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Und nun macht Richard sich endlich auf den Weg in die Stadt, um zu sehen, was im Friedrichshain los ist. Seit einer Woche sind die oberste Etage des Heims und das Dach schon von den Flüchtlingen besetzt, keiner Hilfsorganisation wurde bisher der Zutritt gestattet, um den Männern Essen und Trinken zu bringen. Viele Sympathisanten sind da, weißhäutige und schwarzhäutige Menschen, Junge und Alte, Frauen und Männer. Richard sieht, soweit er die Lage überblickt, im Moment niemanden, der singt, tanzt oder eine Fürbitte abhält. Manche hüpfen von einem Bein auf das andre, aber nicht aus Spaß, sondern nur, weil ihnen kalt ist. Tristan, Yaya, Moussa und Apoll, auch Khalil, Mohamed, Zair und der lange Ithemba stehen dicht neben der Sperrlinie um eine Feuertonne herum und wärmen sich die Hände. Auf dem Dach ist niemand zu sehen. Die Polizisten stehen vor den Gittern, mit denen die Straße abgesperrt ist, auf dem verbliebenen schmalen Rest des Bürgersteigs gehen Passanten vorüber, Verwünschungen murmelnd, man weiß nicht genau, ob sie den Flüchtlingen gelten, die für den Ärger verantwortlich sind, oder dem überdimensionalen Polizeiaufgebot. Ja, sagt Zair, das Telefonnetz sei zwar wieder in Ordnung, aber seit gestern seien die Telefonakkus der Besetzer alle leer, weil es keinen Strom mehr zum Aufladen gebe. Dann habt ihr gar keinen Kontakt mehr zu den Leuten? No. Und sie haben bald nichts mehr zu trinken, weil das Wasser abgestellt ist, sagt Tristan. Eigentlich ist das beinahe so wie auf einem der Boote, mit denen die Männer von Libyen hergekommen sind, denkt Richard. Nur kann man aus einem Haus keine Plastikflasche herablassen, um wenigstens Meerwasser zu trinken. Richard steht noch eine Weile mit an der Feuertonne. Aber dann sieht er Rufu.

Rufu, der Mond von Wismar, sitzt auf einer Bank, von der nicht einmal der feuchte Schnee abgewischt ist. Auch Rufu selbst ist verschneit, die Flocken sind auf seinen Haaren und seinem Mantel liegengeblieben. Dadurch, und auch, weil er so ruhig dasitzt, sieht er beinahe aus wie ein Denkmal.

Rufu, wie geht’s dir? Come stai, Rufu?

Rufu versucht, den Kopf zu heben, um Richard anzusehen, aber es will ihm nicht gelingen.

Richard hockt sich vor ihn hin, klopft hier und da den Schnee von ihm ab, aber Rufu blickt starr geradeaus und murmelt nur leise vor sich hin, Richard kann ihn nicht verstehen.

Was ist? Was willst du sagen?

Tutto é finito, sagt Rufu. Tutto é finito.

Aber nein, Rufu, nein, sagt Richard, es ist nicht alles zu Ende. Irgendwann wird alles wieder gut, wirst sehen.

Rufu sagt etwas, aber in einer fremden Sprache, die Richard nicht versteht.

Willst du mit mir mitkommen, Rufu?

Blick geradeaus. Stille.

Dante lesen, Band 2?

Blick geradeaus. Stille.

Ich koche für dich — wir essen zusammen!

Si, sagt Rufu endlich.

Na, siehst du, alles wird wieder gut.

Richard versucht, ihm beim Aufstehen zu helfen. Wie ein Greis setzt Rufu sorgsam Fuß vor Fuß, um von der Stelle zu kommen, und stützt sich dabei auf Richard, der ihn untergehakt hat.

Da vorn ist schon die U-Bahn-Station!

Rufu strengt sich an, um nach vorn zu schauen, aber als er begreift, dass er nicht in Richards Auto einsteigen kann, sondern U-Bahn fahren soll, schüttelt er den Kopf und bleibt stehen.

Ist es dir zuviel? Willst du doch lieber hier bleiben?

Si.

Richard bringt ihn zurück zur Bank, den vierundzwanzigjährigen Greis.

Rufu, nimmst du irgendwelche Medikamente?

Sehr langsam greift Rufu in seine Hosentasche und fördert einen kleinen Papierschnipsel zutage, in den eine gelbe Pille eingewickelt ist.

Was ist das für ein Medikament?

Non lo so.

Wieso weißt du das nicht?

Blick geradeaus. Stille.

Rufu, du nimmst diese Pille nicht mehr ein. Hörst du?

Si.

Ich komme morgen früh ins Heim, dann zeigst du mir die Verpackung. Hast du verstanden?

Rufu nickt.

Kümmern sich deine Freunde um dich?

Si.

Richard geht noch einmal zu den andern zurück und fragt sie nach Rufu.

Wir wollten ihn nicht allein im Heim lassen, es geht ihm sehr schlecht.

Nehmt ihr ihn mit zurück?

Claro.

Rufu hat befolgt, was Doktor Richard gesagt hat, und die gelbe Pille, die er in der Hosentasche hatte, nicht mehr genommen. Am nächsten Morgen sieht er schon etwas wacher aus, kann seinen Kopf schon besser bewegen, Richard ansehen und Buongiorno sagen. Richard notiert sich den Namen des Medikaments von der Schachtel, eine Packungsbeilage ist nicht mehr dabei.

Zu Hause liest Richard im Internet über die Nebenwirkungen des Medikaments: Störungen der Stimme, Verstopfung der Atemwege, Probleme beim Sprechen, Schwierigkeiten beim Schlucken, Husten mit Auswurf, Lungenentzündung, die durch das Einatmen von Nahrung in die Atemwege verursacht wird. Warum kommt Richard gerade jetzt die Bach-Kantate in den Sinn? Vielleicht, weil Yussuf, der verrücktgewordene, zukünftige Ingenieur, vor dem Spandauer Heim Ich habe genug! geschrien hat. Ach! möchte mich von meines Leibes Ketten / Der Herr erretten; /Ach! wäre doch mein Abschied hier, / Mit Freuden sagt ich, Welt, zu dir: / Ich habe genug. Virusinfektion, Ohreninfektion, Augeninfektion, Mageninfektion, Infektion der Nasennebenhöhlen, Infektion der Harnblase, Infektionen unter der Haut, anomale elektrische Erregungsausbreitung des Herzens. Schlummert ein, ihr matten Augen, / Fallet sanft und selig zu! / Welt, ich bleibe nicht mehr hier, / Hab ich doch kein Teil an dir, / Das der Seele könnte taugen. Abfall des Blutdrucks nach dem Stehen, niedriger Blutdruck, Schwindelgefühl nach Lageänderung des Körpers, beschleunigter oder verlangsamter Herzschlag, Verwirrtsein, Mangel an Energie, Muskelschwäche, Muskelschmerz, Ohrenschmerzen, Nackenschmerzen, anomale Haltung. Hier muss ich das Elend bauen, /Aber dort, dort werd ich schauen / Süßen Frieden, stille Ruh. Beschwerden in der Brust, Entzündung der Haut, Gehstörungen, verminderter Appetit, Gleichgewichtsstörung, Sprachstörung, Schüttelfrost, anomale Koordination, schmerzhafte Überempfindlichkeit gegenüber Licht. Mein Gott! wenn kömmt das schöne: Nun! / Da ich im Friede fahren werde / Und in dem Sande kühler Erde / Und dort bei dir im Schoße ruhn? / Der Abschied ist gemacht, / Welt, gute Nacht! Taubheit von Gesicht, Armen oder Beinen, verwaschene Sprache, Schlaganfälle, unfreiwillige Bewegungen des Gesichts, der Arme oder Beine, Klingeln in den Ohren, Ohnmacht, Verlust des Bewusstseins. Ich freue mich auf meinen Tod /Ach, hätt’ er sich schon eingefunden. / Da entkomm ich aller Not, / Die mich noch auf der Welt gebunden.

Wie hatte der verschneite Rufu gesagt?

Tutto é finito.

Eigentlich widerstrebt es Richard, aber dann ruft er doch Jörg an, den schnurrbärtigen Mann von Monika, denn der ist Psychiater.

Dieses Medikament verschreiben wir eigentlich nur bei alten Leuten, die manisch oder hyperaktiv sind und andere im Altersheim attackieren oder nachts nicht zur Ruhe kommen lassen.

Aber er war immer sehr ruhig, sagt Richard.

Vielleicht hat er Schübe.

Jedenfalls ist dieses Medikament das reine Gift.

Aber er nimmt es noch, oder?

Naja.

Wie — du hast es abgesetzt? Von einem Tag auf den andern? Das ist keine gute Idee.

Richard sagt dies, und erklärt das und jenes.

Ach so, sagt Jörg plötzlich, das ist ein Neger, verstehe.

Ja und?

Na, dann ist doch alles ganz einfach: Diese Kerle glauben noch an den Medizinmann! Du tanzt ein paarmal im Kreis um den herum — und schon ist er wieder gesund!

Und Jörg beginnt schallend zu lachen.

Wie oft ist Richard mit Jörg und Monika zusammen in den Urlaub gefahren? Zu DDR-Zeiten immer nach Ungarn und später dann auch nach Frankreich und Spanien? Wie oft hat er mit ihnen Wein getrunken, auf die oder jene Regierung geschimpft, Spaziergänge gemacht, Museen besichtigt? Ein Arzt kann ganz im allgemeinen der Menschheit zu dienen versuchen, aber genauso steht es ihm selbstverständlich frei, sich nur dem Dienst an einem bestimmten Teil dieser Menschheit zu verschreiben. Ein gewisser Dr. Thaler zum Beispiel hatte vor rund 200 Jahren in Wien dem gebürtigen Nigerianer Soliman nach dessen Tod mit höchster Erlaubnis durch Kaiser Franz die Haut abgezogen, hatte dem Mann, der dem Fürsten von Lobkowitz in einer Schlacht das Leben gerettet hatte, einem Neger mit Namen Soliman, die Haut abgezogen, hatte dem Fürstenerzieher derer zu Liechtenstein, einem Schwarzen mit Namen Soliman, die Haut abgezogen, hatte dem Freimaurer der Loge Zur wahren Eintracht, einem Mohren mit Namen Soliman, die Haut abgezogen, hatte sozusagen dem Bruder der Freimaurer Mozart und Schikaneder, dem Bürgen des sich um Inkorporation in die Loge bemühenden Wissenschaftlers Ignaz von Born, einem Afrikaner mit Namen Soliman, die Haut abgezogen, hatte einem verheirateten Wiener, der sechs Sprachen fließend beherrschte, dessen Tochter später mit dem Freiherrn zur Feuchtersleben verheiratet war, und dessen Enkel Eduard zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Dichter hervortrat, die Haut abgezogen, hatte also einem angesehenen Mann der Wiener Gesellschaft, der allerdings vor langer Zeit einmal ein afrikanisches Kind gewesen war, mit Namen Soliman, die Haut abgezogen, hatte einem Menschen, der zu Beginn seines Lebens auf dem Sklavenmarkt eingetauscht worden war für ein Pferd und später weiterverkauft nach Messina, mit Namen Soliman, kurz gesagt: einem ehemaligen Sklaven niederer Rasse mit Namen Soliman die Haut abgezogen. Hatte die Haut dann gegerbt, auf einen Corpus aus Holz aufgespannt, und, entgegen der Bitte von dessen Tochter, die darum bat, dass ihr die Haut ihres Vaters ausgefolget werden möge, um ihn ordnungsgemäß in der Erde zu bestatten, entgegen dieser töchterlichen Bitte deren ausgestopften Vater zur Erbauung des Wiener Publikums in einen Schaukasten im 4. Stockwerk des Kaiserlichen Naturalienkabinetts gestellt. Das Federröckchen, mit dem man den Mohren ausstattete, stammte zwar, wissenschaftlich nicht ganzkorrekt, von südamerikanischen Indianern, aber der exotische Aspekt des Präparats kam dadurch viel besser zur Geltung.

Einen Moment lang stellt Richard sich vor, im Staatlichen Museum von Kairo fände sich in einem Schaukasten zum Beispiel der ausgestopfte Archäologe Heinrich Schliemann, gekleidet in ein spanisches Stierkämpfergewand oder eine mongolische Tracht aus Schafleder und Seide. Was für Barbaren, könnte man in so einem Fall von den Ägyptern wohl mit Fug und Recht sagen. In Wien war der edle Wilde irgendwann aus dem Schaukabinett genommen, jedoch nicht beerdigt, sondern nur ins Depot gebracht und dort abgestellt worden, war dort eingestaubt und beinahe vergessen worden, bis sich während der bürgerlichen Erhebung 1848 endlich ein Feuer seiner sterblichen Überreste erbarmte.

Es gibt schwarze Vögel, warum nicht auch schwarze Menschen? Dieser Satz aus der Oper» Die Zauberflöte «hatte für Richard immer erschöpfend erklärt, was es über den Unterschied zwischen den Hautfarben zu sagen gab. Und es überraschte ihn keineswegs, dass sich anhand eines Gesprächs über einen Patienten aus Niger erwies, wen er hier in diesem Deutschland als einen Freund bezeichnen würde — und wen nicht.

Rufu hat keine italienische Krankenkassenkarte, denn sein permesso ist abgelaufen, und um zur Erneuerung nach Italien zu fahren, war er schon seit längerem zu krank.

Rufu hat auch keine deutsche Krankenkassenkarte, denn er darf in Deutschland kein Asylbewerber sein. Für eine Behandlung akuter Schmerzen könnte das Sozialamt einen Antrag bewilligen, aber dazu müsste der Patient erst einmal einen Antrag stellen und nachweisen, dass ihm etwas wehtut. Richard fragt Rufu nicht, ob er beim Sozialamt war, einen Antrag gestellt und einen Nachweis darüber erbracht hat, dass es ihm schlecht geht.

Ich bezahle die Untersuchung, sagt Richard.

Ist schon gut, sagt der junge Assistenzarzt in der psychiatrischen Praxis um die Ecke von Richards ehemaligem Institut.

Danke, sagt Richard.

Haben Sie Schmerzen? fragt nun der Psychiater Rufu.

Richard übersetzt.

Rufu nickt.

Was genau tut Ihnen weh?

Rufu zeigt auf seinen Kopf, die Schläfen, die Ohren, den Kiefer.

Können Sie den Mund weit aufmachen?

No.

Warum nicht?

Rufu zeigt zwischen die Zahnreihen, ins Innere seines Mundes.

Darf ich einmal? sagt der Arzt, und schiebt einen kleinen Spiegel hinein. Durch den Spalt beleuchtet er die dunkle Höhle, und dann sagt er: Da ist ein riesiges Loch in einem Zahn auf der rechten Seite.

Ein Loch in einem Zahn?

Ja, ein Loch in einem Zahn.

Rufu hat das Weihnachtsfest auf der geschlossenen psychiatrischen Station eines Berliner Krankenhauses verbracht und nach seiner Entlassung ein Medikament bekommen, an dem er, nach Richards Einschätzung, beinahe gestorben wäre, und nun stellt sich also heraus: Der Grund für dies alles war vielleicht nur das Loch in seinem Zahn.

Wie oft, zeigt sich auch bei dieser Untersuchung, dass alles davon abhängt, die richtigen Fragen zu stellen.

Rufu war sicher noch nie bei einem Zahnarzt, vielleicht weiß er gar nicht, dass die Zahnärzte von der Menschheit schon erfunden wurden, aber er setzt sich in der Praxis, in der Richard Patient ist, folgsam auf den Stuhl, und dann ist es für den Zahnarzt eine Sache von wenigen Minuten, das Loch zu verschließen.

Noch jeder, der mit so einem Loch in einem Zahn zu mir gekommen ist, sagt der Zahnarzt, hat gedacht, er verliere den Verstand vor Schmerzen. Der Schmerz ist so furchtbar, dass man ihn nicht mehr orten kann, das macht die Anamnese oft schwierig.

Wieviel bin ich Ihnen schuldig? sagt Richard.

Ist schon gut, lassen Sie mal, sagt der Zahnarzt.

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