. Im ersten Studienjahr ist er aus der Kirche ausgetreten.
Und auch Jesus ist im Koran ein Prophet, sagt Raschid.
Einmal hat Richard in seinem Seminar über» Jesus, den letzten griechischen Gott «die Szene der Jesusgeburt in den verschiedenen Evangelien der Bibel auch mit der entsprechenden Szene im Koran verglichen. Deswegen weiß er, dass Maria im Koran ganz allein ist, als sie Jesus zur Welt bringt. In einer entlegenen Gegend bringt sie ihn zur Welt, sie hat solche Schmerzen, dass sie sagt: Oh dass ich doch zuvor gestorben und vergessen und verschollen wäre! Ob seine Studenten verstanden, was das hieß, dass Maria nicht nur gestorben, sondern auch vergessen sein wollte? Aber solche Dinge ließen sich nicht unterrichten. Er hatte nur darauf hingewiesen, dass gleich im Anschluss an die Verzweiflung Marias das Neugeborene unter ihr auf einmal zu sprechen beginnt: Direkt aus der Not Marias kommt also das Wunder des Sprechens. Das Kind spricht, um seine Mutter zu trösten, es spricht von einem Bach — und der Bach ist da, dann spricht es zu ihr von einem Baum — und der Baum ist da. Maria findet sich in eine paradiesische Landschaft versetzt, sitzt am Rand eines Baches, hat eine Dattelpalme zu Häupten, sie isst und trinkt, und als sie später mit dem Kind auf dem Arm wieder zu den Menschen zurückkehrt und gefragt wird, woher das Kind, muss sie selber nichts sagen, denn statt ihrer spricht der eben geborene neue Prophet, 54 Zentimeter ist er erst groß, und wiegt 3500 Gramm.
Das Paradies ist unter den Füßen der Mutter, sagt Raschid. Richard versucht, sich diesen Mann, der da neben ihm sitzt, in einem blauen Gewand und mit einer Kappe auf dem Kopf vorzustellen. Gern würde ich meine Mutter noch einmal wiedersehen, bevor sie stirbt, sagt Raschid. Sie ist jetzt siebzig. Aber wenn ich nach Nigeria zurückgehe, kann ich nicht mehr zurück nach Deutschland.
Warum willst du eigentlich nicht für immer nach Nigeria zurück?
Raschid antwortet nicht auf die Frage. Mein Vater, sagt er, war sehr beliebt. Jeder wollte ihm seine Tochter zur Frau geben. Am Ende hatte er 5 Frauen und 24 Kinder. Ich war der erste Sohn nach 10 Töchtern, meine Mutter die dritte Frau meines Vaters. Abends saßen wir beim Essen alle um einen großen Tisch. Ich durfte vom Teller meines Vaters essen. Jeden Morgen um Viertel nach sieben, mein Vater war noch ganz verschlafen, stellten wir größeren Kinder uns in einer Reihe vor seinem Sessel an, dann drückte er uns das Essensgeld für die Schule in die Hand. Der Sultan hält Audienz auf einer Plattform. Drei Stufen führen hinauf. Die Plattform ist mit Seide belegt und mit Kissen. Darüber spannt sich ein Schirm, eine Art Pavillon aus Seide, auf dem ein Vogel in Gold ist, von der Größe etwa eines Falken. Es ertönen Trommeln, Trompeten und Jagdhörner. Zwei gesattelte und gezäumte Pferde werden gebracht, zusammen mit zwei Ziegen, als Schutz gegen den bösen Blick. Wenn einer den König anspricht und von ihm eine Antwort erhält, entblößt er danach seinen Rücken und wirft vor aller Welt Staub über seinen Kopf und seinen Rücken, wie ein Badender, der sich mit Wasser bespritzt.
Um halb acht kam dann der Fahrer des Lieferwagens, sagt Raschid, wir kletterten auf die Ladefläche, er holte noch ein paar Nachbarkinder ab und fuhr uns alle zusammen zur Schule.
Was für Fächer hattet ihr?
Englisch, Mathematik, im Nebenfach Hausa.
Raschid besucht, als er erwachsen ist, eine Berufsschule und lernt Schlosser.
Vier seiner Schwestern gehen auf eine höhere Schule. Eine studiert und wird Lehrerin.
Seltsam, denkt Richard, dass ihm erst jetzt wieder die Reisebeschreibungen Ibn Battutas eingefallen sind, der im 14. Jahrhundert von Marokko über Afrika und Mittelasien bis nach China gereist ist.
Sein Schulfreund Walther, der es zu DDR-Zeiten nur bis zum Reisekader für das sozialistische Ausland brachte, hatte extra Arabisch gelernt, um dieses Buch erstmalig ins Deutsche zu übertragen. Wo nach Walthers Tod das Manuskript wohl hingekommen sein mochte? Erschienen ist es jedenfalls nicht, denn der Verlag, der es hatte veröffentlichen wollen, ging gleich nach dem Mauerfall pleite. Richard hatte Walther damals beim Korrekturlesen geholfen.
24 Kinder von 5 Frauen, so ähnlich war es auch bei Walther gewesen, nur mussten dessen 4 Frauen gottlob nie unter einem Dach wohnen. Dem ältesten Sohn hatte Richard auf der Beerdigung von Walther beim Defilee die Hand gedrückt und gesagt, es tue ihm sehr, sehr leid, aber der Sohn hatte ihm nur geradenwegs in die Augen gesehen und gefragt: Ja, was denn? Angeblich hatten sofort mit dem Tod von Walther die Streitigkeiten der Exfrauen und Kinder um das Haus begonnen, für das dessen vierte Frau noch das Wohnrecht besaß. Jetzt, zu Westzeiten, war so ein Haus etwas wert. Helle, ausgewaschene und zerlöcherte Jeans hatte Walthers ältester Sohn auf der Beerdigung seines Vaters getragen. Hoffentlich stimmte es, was gesagt wird: Dass jemand, der unter der Erde liegt, keinen Schmerz mehr empfindet und nichts mehr spürt.
Zu Eid Mubarak haben immer alle Frauen gemeinsam gekocht, sagt Raschid. Es ist der höchste Festtag bei uns, man muss viel essen, man feiert ja das Ende des Fastens. Und das Haus wird vorher wochenlang aufgeräumt und geputzt, von oben bis unten. In dem Jahr, 2000, war der Stoff, den mein Vater für unsere Festtagsgewänder gekauft hatte, blau. Richard weiß plötzlich, dass er nun alles ganz genau wissen muss: Jede Speise, die auf diesem Tisch stand, der für Eid Mubarak gedeckt war, soll Raschid ihm beschreiben. Eggplant? Tomaten? Peperoncini in Öl? Fisch? Reis? Yamwurzeln? Plantains? Kalb, Hühnchen und Lammfleisch? Saßen die Frauen beisammen, oder saß jede mit ihren Kindern an einer bestimmten Stelle des Tisches? Stand der Tisch innen im Haus, auf einer Veranda oder im Freien? Am liebsten würde Richard überhaupt nicht mehr aufhören zu fragen. Es gibt also am Abend zur Beleuchtung Laternen mit buntem Glas? Nach dem Essen, wenn es schon dunkel wird, hängen die Kinder diese Laternen an lange Stäbe und machen einen Laternenumzug durch ihr Viertel? Sie singen dabei? Und die Erwachsenen besuchen ihre Verwandten? Am nächsten Tag geht man mit der ganzen Familie spazieren?
Aber den Abend und den nächsten Tag gab es in dem Jahr nicht mehr, sagt jetzt endlich Raschid.
Gegen elf am Vormittag, sagt Raschid, waren wir Männer gerade fertig mit dem Gebet. Der Gebetsplatz ist ungefähr so weit von unserem Haus entfernt wie die Oberbaumbrücke vom Alex. Wir wollten gerade nach Haus zu unseren Familien fahren, um mit dem Festessen zu beginnen, da überfielen sie uns. Mit Knüppeln, Messern, Macheten. Mein Vater wollte eben sein Auto aufschließen, da kamen sie angerannt, trieben uns auseinander, begannen, auf uns einzuschlagen, mit Knüppeln, und einzustechen, mit Messern, Macheten, dann stießen sie meinen Vater ins Auto, stiegen zu dritt bei ihm ein, er musste mit ihnen wegfahren, das war das letzte, was ich von ihm sah. Drei Wochen vorher hatte er seinen zweiundsiebzigsten Geburtstag gefeiert.
Raschid hat kräftige, sehr schwarze Hände, sie liegen auf seinen Knien, nur die Fingerkuppen sind klein und die Haut unter den Nägeln ist rosig.
Vor der Stadt haben sie ihn in seinem Auto verbrannt.
Richard und Raschid sitzen beide einen Moment lang da, ohne etwas zu sagen.
Weiß man, wer das getan hat? fragt Richard schließlich.
Raschid antwortet nicht.
Es war sehr schlimm, sagt er nach einer Weile. Warum töten Menschen andere Menschen?
Das ist die viel richtigere Frage, denkt Richard.
Raschid hat eine Narbe über dem Auge. Raschid hinkt, das hat Richard gestern gesehen.
Wir versuchten wegzukommen. Meine Brüder, meine Neffen, meine Onkel, die Nachbarn. Alle rannten und schrien. Überall lagen Leute herum, alles war voller Blut. Einer meiner jüngeren Brüder hatte sich zuerst in einem Mangobaum am Rand des Platzes versteckt. Bei Einbruch der Dunkelheit lief er zum Fluss hinüber und versteckte sich dort im Wasser, die ganze Nacht stand er aus Angst da im Wasser, auch am Ufer des Flusses haben sie Leute gelyncht, hat er später erzählt, er hat alles gesehen. Ich erinnere mich an den Geruch nach Rauch, sagt Raschid, während ich lief und lief. Die ersten Häuser fingen schon an zu brennen. Von der Oberbaumbrücke zum Alex. Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind, sein Ross, das trug ihn fort geschwind. Sankt Martin ritt mit leichtem Mut, sein Mantel deckt ihn leicht und gut. Im Jahr 2000 fiel der traditionelle Laternenumzug der Kinder in der nigerianischen Stadt Kaduna, von deren Existenz Richard erst seit zwei Wochen weiß, am Abend von Eid Mubarak aus. Beim letzten Laternenumzug zu Sankt Martin waren die hiesigen Kinder singend um den Schlossplatz gezogen, die junge Duisburgerin aber, die seit drei Jahren in demselben Mietshaus in Richards Straße wohnt und ihn in den letzten Monaten beim Einkaufen oder am Flaschencontainer hin und wieder merkwürdig angesprochen hat, manchmal auch stand sie auf dem Bürgersteig und stritt mit jemandem, der unsichtbar war, diese Duisburgerin also hatte sich, während die Kinder singend im Kreis um den Schlossplatz spaziert waren, in den dunklen Knallerbsenbüschen am Rande des Platzes versteckt gehalten und geheult wie ein Wolf.
Wir liefen, so schnell wir konnten, nach Hause, um die Frauen zu warnen. Die Frauen nahmen die Kinder und machten sich sofort auf den Weg — zu Freunden, zu ihren eigenen Eltern. Auch meine Mutter versteckte sich bei ihren Eltern auf dem Dorf. Ich habe nur ein Ersatzgewand aus dem Schrank genommen und in eine Tüte gestopft. Selbst die Hose dazu habe ich in der Eile vergessen. Kaum eine halbe Stunde, dann war kein Mensch mehr im Haus. Das Festessen stand noch unangerührt auf dem Tisch, als wir gingen. Nicht einmal die Tür haben wir hinter uns abgeschlossen. Wozu auch? Das Haus war von oben bis unten aufgeräumt und geputzt für Eid Mubarak. Von oben bis unten aufgeräumt und geputzt, als es niedergebrannt wurde, ein paar Stunden später.
Von einem Tag auf den andern hatte ich keinen Vater mehr, keine Familie, kein Haus, keine Werkstatt. Von einem Tag auf den andern war unser ganzes bisheriges Leben vorbei. Wir konnten unseren Vater nicht einmal begraben. Ich bin noch einmal zu meiner Mutter gegangen, um Abschied zu nehmen, dann bin ich nach Niger gefahren. Das war das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben. Vor dreizehn Jahren. Wenn meine Mutter mich am Telefon fragt, wie es mir geht, sage ich immer: Gut.
Richard fällt ein, wie Raschid am Anfang dieses Gesprächs gesagt hat: Das Paradies liegt unter den Füßen der Mutter.
Ich kann kein Blut mehr sehen, sagt Raschid.
Und erst jetzt wird Richard klar, dass Raschid zwei Stunden gebraucht hat, nur um die Frage zu beantworten, die er ihm eingangs gestellt hat.
Wie mit einem Schnitt wurde unser Leben in dieser Nacht einfach von uns abgeschnitten.
Cut, sagt Raschid.
Cut.
Die beiden Männer vom Wachdienst grinsen, als Richard und Raschid wieder aus dem Kämmerchen kommen, und sagen: Das war aber ein langes Gespräch. Richard sagt: Ja.
Auf dem Weg nach Hause geht er in den Blumenladen und kauft einen riesigen Strauß mit bunten Astern. Noch nie hat er für sich selbst Blumen gekauft. Er stellt sie in einer großen durchsichtigen Vase auf den Tisch in der Küche. Jetzt ist es so, als sei seine Frau noch da. Oder seine Geliebte.
Letzte Nacht, das fällt ihm erst jetzt wieder ein, ist er aufgewacht und ist, statt pinkeln zu gehen, Zimmer für Zimmer durchs Haus gestrichen, einfach so, ohne etwas zu suchen. Einfach so, im Dunkeln, durch sein eigenes Haus gestreift wie durch ein Museum, als gehöre er selbst schon nicht mehr dazu. Zwischen den Möbeln, von denen er manche doch seit seiner Kindheit kennt, ist ihm sein eigenes Leben, Zimmer für Zimmer, plötzlich vollkommen fremd erschienen, vollkommen unbekannt, wie eine sehr weit entfernte Galaxie. Geendet hatte sein Rundgang in der Küche, mit Scham denkt er daran, wie er hier in der letzten Nacht auf einem Stuhl saß und, ohne den Grund selbst zu wissen, aufgeschluchzt hat wie ein Verbannter.
Was da in ihn gefahren sein mochte? Er weiß es nicht mehr. Oder hat er all das nur geträumt?
Aber essen muss man, hat seine Mutter immer gesagt.
Er nimmt eine Büchse aus dem Regal, Erbsensuppe, das dauert nicht lange. Und danach den Teller in die Geschirrspülmaschine. Das freut ihn noch immer. Geschirrspülmaschinen gab es früher im Osten nicht. Deutschland is beautiful.
Und dann, bevor es dunkel wird, noch kurz in den Garten. Vielleicht das Laub aus den Regenrinnen, solange man noch etwas sieht, und das Vordach abfegen. Gut, dass seine neue Leiter so lang ist.
Am Abend dann setzt er sich an seinen Schreibtisch, um sich Notizen zu machen.
Erst sitzt er eine Weile still da, und schließlich stehen auf dem Papier nur drei kurze Sätze:
Es gab eine Kindheit. Es gab einen Alltag. Es gab eine Jugend.
Und darunter in Klammern: Raschid = der Olympier = der Blitzeschleuderer.
Der Lichtkegel seiner Schreibtischlampe macht den Buchstaben eine Bühne, auch als Richard schon ins Bad gegangen ist, um sich die Zähne zu putzen.