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In den nächsten zwei Wochen sorgt Richard dafür, dass der Schuppen eine neue Tür bekommt, lässt den Rauchabzug des Kamins reparieren, pflanzt die Pfingstrosen um, streicht die Ruder mit Bootslack, erledigt die über den Sommer liegengebliebene Post, geht einmal zur Physiotherapie und dreimal ins Kino. Morgens beim Frühstück liest er, wie immer, die Zeitung. Morgens trinkt er Tee, Earl Grey mit Milch und Zucker, dazu ein Brot mit Honig und eins mit Käse, manchmal ein Stück Gurke dazu, aber nur an den Sonntagen gibt es ein Ei. Er hat jetzt jeden Tag Ruhe, so wie vorher nur sonntags. Aber er will nur sonntags ein Ei. So, wie er es gewöhnt ist. Neu ist, dass er bei seinem Tee so lange sitzen bleiben kann, wie er will, manche Meldungen, die er früher nur überflogen hätte, liest er deshalb nun gründlich. Gern würde er wissen, wo die zehn Männer vom Alex hingebracht wurden, aber darüber liest er nichts. Er liest, dass vor der italienischen Insel Lampedusa 64 von 329 Bootsflüchtlingen ertrunken sind, darunter Menschen aus Ghana, Sierra Leone und Niger. Er liest, dass ein Mann aus Burkina Faso irgendwo über Nigeria aus dem Fahrwerk eines in 3000 Meter Höhe fliegenden Flugzeugs gestürzt sei, wo er sich versteckt gehalten hatte, er liest von einer seit Monaten von Schwarzafrikanern besetzten Schule in Kreuzberg, liest vom Oranienplatz, auf dem die Flüchtlinge offenbar seit einem Jahr in Zelten leben. Wo eigentlich liegt Burkina Faso? Selbst der amerikanische Vizepräsident hat neulich von Afrika als von einem Land gesprochen, dabei gibt es, das stand in dem Artikel über diesen Fauxpas, 54 afrikanische Länder. Vierundfünfzig? Er hätte das auch nicht gewusst. Was ist die Hauptstadt von Ghana? Von Sierra Leone? Oder von Niger? Von seinen Studenten konnten manche zu Beginn des ersten Studienjahres nicht einmal die ersten vier Zeilen der» Odyssee «auf Griechisch hersagen. Das wäre zu seiner Studentenzeit undenkbar gewesen. Er steht auf und holt seinen Atlas. Die Hauptstadt von Ghana ist Accra, die Hauptstadt von Sierra Leone ist Freetown, die Hauptstadt von Niger Niamey. Hat er diese Städtenamen schon jemals gewusst? Burkina Faso liegt westlich von Niger. Und Niger? In der Sektion Germanistik, auf demselben Flur in der Uni, nur ein paar Zimmer weiter, hatte es in den siebziger Jahren oft Studenten aus Mosambik und Angola gegeben, sie studierten Maschinenbau oder Landwirtschaft, bekamen aber von seinen Kollegen deutschen Sprachunterricht. Die Zusammenarbeit mit den damals verbündeten afrikanischen Staaten hatte mit dem Ende des hiesigen Sozialismus aufgehört. Ob er sich wegen dieser Studenten damals das Buch» Negerliteratur «gekauft hat? Das weiß er nicht mehr, aber jedenfalls weiß er genau, wo es in seinem Bücherregal steht.Die Bücher warten, sagt er immer, wenn Besucher ihn fragen, ob er alle die Bücher, die bei ihm in den Regalen stehen, schon gelesen habe. Die Hauptstadt von Mosambik ist Maputo, die von Angola Luanda. Er schlägt den Atlas wieder zu und geht ins andere Zimmer hinüber, zu dem Regalfach, in dem das Negerbuch steht. Neger würde inzwischen auch niemand mehr sagen, aber damals hat man solch einen Titel noch auf ein Buch gedruckt. Wann war eigentlich damals? In seiner Nachkriegskindheit hat ihm seine Mutter immer aus dem Buch» Hatschi Bratschis Luftballon «vorlesen müssen, das sie in den Berliner Trümmern in einem Koffer gefunden hatte.

Schnell, das Wasser ist schon lau,

ruft die Menschenfresserfrau,

fasst ihn nur geschwind, geschwind,

ruft das Menschenfresserkind.

Das Menschenfresserkind hatte ihm auf den Bildern besonders gut gefallen: die Knöchelchen vom letzten Essen quer ins Haar gesteckt. Das Buch hatte seine Mutter wahrscheinlich irgendwann weggegeben, und später, als er als Erwachsener in Buchhandlungen danach fragte, erfuhr er, dass es das Buch zwar immer noch gab, inzwischen aber nur noch in einer politisch korrekten Neuauflage, mit einem Afrika ohne Menschenfresser, und dass die Originalfassung, wenn überhaupt, nur zu einem horrenden Preis antiquarisch zu bekommen war. Auch hier war dem Verbot also nichts weiter gelungen, als das Verbotene in ein besonders Begehrtes zu verwandeln. Indirekt sind die Wirkungen, nicht direkt, denkt er, so wie er es in den letzten Jahren bei unterschiedlichen Gelegenheiten schon oft gedacht hat. Das Buch» Negerliteratur «aber steht an der Stelle im Regal, wo es immer gestanden und auf ihn gewartet hat. Und richtig, der Titel ist von 1951. Er blättert und liest ein paar Zeilen. Die Erde ist rund und ganz von Sumpf umgeben, steht da. Dahinter ist das Land der Buschgeister. Unter der Erde ist immer nur Erde. Was dann kommt, weiß man nicht.

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