Um elf Uhr am Mittwoch würde er ihn zum Klavierspielen abholen kommen, hat Richard letzten Freitag mit Osarobo vereinbart. Aber als er bei Zimmer 2019 anklopft, dauert es lange, bis die Tür endlich aufgeht. Osarobo steht da, ungekämmt und verschlafen und sagt: How are you? Als Richard ihn fragt, was denn mit dem Klavierspielen sei, sagt er: Oh sorry, I have forgot.
Richard sagt: Ich warte unten.
Er ärgert sich, aber worüber eigentlich? Dass der Afrikaner nicht so glücklich und dankbar ist, wie er es von ihm erwartet? Dass der Afrikaner ihn, den einzigen Deutschen von draußen, der, wie es scheint, jemals dieses Heim hier freiwillig betritt, einfach vergisst? Vielleicht auch darüber, dass der Afrikaner nicht verzweifelt genug ist, um seine Chance zu erkennen? Oder eher darüber, dass er ihm, Richard, durch seine Achtlosigkeit beiläufig klarmacht, dass das Angebot mit dem Klavierspielen keine Chance darstellt, sondern allenfalls einen geringfügig besseren Zeitvertreib als das Schlafen? Damals, in den Diskussionen, die der Trennung seiner Geliebten von ihm vorausgegangen waren, hatte sie mehrmals gesagt, nicht das Ausbleiben dessen, was er erwarte, sei das Problem, sondern seine Erwartung.
Eine Etage tiefer fegt heute niemand.
Von seiner Geliebten hatte er sich zum Beispiel gewünscht, dass sie ihn an dem und dem Tag um 17 Uhr anrufen, oder ihn beim nächsten Treffen im blauen Minirock erwarten sollte, der ihm so gefiel, oder ihm, wenn sie von irgendwoher zurückkam, sagen sollte, aus welchem Abteil des Zuges sie aussteigen würde. Die Vorfreude fing mit dem Tag der Vereinbarung an — und dauerte dadurch viel länger als das, worum es eigentlich ging. Beinahe ersetzte sie so die Sache, um die es ging, aber dennoch stand sie natürlich in einem unauflöslichen Verhältnis zu dem Stück Wirklichkeit, auf das sie sich bezog, und löschte, wenn sie enttäuscht wurde, noch die ganze vergangene Zeit, die ihr gehört hatte, nachträglich aus. Fluchtpunkte, hatte seine Freundin das, worauf er sich freute, anfangs im Scherz genannt, später dann: Terror des Happy Ends, und ihn in der letzten Zeit ihrer Beziehung ihrerseits damit terrorisiert, sich Abweichungen von dem, was ausgemacht war, zu erlauben.
Richard nickt den Billardspielern zu, an denen er eben schon, auf dem Weg nach oben, vorbeigekommen ist. Einer macht mit zwei Fingern das Victory-Zeichen.
Hatte ihn achteinhalb Minuten später angerufen oder auch überhaupt nicht, hatte den blauen Rock ihrer Schwester geschenkt und war, wenn er sie in ihrem Stammcafé erwartete, nicht mehr quer über den Platz von der U-Bahn gekommen, so dass er sie schon von ferne an ihrem aufrechten Gang hätte erkennen können, sondern bog unverhofft von der anderen Seite her mit dem Fahrrad um die Ecke, stieg ab, schloss es an einem Laternenmast fest und setzte sich dann, verschwitzt und mit schmutzigen Händen, zu ihm an den Tisch.
Der Mann in der Phantasieuniform sagt: Na, wieder keiner zu sprechen?
Doch, doch, sagt Richard, aber ich warte draußen.
Der zweite hält ihm die Tür auf.
Nur an der Oberfläche war es damals die Frage gewesen, ob die Versäumnisse seiner Geliebten ihre Ursache vielleicht einfach in einer anderen Ordnung hatten, einem anderen System als dem, auf das er sich bezog — also etwa in einer neuen, ihm verheimlichten Liebesbeziehung oder auch nur in einer anderen Kleidergröße oder dem erst kürzlich im Stadtzentrum installierten Radweg. Im Grunde aber, wenn auch unausgesprochen, hatte seine Geliebte ihm die Frage danach gestellt, was von ihrer Beziehung übrig blieb oder überhaupt da war, wenn die Rituale, an denen er sie festmachen wollte, außer Kraft gesetzt waren. Wahr war sicher, dass ein Mensch nicht zu hundert Prozent einem anderen Menschen bekannt sein konnte, wahr war leider auch, dass er, Richard, das nicht annehmbar fand, zumindest nicht, was seine Geliebte betraf.
Sonstwohin kannst du dir deine Fluchtpunkte stecken! hatte sie in der letzten Diskussion, die er mit ihr hatte, geschrien, und was denn sei, wenn sie ihn zufällig einmal um 23.27 Uhr ganz dringend brauche, wenn er gerade in seinem verdammten Ehebett liege, und sie das Telefonat nicht vorher beantragt habe? Er hatte sie in ihrer Wut besonders reizend gefunden und über die hektischen Flecken, die sich an ihrem Hals in der Aufregung zeigten, gelächelt. Das Lächeln war ein Fehler gewesen. Sein letzter, denn danach hatte sie ihm keine Gelegenheit mehr dazu gegeben, Fehler zu machen.
Aber ein gemeinsames Maß festzulegen, ging es darum nicht in jeder Beziehung?
Außerdem ärgert er sich darüber, dass er jetzt, wenn er schon warten muss, kein Buch dabei hat.
Nicht einmal eine Zeitung.
Gestern hat er einen Artikel über die deutsche Entwicklungshilfe gelesen, in dem stand, dass diese Organisation ihre Tätigkeit grundsätzlich damit beginne, in jedem von ihr betreuten Land einen laut DIN und TÜV benennbaren Standard an Maßen und Normen zu installieren. Für den Handel, so hieß es in dem Artikel, sei eine solche verbindliche Skala unerlässlich, aber natürlich wusste Richard, dass so eine Skala auch und vor allem ein Herrschaftsinstrument war. Nun gut, Herrschaft war schließlich auch eine Art von Beziehung. Der Aufstand des jüdischen Todeskommandos in Treblinka allerdings, dem Vernichtungslager der Nazis, hatte erst geplant werden können, nachdem von der SS eine neue Lagerleitung installiert worden war, die sich streng an ihre eigene Ordnung hielt und damit berechenbar war. Was berechenbar ist und starr, kann man untergraben und brechen. Nur das Chaos entgleitet und bleibt. Und dann fällt ihm ein, dass er jetzt eigentlich so wie seine Geliebte gedacht hat.
Egal.
Weiß und voll wie ein Mond war jedenfalls ihr Hintern in den glücklichen Zeiten unter dem blauen Rock, den er so an ihr so mochte, zum Vorschein gekommen.
Endlich geht die Tür auf und Osarobo erscheint, wieder in seiner zu dünnen Jacke, und sagt zu ihm:
I’m sorry.
Ist schon in Ordnung.
Und dann gehen sie los.
Weißt du eigentlich, dass man hier auf dem Platz, Richard zeigt nach links auf den geschotterten Sportplatz, Fußball spielen kann?
Everybody you mean?
Aber ja — jeder.
Without paying?
Sicher, ohne zu bezahlen. Hast du einen Ball?
No.
Ob ihn jetzt jemand mit dem schwarzhäutigen Jungen die Straße entlanggehen sieht? Und was der dann wohl denkt? Jedesmal, wenn sie abbiegen, hält Richard kurz an und macht den Jungen auf das Straßenschild aufmerksam, damit der beim nächsten Mal den Weg selbst finden kann.
Weißt du, dass hier früher Osten war?
Osarobo schüttelt den Kopf: East?
Wahrscheinlich ist die Frage für jemanden, der aus Niger kommt, falsch gestellt, denkt Richard und versucht es noch einmal:
Weißt du, dass es in Berlin einmal eine Mauer gab, die den einen Teil der Stadt vom andern getrennt hat?
I don’t know.
Einige Jahre nach dem Krieg wurde sie hier gebaut. Weißt du, dass es hier einmal Krieg gab?
No.
Einen Weltkrieg?
No.
Hast du den Namen Hitler schon einmal gehört?
Who?
Hitler, der den Krieg begonnen und all die jüdischen Menschen umgebracht hat?
He killed people?
Ja, er hat Menschen getötet — aber nur ein paar, sagt Richard schnell, denn schon tut es ihm leid, dass er sich beinahe dazu hätte hinreißen lassen, diesem Jungen, der gerade vor dem Schlachten in Libyen geflohen ist, vom Schlachten hier zu erzählen. Nein, Richard wird diesem Jungen nie davon erzählen, dass in Deutschland, gerade mal ein Lebensalter entfernt, das fabrikmäßige Ermorden von Menschen erfunden wurde. Er schämt sich dafür plötzlich so sehr, als sei das, was jeder hier in Europa weiß, sein ganz persönliches, niemandem auf der Welt zumutbares Geheimnis. Und gleich darauf, um nichts weniger heftig, trifft ihn seine eigene Hoffnung, durch die Ahnungslosigkeit dieses Jungen selbst noch einmal in ein Deutschland vor alldem versetzt zu werden, das schon, und auf immer, verloren war zur Zeit seiner Geburt. Deutschland is beautiful. Schön wäre das. Schön ist gar kein Ausdruck dafür.
Dann sind sie da. Der Vorraum, der Flur, die Küche, das Wohnzimmer mit Durchblick zur Bibliothek, die Treppe nach oben.
Du lebst hier mit deiner Familie?
Meine Frau lebt nicht mehr, antwortet Richard.
Oh, sorry. Du hast Kinder?
Nein.
Du lebst hier ganz allein?
Ja, sagt Richard. Komm, ich zeige dir das Klavier.
Das Klavier steht in dem kleinen Zimmer neben dem Eingang, von Richard und seiner Frau das Musikzimmer genannt. Seine Frau, Bratschistin bis zur Auflösung ihres Orchesters, hat hier früher geübt. Manchmal hat Richard sie auf dem Klavier begleitet, aber das alles ist schon eine Ewigkeit her. In letzter Zeit betritt er das Zimmer eigentlich nur noch, um für seinen Steuerberater die Rechnungen und Verträge zusammenzusuchen. In den Regalen ringsum stehen Aktenordner und Mappen, auch Fotoalben, alte Tonbänder, alte Kassetten, alte Schallplatten und ein paar Noten.
Richard klappt den staubigen Deckel des Instruments auf, räumt den Klavierhocker, auf dem ein Papierstapel liegt, frei und fragt: Brauchst du Noten?
Er weiß nicht, ob der Junge wirklich Klavier spielen kann. Aber vielleicht hat er ja irgendwo in Libyen gekellnert, und der Barpianist hat ihm Stunden gegeben. Oder Osarobo hat an einem Klavier, das irgendwo stand, selbst zu improvisieren begonnen.
Bach? Mozart? Jazz? Oder Blues?
Osarobo schüttelt den Kopf.
Gut, dann lass ich dich jetzt hier allein. Komm, setz dich.
Der Junge setzt sich auf den Hocker und schaut Richard nach, als der ihm zunickt, den Raum dann verlässt und die Tür hinter sich schließt.
Richard hat gerade das Wohnzimmer erreicht, als er die ersten Töne hört. Mal einen, mal zwei, mal drei schlägt Osarobo an, Dissonanzen, mal hoch, mal tief, wieder und wieder. Das ist kein Johann Sebastian Bach, ist auch kein Mozart, kein Jazz und kein Blues. Osarobo hat noch nie zuvor in seinem Leben ein Klavier berührt, soviel ist sicher. Richard legt sich mit einer Zeitung aufs Sofa, liest ein, zwei Artikel, dann wird er müde, schläft unter der Kamelhaardecke ein, in seinen Vormittagstraum fallen die Töne, mal einer, mal zwei, mal drei, sie reiben sich aneinander, sind wieder still, versuchen es hier noch einmal und da, und die Stille zwischen den Tönen ist immer lebendig, so als würde der eine Missklang dem nächsten etwas erzählen, und der nächste nachfragen, und der dritte einen Moment lang abwarten. Als Richard irgendwann wieder aufwacht, blättert er weiter in seiner Zeitung. Ungefähr sieben Jahre hat er als Kind gebraucht, bis er sich beim Klavierspielen selber zuhören konnte und begriff, dass das, was er machte, Musik war. Wahrscheinlich wird überhaupt erst durch das eigene Zuhören aus den Tönen Musik. Was Osarobo da spielt, ist nicht Bach, nicht Mozart, nicht Jazz oder Blues, aber Richard kann Osarobos eigenes Zuhören hören, und dieses Zuhören macht für ihn aus den krummen und schiefen, beißenden, stolpernden, unreinen Tönen etwas, das, bei aller Willkür, dennoch schön ist. Er legt die Zeitung beiseite, geht in die Küche und setzt Kaffeewasser auf. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie lange sein Alltag schon ohne andere Geräusche ist, als die, die er selbst macht. Am zufriedensten ist er früher, in seinem alten Leben, gewesen, wenn seine Frau Bratsche übte, während er ein Zimmer weiter am Schreibtisch saß und an einem Vortrag oder Artikel schrieb. Glück des Paralleluniversums, hat er das seiner Frau gegenüber immer genannt. Sie aber beharrte, vor allem in den späteren Jahren, immer darauf, dass für das vollständige Glück einer Ehe der eine den anderen mindestens ansehen müsse, eigentlich aber berühren. Diese Diskussionen hatten leider weder sein noch ihr Glück vermehrt.
In seiner Kindheit hatte seine Mutter manchmal gebügelt, während er am Klavier saß und übte, deshalb meint er noch heute, wenn er Bachs Inventionen im Radio hört, es rieche plötzlich nach frischgewaschener Wäsche.
Als das Wasser kocht, geht er nach vorn, klopft an und fragt Osarobo, ob er auch gern Kaffee hätte? Oder Tee? Oder Wasser? Osarobo schüttelt den Kopf.
Macht dir das Klavierspielen Spaß?
Ja.
Ich bring dir ein Glas Wasser.
Er stellt das Glas links neben dem tiefen A ab und zeigt Osarobo, wie man die fünf Finger einer Hand der Reihe nach auf die Tasten setzt. Für jeden Finger ist eine Taste. Die Finger sind schwach und knicken um, und der kleine Finger wird von Osarobo gleich ganz vergessen. Aber das macht nichts. Nochmal. Und nochmal. Hier in der Mitte das Schlüsselloch für den Klavierdeckel, hier das eingestrichene C. Und dass die Hand schwer sein muss. Osarobos Hand ist nicht schwer. Lass sie fallen. Die Hand wird nicht schwer, warum? Weil Osarobo nicht loslässt, lass sie fallen, es geht nicht. Der schwarze und der weiße Mann schauen auf diesen schwarzen Arm und diese schwarze Hand wie auf etwas, das ihnen beiden Probleme bereitet, deine Hand hat ein Gewicht, Osarobo schüttelt den Kopf, doch, ganz sicher, lass sie fallen, Richard wiegt den Ellenbogen von unten und sieht die Narben auf diesem Arm, den sein Inhaber unter Kontrolle behalten will, die Hand ist jederzeit bereit, zurück zu zucken, die Hand hat Angst, die Hand ist fremd hier und kennt sich nicht aus. Lass sie fallen. Richard denkt daran, wie sich Osarobo letzten Freitag in dem Café an seinem Handrücken gezupft hat, an der schwarzen Haut, in die er für sein Leben gesteckt ist. Mit aller Anstrengung erreicht Osarobo nicht, dass die Anstrengung aufhört. Wo beginnt Mozart?
Und weil drei Stunden schon beinahe um sind, fragt Richard den Jungen, ob er gern Pizza essen würde, no problem, sagt Osarobo. Während Richard hinausgeht, die tiefgefrorene Pizza in den Ofen schiebt und den Tisch deckt für zwei, wie schon lange nicht mehr, hört er die fünf Töne schon in der richtigen Folge, ein Ton pro Finger, und dann eine Pause, und dann wieder die fünf Töne und wieder. Die linke Hand auch, ruft er, und weil Osarobo ihn nicht versteht, geht er noch einmal hin und zeigt ihm, dass die linke Hand die Übungen genauso wie die rechte machen muss, nur spiegelverkehrt.
Osarobo isst nur ein kleines Stück Pizza, mehr mag er nicht, danke. Und Wasser, ja, aus dem Wasserhahn, ja, ohne Sprudel.
Weißt du, wie du jetzt wieder zum Heim zurückkommst?
I don’t know.
Richard holt einen Stadtplan, zeigt Osarobo auf dem ausklappbaren Sonderteil des Berliner Stadtplans den Namen der Vorstadt, dann seine Straße und fährt mit dem Finger über die Linien: Hier musst du links gehen, dann die Soundso-Straße, hier an der Seite vom Platz entlang, dann rechts einbiegen und schließlich zum Heim hinüber. Und dann sieht er, wie Osarobo die Karte zu verstehen versucht, und dann weiß er, dass Osarobo, der von Niger über Libyen nach Italien und von Italien bis nach Berlin gekommen ist, noch nie von irgendeiner Stadt einen Stadtplan und noch nie von irgendeinem Land eine Landkarte gesehen hat.
Und dann steht er mit Osarobo gemeinsam auf, zieht sich die braunen Schuhe an, die am bequemsten sind, und begleitet ihn auch auf dem Rückweg.