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An einem der Tage, die Richard am Schreibtisch und in seinem Lesesessel verbringt, werden die Zelte und Behausungen auf dem Oranienplatz niedergerissen und die Flüchtlinge auf verschiedene karitative Einrichtungen in der Stadt und am Stadtrand verteilt, die sich nun, da die Temperatur nachts manchmal schon unter zehn Grad fällt, bereit erklärt haben, die Flüchtlinge aufzunehmen. Richard erfährt davon nichts, denn er beschäftigt sich an diesem Tag gerade mit der Landnahme an der Südwestküste Afrikas durch den Händler Lüderitz. Herr von Lüderitz hatte sich nach seinem ersten Bankrott in Mexiko günstig verheiratet, sich sodann mit dem Sohn eines Mannes, der an der Westküste Afrikas missionierte, ins Benehmen gesetzt und auf dessen Hinweise hin zwei Stücke Land gekauft. Eines zu 100 Pfund in Gold und 200 Gewehren, das zweite zu 500 Pfund und 60 Gewehren. Im Quadrat gerechnet die deutschen Meilen, die länger sind als die englischen, nach denen der eingeborene Häuptling maß. Schön wäre es doch, einen Gürtel zu schaffen bis hinüber zum Indischen Ozean. Das Deutsche Reich will den Gartenzaun dessen von Lüderitz zunächst nicht schützen, erst als die Briten, weil sie sehen, dass es so einfach geht, auch ein paar Häfen besetzen, schickt Bismarck zwei schlachttaugliche Schiffe. Von da an heißen die Ländereien des Kaufmanns Lüderitz Kolonie und werden von Staats wegen verteidigt. Noch beim Abendbrot schüttelt Richard den Kopf über diese Vorgehensweise der Deutschen. Ist das Kopfschütteln auch ein Zeichen? Aber für wen, wenn niemand außer ihm da ist? Sitzt auf einem Stein und wackelt mit dem Kopfe. Morgen wird er zum ersten Mal mit seinem Fragenkatalog zu den Flüchtlingen gehen.

Am nächsten Tag kommt er eben noch rechtzeitig, um zu sehen, wie auf dem abgesperrten und von Polizei umstellten Platz die letzten Bretter, Planen, Matratzen und Pappen von einem Bagger zusammengeschoben, auf LKWs verladen und fortgeschafft werden. Nur auf einem Baum hockt noch eine afrikanische Frau, die sich offenbar weigert, den Platz zu verlassen, aber weder das Räumkommando noch die Polizei kümmern sich um den Baum oder die Frau. Sonst ist keiner von den Flüchtlingen mehr zu sehen. Dort, wo die Erde durch den Abriss der Zelte und Hütten nun wieder sichtbar geworden ist, liegt das Tunnelsystem der Ratten offen zutage, die, wie es scheint, von den nur mangelhaft geschützten Vorräten der Flüchtlinge profitiert haben. Richard denkt an Rzeszów. Einer der Polizisten erklärt ihm, die Flüchtlinge hätten selbst beim Abriss der Hütten geholfen, das sei Teil der Vereinbarung mit dem Berliner Senat. Was für eine Vereinbarung denn? Das kann der Polizist ihm leider nicht sagen. Und wo sind die Flüchtlinge jetzt? Auf drei Einrichtungen verteilt. Ach, eine in der Vorstadt, bei Richard gleich in der Nähe, er weiß schon, er kennt das rote Ziegelgebäude mit den staubigen Scheiben, das zum Altersheim gehört und seit bald zwei Jahren leersteht.

Auf dem Heimweg warnt in der S-Bahn die automatische Stimme Station für Station vor dem Spalt zwischen Wagen und Bahnsteig, wie immer, und wie immer denkt Richard, das machen sie nicht aus Sorge, sondern nur, damit die Versicherung zahlt, wenn tatsächlich einer verunglückt.

Im Altersheim also sind die Afrikaner jetzt untergebracht.

Warum auch nicht, wenn da ein Gebäude leersteht.

Er steigt aus der S-Bahn aus und geht nach Hause.

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