Und dann kommt der Tag, an dem Richard nach Frankfurt am Main fährt. Am Vormittag hat er, während Osarobo Klavier geübt hat, den Vortrag ausgedruckt und Korrektur gelesen und das Manuskript Osarobo gezeigt, obwohl der es natürlich auf Deutsch nicht lesen kann.
This is for a newspaper?
Nein, es ist ein Vortrag, ich lese ihn vor.
Leute kommen her?
Nein, ich fahre heute abend nach Frankfurt am Main. Ich bin eingeladen und lese ihnen dort den Vortrag vor.
Und dann?
Dann reden wir drüber.
Aha.
Kennst du Frankfurt am Main?
Nein. Nur Würzburg.
Aus Würzburg, erinnert sich Richard, sind die ersten Flüchtlinge vor zwei Jahren auf den Oranienplatz gekommen. Schon bevor sie losmarschierten, hatten sie Schlagzeilen gemacht, weil einige von ihnen sich den Mund zunähten, um auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen. Unwillkürlich schaut er, ob Osarobo Narben hat, aber sein Mund sieht normal aus.
Übermorgen bin ich schon wieder da, sagt Richard.
Gut, sagt Osarobo.
Wollen wir noch einen Tee zusammen trinken?
Okay.
Und so sitzen sie zum ersten Mal in der Küche bei einem Tee.
Einen Tag später steht Richard in einem Tagungssaal in Frankfurt am Main an einem Stehpult und hält vor einer Runde aus Altphilologen seinen Vortrag über» Die Vernunft als feurige Materie im Werk des Stoikers Seneca«. Er spricht aber nicht nur über Vernunft, sondern auch über Erinnerung, und über Macht und Ohnmacht. Er weiß nicht genau, ob das so ein Vortrag ist, wie er ihn früher, als er noch am Institut war, gehalten hat. In der Pause gibt es im Vorraum Kaffee aus großen Thermoskannen, auch Orangensaft, Mineralwasser und ein paar Kekse.
Der Tacitus-Spezialist ist diesmal leider nicht da, aber einige andere, die Richard kennt, sie begrüßen ihn, klopfen ihm auf die Schulter: Na, was machst du denn jetzt so — als Rentier? Ach, Sie sind nicht mehr im Institut? Wie lange haben wir uns jetzt schon nicht mehr gesehen? Also, ich fliege ja nächste Woche rüber nach Boston. Der Sowieso, das ist ein außerordentlich interessanter Mann. Haben Sie schon gesehen, es gibt eine Neuübersetzung von. Keiner sagt ein Wort zu seinem Vortrag. Richard weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Drei Frauen sind unter den Forschern, darunter eine mit rasant hohen Absätzen, aber mit der kommt er nicht ins Gespräch, im übrigen sind alle so, wie Menschen auf solchen Tagungen nun einmal sind: klug, dumm, schrullig, ehrgeizig, schüchtern, von ihrem Fach besessen, eitel. Als die anderen zu ihrem Hotel zurückgehen, um sich auszuruhen, bevor sie sich etwas später zum Dinner treffen, trägt er seine kleine Tasche schon wieder zum Bahnhof und steigt in den Zug. Und als die andern im Einzelzimmer ihres Frankfurter Hotels den Kopf auf ein Hotelkissen legen, hat er schon längst sein Auto in der Parkgarage des Berliner Hauptbahnhofs gefunden, ist in die Vorstadt zurückgefahren und geht nun durch das Dunkel zwischen den Bäumen zu seinem Haus hin. Als er das Haus betritt, ist es sehr kalt. Hat er irgendwo ein Fenster offen gelassen — jetzt, mitten im Winter?
Die Schubladen seines Schreibtischs sind herausgezogen und auf dem Fußboden kreuz und quer übereinandergestellt. Papiere und Fotos liegen herum, das hölzerne Gehäuse einer alten Spieluhr ist beim gewaltsamen Öffnen zerbrochen. Von einem Zimmer geht Richard zum nächsten, hier ist auf dem Teppich englisches Geld ausgeschüttet, das Portemonnaie liegt daneben, dort steht eine Schranktür sperrangelweit offen, oben im Schlafzimmer liegt der Modeschmuck seiner Frau auf dem Boden, im Bad ist der Karton, in dem er die Medizin aufbewahrt, ins Waschbecken ausgeleert, und ganz zuletzt, als er wieder herunterkommt und sich fragt, von wo es nun eigentlich so kalt hereinzieht, sieht Richard im Musikzimmer das aus dem Rahmen herausgebrochene Fenster. Er schließt das Musikzimmer hinter sich ab, geht dann in den Keller und auch noch einmal durch die untere Etage, um sich zu vergewissern, dass er wirklich allein im Haus ist. Der Computer, den man leicht hätte mitnehmen können, und auch der Fernseher sind noch da, immerhin. Richard lässt alles so liegen, wie es nun einmal da liegt, und geht nach oben. Im Bett, als er das Licht schon ausgemacht hat, versucht er einen Moment lang, sich vorzustellen, wie die Zimmer wohl aussehen mögen, wenn man sie nur mit einer Taschenlampe beleuchtet. Wahrscheinlich wie eine unübersichtliche Landschaft, in der das, was im Dunkel bleibt, feindselig wirkt, auch wenn es nur ein paar Stühle sein mögen, ein Bücherstapel, eine Zimmerpflanze, ein Jackett auf einem Bügel. Ist er neulich nicht selbst nachts durch sein dunkles Haus gestrichen?
Am nächsten Morgen kommen zwei Mann von der Spurensicherung und pinseln die Dinge, die der Dieb angefasst haben muss, schwarz an. Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer es gewesen sein könnte? Nein. Na, es hätte viel schlimmer ausgehen können, Sie hatten Glück. Ach so? Ja, manchmal reißt so ein Einbrecher wirklich alles aus den Regalen, die Anziehsachen, die Bücher. Die englischen Pfund hat er offenbar nicht gebrauchen können. Und dass der Computer noch da ist. Ja, sagt der andere Polizist, da ist mit Respekt eingebrochen worden, das sieht man. Respekt? fragt Richard. Naja, sozusagen. Sehen Sie in den nächsten Tagen alles in Ruhe durch, stellen Sie fest, was fehlt, hier ist das Formular, das brauchen Sie für die Versicherung.
Etwas später kommt der Reparaturdienst, der das Fenster, dessen Glas unzerbrochen geblieben ist, wieder fest in den Rahmen hineinschraubt. Das hält erst einmal, da müssen Sie keine Angst haben. Ich habe keine Angst, sagt Richard.
Am frühen Nachmittag erst ruft er Detlef und Sylvia an, um zu erzählen, was ihm passiert ist. Ach, sagt Detlef, das ist ja wirklich nicht schön, aber gut, dass du gerade in der Nacht nicht da warst, was ist denn gestohlen worden? Auf einen Blick hat Richard, als er vorhin den übriggebliebenen, billigen Schmuck vom Boden aufgesammelt hat, gesehen, was fehlt: Der Ring seiner Mutter, das einzige Schmuckstück, das sie auf der Flucht von Schlesien nach Berlin mitgenommen hat, als Kind hat er den schwarzen Opal manchmal ins Licht gehalten, weil dann die im Stein eingeschlossenen roten und grünen Linien aufblitzten. Anlässlich der Hochzeit hatte seine Mutter diesen Ring Christel als Erbstück geschenkt, aber die hatte ihn nie getragen: Der ist unpraktisch, damit bleibt man überall hängen. Verschwunden ist auch der goldene Armreif, den er seiner Frau einmal aus Usbekistan mitgebracht hat, und ein Ring, den sie vom Zahnarzt Krause, ihrem Liebhaber vor seiner Zeit, einmal geschenkt bekommen hat — mit einem Saphir in der Mitte, ringsherum kleine Brillanten.
Zahnarzt Krause ist ja Ende letzten Jahres gestorben.
Den Umschlag, in dem Richard immer einige Hunderter aufbewahrt, damit er nicht dauernd zur Bank fahren muss, hat der Dieb nicht gefunden, er liegt noch immer im Kleiderschrank zwischen den Socken.
Komm doch vorbei, sagt Detlef.
Wusste denn irgendwer, dass du genau in dieser Nacht nicht in deinem Haus bist? Ja, sagt Richard. Einer von deinen Afrikanern? fragt Sylvia. Ja, sagt Richard. Welcher denn? Der Klavierspieler. Das wäre schade, sagt Sylvia. Aber es ist überhaupt nicht gesagt, dass es der sein muss, sagt Detlef, es gibt so viele Einbrüche hier in der Gegend. Bei den Nachbarn da drüben, weißt du noch, haben sie letztes Jahr das ganze Werkzeug aus dem Schuppen geklaut — und wer war es? Der Neffe von Ralf. Ralf ist der Vorsitzende des Anglerverbands. Ja, sagt Sylvia, auch bei Claudia, der Apothekerin, wurde eingebrochen, als sie über Weihnachten fortgefahren sind, hat sie mir neulich erzählt. Richard nickt manchmal, sagt manchmal Ja oder Nein, trinkt zwei Gläser Whiskey und geht dann wieder nach Hause.
Am nächsten Vormittag ruft er Anne an, von der er seit Jahresbeginn nichts mehr gehört hat.
Sylvia hat mir erzählt, was passiert ist, sagt sie. Schau mal, sagt sie, Ali hätte doch, als er bei uns gewohnt hat, im Prinzip alles mögliche stehlen können. Er hätte mich auch erschlagen können. Oder meine Mutter. Aber stattdessen wollte er nicht einmal, dass ich ihm am Ende mehr Geld gebe, als ausgemacht war.
Hattest du etwas mit ihm?
Anne lacht auf: Er ist dreiundzwanzig!
Richard hat tatsächlich einen Moment lang vergessen, dass Anne so alt ist wie er, hat einen Moment lang auch sein eigenes Alter vergessen. Ist es wirklich schon fünfzig Jahre her, dass er mit einer splitternackten Anne auf dem Fußboden irgendeines Landhauses lag und ihre Frisur so durcheinander geraten war, dass sie sagte: Jetzt hab ich ein Vogelnest auf dem Kopf?
Du musst einfach herauszufinden versuchen, ob es dein Klavierspieler war.
Er hat immer nach Arbeit gefragt, sagt Richard. Er weiß wahrscheinlich nicht, wovon er sonst leben soll.
Du denkst also, dass er es war. Du verurteilst ihn, ohne dass er eine Chance hatte, sich zu äußern. Das ist nicht schön.
Was wäre denn schön?
Frag ihn, ob er es war.
Und wenn ja?
Du sagst doch, der Dieb hat den Ring deiner Mutter genommen.
Ja.
Das ist doch schlimm.
Naja. Aber letztendlich hätte ich ohnehin nicht gewusst, was mit dem Schmuck später wird.
Richard, deine Entschuldigungen kannst du dir sonstwohin stecken.
Richard hört, dass Anne, wie immer, beim Telefonieren abwäscht. Das Telefon hat sie bestimmt zwischen Ohr und Schulter geklemmt und ab und zu pustet sie, weil sie nasse Hände hat, eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht fällt, beiseite, damit sie ihr beim Sprechen nicht in den Mund rutscht. Das Pusten kann er hören und auch das Geräusch, das der Wasserstrahl macht.
Wenn wirklich er es gewesen sein sollte, der dir den Ring geklaut hat, dann schrei ihn an! Sag ihm, dass du, verdammt nochmal, den Ring zurückhaben willst! Mach ihm eine Szene!
Aber warum?
Weil du ihn ernst nehmen musst. Wenn du seinen Verrat entschuldigst, bist und bleibst du der großkotzige Europäer.
Warum eigentlich hatte sich vor fünfzig Jahren weder für Anne noch für ihn die Frage gestellt, ob sie ein Paar sein sollten?
Dann müsste ich also, wenn er es gewesen wäre, doch Anzeige erstatten?
Aber nein, sagt Anne, geduldig wie zu einem sehr dummen Kind, das hat doch mit der Polizei nicht das Geringste zu tun. Es geht darum, dass dir nicht egal ist, was er tut.
Verstehe.
Dann tritt für einen Moment Stille ein.
Richard, bist du noch dran?
Sag mal, sagt Richard, warum sind wir eigentlich nie zusammen gekommen?
Bist du betrunken?
Nachdem er aufgelegt hat, schickt Richard Osarobo eine Nachricht, so wie er es sonst auch manchmal gemacht hat:
Tomorrow?
Okay, schreibt Osarobo zurück.
At 2 p.m.?
Okay.
Richard wischt nun all die Dinge, die die Polizei schwarz gepinselt hat, mit Gummihandschuhen ab, stellt alles wieder an seinen Platz, schiebt die Schubladen in die Fächer zurück und lässt im Musikzimmer das Rollo herunter, so dass man die Stellen am Fensterrahmen, die herausgebrochen sind, nicht sieht.
Den Rest des Tages verbringt er vor seinem Computer. In die Zeile, in die man einen Suchbegriff eingeben kann, tippt er ein, was ihm gerade so in den Sinn kommt:
Wahrscheinlichkeit
Die Wahrscheinlichkeit (Probabilität) ist eine Einstufung von Aussagen und Urteilen nach dem Grad der Gewissheit (Sicherheit). Besondere Bedeutung hat dabei die Gewissheit von Vorhersagen.
Gewissheit
Der Ausdruck Gewissheit bezeichnet alltagssprachlich meist die subjektive Sicherheit bezüglich bestimmter, für gut gerechtfertigt gehaltener Überzeugungen, die sich z. B. auf natürliche oder moralische Sachverhalte beziehen können. Außerdem wird diskutiert, welche Elemente welche Rolle für das Zustandekommen subjektiver Gewissheit spielen, darunter etwa» Beweise«, Verlässlichkeit von» Expertenmeinungen«, äußere Umstände wie Häufigkeit der gebrachten Argumente oder innere Modalitäten wie emotionale Stabilität.
Schrödingers Katze
Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Maschine: In einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, dass im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses System eine ganze Stunde sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, dass die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben.
Katzenzustand
In einem allgemeineren Sinn wird in der Quantenmechanik eine Überlagerung zweier kohärenter Zustände, die hinreichend unterschiedlich und klassischen Zuständen ähnlich sind, als Katzenzustand bezeichnet. Um einen solchen Zustand zu präparieren, ist es nötig, das System von der Umgebung abzuschirmen.
Quantenselbstmord
Ein Wissenschaftler sitzt vor einem Geschütz, das abgefeuert wird, wenn ein spezielles radioaktives Atom zerfallen ist. In diesem Fall stirbt der Wissenschaftler.
Quantenunsterblichkeit
Nach der Viele-Welten-Interpretation wird in unterschiedlichen Paralleluniversen das Abfeuern in einer unterschiedlichen Zeit erfolgen, so dass die Möglichkeit, dass der Wissenschaftler überlebt, häufiger erfüllt wird als die seines Sterbens. In der Gesamtheit der Systeme betrachtet, stirbt der Wissenschaftler daher durch das Experiment nicht, da die Wahrscheinlichkeit für das Überleben nie gleich Null ist, und er somit in irgendeinem Universum immer überlebt. So betrachtet, ist der Wissenschaftler unsterblich.
Am nächsten Vormittag kommt ein Handwerker von einer Fensterfirma, um für ein neues Fenster Maß zu nehmen.
Um 2 p.m. wartet Richard, dass es klingelt, aber es klingelt nicht.
Um 2.30 p.m. schaut er auf sein Telefon und sieht, dass er eine Nachricht hat:
I can’t make it today.
Außerdem sieht er noch etwas anderes. Osarobo hat sein Profilbild geändert. Statt eines Fotos von ihm ist da nun ein Aquarell in Hellblau, Rosa und Lindgrün, auf dem sieht man einen segnenden Jesus, neben sich einen knienden Sünder, der den Kopf geneigt hält, um sich absolutieren zu lassen. Oder ist der Kniende einfach nur jemand, der betet?
I can’t make it today.
Abends um 7 Uhr kommt Andreas, der Hölderlinleser, der endlich von seiner Kur zurück ist, zu Richard zu Besuch. Eigentlich wollten sie zusammen einen Film sehen. Jetzt sitzen sie in der Küche und trinken Bier.
Das Problem ist, man kann nicht wissen, ob er es war, sagt Richard.
So wachsen ja des Waldes Eichen auch /Und keines kennt, so alt sie sind, das andre, gibt Andreas ihm zur Antwort.
Kennst du Schrödingers Katze?
Die, die ins Fegefeuer gesperrt ist?
Ja, genau die. Für ihren Tod gilt eine Wahrscheinlichkeit von 50 zu 50. Meinst du, dass es mein Klavierspieler war?
Ich kann’s dir nicht sagen.
Vor zwei Tagen habe ich noch hier mit ihm gesessen, so wie jetzt mit dir. Wir haben zum ersten Mal Tee zusammen getrunken.
Andreas nickt. Richard nimmt einen Schluck aus seiner Flasche, und auch Andreas nimmt einen Schluck.
Wir haben Tee getrunken, und ich habe gedacht, dass es das erste Mal ist, und er hat vielleicht gedacht, dass es das letzte Mal ist.
Andreas nickt.
Vielleicht, sagt Richard. Aber vielleicht eben auch nicht.
Ich bin gestern zum ersten Mal wieder mit dem Fahrrad gefahren, sagt Andreas. Hab auch nicht gedacht, dass ich das nochmal kann.
Richard nickt: Es geht hin und her, und hin und her, und irgendwann nur noch hin, aber man weiß nie, wann das ist. Jetzt ist mir auch klar, sagt er, warum das Wellenfunktion heißt. Und den Tod nennen sie einfach: Kollaps der Wellenfunktion.
Kollaps der Wellenfunktion, sagt Andreas, das könnte von Hölderlin sein.
Die Katze, sagt Richard, wird wissen, ob sie tot ist oder lebendig.
Sollte man annehmen, sagt Andreas.
Aber Schrödinger sagt, bis man den Kasten aufmacht, ist sie beides: tot und lebendig. Kannst du das verstehen?
Andreas nimmt einen Schluck Bier.
Richard fällt die Spieluhr ein, deren hölzernes Gehäuse der Einbrecher, wer auch immer es gewesen sein mag, auf seiner Suche nach Geld zerbrochen hat. Ob er wohl enttäuscht war, als er drinnen nur die blecherne Scheibe mit den umgebogenen Zacken gesehen hat, die, wenn man sie mit der Kurbel in Gang setzt, die Arie des Herzogs aus Rigoletto spielt: La donna è mobile?
Die Dinge, sagt Richard, existieren doch unabhängig davon, ob einer den Kasten aufmacht.
Naja, sagt Andreas, woher willst du das wissen?
Richard sieht jetzt sehr unzufrieden aus.
Verstehe, sagt er und nimmt einen Schluck. Seine Frau hat am Schluss ihres Lebens immer Chantré getrunken, weil das billiger war.
In der Kur, sagt Andreas, bin ich am Meer spazieren gegangen. Da gab’s nie einen Kollaps der Wellenfunktion.
Noch zwei Versuche unternimmt Richard, sich mit Osarobo zu treffen.
Einmal schlägt er ihm vor, in den Bäckerladen zu gehen, in dem sie beim ersten Treffen versucht haben, sich zu unterhalten. Osarobo sagt ja, aber dann sitzt Richard allein vor einem Pfefferminztee und liest wieder: Sorry, I can’t make it today. Die Verkäuferin schaut von oben auf ihn herab und sagt: Das macht 2,80 Euro.
Am Abend sieht er: Osarobo hat ein neues Profilfoto eingestellt. Ein Gemälde, auf dem Daniel in der Löwengrube zu sehen ist. Mit gefesselten Händen steht er vor den Löwen, die nicht wagen, ihn aufzufressen. If God is for us who can be against us?
Beim letzten Versuch schreibt Richard:
Wenn du mir etwas sagen willst — ich warte morgen auf dich am Alex. Weltzeituhr 3 p.m.
Okay — see you tomorrow.
Richard fährt mit der S-Bahn in die Stadt und hofft, dass die Mühe, die es ihm macht, Osarobo am Alex zu treffen, irgendetwas bewirkt. Aber um 5 Minuten nach 3 schreibt Osarobo:
Bin ich home now, is snowing.
Ja, es schneit tatsächlich. Richard steht mit dem Mobiltelefon, auf dem er die Entschuldigung liest, unter der Weltzeituhr, an der er sich schon als Jugendlicher oft verabredet hat. Magadan, Dubai, Honolulu. Wie spät mag es jetzt wohl in Niamey sein, der Hauptstadt von Niger?
Bis zu Hause schafft er es noch, sich zusammenzureißen, aber dann sitzt er am Schreibtisch vor dem dunklen Computerbildschirm. Die Seele von Osarobo, das weiß er, fliegt jetzt ins Universum hinaus, irgendwohin, wo es keine Regeln mehr gibt, wo man auf niemanden Rücksicht nehmen muss, aber dafür auch für immer und ganz und gar und unumkehrbar allein ist. Auf der Erde aber bleibt er, Richard, mit solchen Leuten wie Monika und dem schnurrbärtigen Jörg zurück. So wie die Löwen auf Osarobos Profilbild sieht er die schon ihre Zähne fletschen: Das hätten wir dir gleich sagen können! Richard weint, wie er seit dem Tod seiner Frau nie mehr geweint hat.
Oder war Osarobo es doch nicht?