Als Richard abends zu Hause ankommt, weiß er nicht mehr, wie das Gespräch eigentlich begonnen hat. Er hatte nicht mehr bei einer der Türen anklopfen wollen, hinter denen die Schlafenden waren. Beim Hinuntergehen dann sah er den dünnen Mann mit dem Besen. Der fegte, als habe er alle Zeit dieser Welt, die unbewohnte erste Etage. Das Gespräch mit ihm hat viel länger gedauert als all die anderen Gespräche, aber das kann Richard sich nicht wirklich erklären.
Ich weiß, woran das liegt, sagt die Stimme. Der dünne Mann trägt noch immer die gelbe, zerlöcherte Trainingshose und hat den Besen noch immer in der Hand. Manchmal macht er eine kleine Pause und stützt sich mit beiden Händen darauf, und dann fegt er weiter.
Oder ist es noch immer nicht zu Ende?
Ich schaue nach vorn und nach hinten und sehe nichts.
Das war der erste Satz, den der Mann in der leeren Etage gesagt hat, und von diesem Satz aus ging es viele, viele Male im Kreis. Jetzt ist Richard zu Hause und hört immer noch dessen Stimme.
Mit acht oder neun Jahren haben meine Eltern mich bei der Stiefmutter gelassen, der ersten Frau meines Vaters, und sind mit meinen zwei Brüdern und meiner Schwester in ein anderes Dorf gezogen. Mit elf habe ich meine erste Cutlass bekommen, das Messer, um auf den Feldern zu arbeiten, für 3 °Cent in der Stunde. Mit achtzehn hatte ich soviel verdient, dass ich einen kleinen Kiosk aufmachen konnte. Mit neunzehn verkaufte ich den Kiosk, um nach Kumasi zu gehen.
Richard schaltet das Licht im Wohnzimmer ein, in der Bibliothek und in der Küche, so wie er das immer macht, wenn er abends nach Haus kommt.
Ich ging zu meinen Eltern, meinen Brüdern, meiner Schwester und verabschiedete mich. Länger als eine Nacht konnte ich nicht bei ihnen bleiben, dazu war ihr Zimmer zu klein.
Ich fuhr nach Kumasi und fing bei zwei Händlern, die auf der Straße Schuhe verkauften, als Helfer an. Ich lernte ein Mädchen kennen, aber ihre Eltern gaben uns die Einwilligung zum Heiraten nicht, weil ich zu arm war. Dann gingen die Händler, bei denen ich angestellt war, pleite.
Ich fuhr zu meinen Eltern, meinen zwei Brüdern und meiner Schwester. Länger als eine Nacht konnte ich nicht bei ihnen bleiben, dazu war ihr Zimmer zu klein.
I didn’t feel well in my body in that time.
Richard geht in die Küche, macht das Fenster zum Garten auf, blickt in die Nacht und denkt einen kurzen Moment, dass jetzt alles ganz still ist. Dann hört er hinter sich wieder das Schleifen des Besens.
Etwas veränderte sich, aber ich wusste nicht, ob zum Schlechten oder zum Guten.
Ich fing auf einer Farm zu arbeiten an. Ich sollte mich um die Tiere kümmern, Ziegen und Schweine. Ich besorgte ihnen das Futter, schnitt Gras, Holz und Blätter. Aber der Besitzer behielt meinen Lohn ein, er sagte: Soviel kostet mich deine Verpflegung.
Richard macht die Balkontür wieder zu und dreht sich um. Der Mann stützt sich mit beiden Händen auf seinen Besen, lächelt und sagt:
Eines Nachts hatte ich einen Traum. Mein Vater lag auf der Erde, ich wollte ihn umarmen, aber konnte ihn nicht halten, unter meinen Armen wurde er flach und sank nach unten, in die Erde hinein.
In der nächsten Nacht hatte ich wieder einen Traum. Drei Frauen wuschen den toten Leib meines Vaters. Ich sollte ihnen helfen, aber ich wusste nicht, wie man das macht.
In der dritten Nacht sah ich, wie meine Mutter neben dem Körper meines Vaters steht, so als würde sie über ihn wachen.
Einen Tag später erhielt ich Nachricht aus meinem Dorf, dass mein Vater gestorben war.
Wo er den Besen überhaupt her hat?
Ich wusste, dass mein Geld nicht reicht, um acht Wochen später zur großen Totenfeier für meinen Vater zu fahren. Aber ein Sohn muss kommen und seinen Vater betrauern.
Jetzt fegt er wieder weiter, mit ruhigen, weitausholenden Bewegungen. Schaden kann es schließlich nicht, denkt Richard.
Die erste Woche arbeitete ich.
Die zweite.
Die dritte.
Die vierte.
Am Ende der vierten Woche sagte mir der Besitzer, das sei nur der Probemonat gewesen und gab mir wieder kein Geld.
Ich fand Arbeit auf einer anderen Farm. Dort grub ich Felder um, auf denen Yam angebaut wurde. Die erste Woche arbeitete ich. Von vier Uhr morgens bis um halb sieben am Abend.
Die zweite Woche.
Die dritte Woche.
Die vierte.
Aber hätte ein Mädchen mir nicht umsonst zu essen gegeben, hätte auch das Geld, das ich dort verdiente, für die Reise zur Totenfeier und für den Kauf einer Ziege, die ich dort opfern wollte, niemals gereicht.
Vielleicht wäre ein kühles Bier doch gut an so einem Abend, denkt Richard und geht in den Keller hinunter.
Ich fuhr mit der Ziege in einem Sammeltaxi nach Nkawkaw.
Ich fuhr mit der Ziege in einem Bus nach Kumasi.
Ich fuhr mit der Ziege in einem Sammeltaxi von Kumasi nach Tepa.
Ich fuhr mit der Ziege von Tepa nach Mim.
Richard erinnert sich daran, wie er gelacht hat, als der Mann ihm erzählte, wie schwer es war, so eine lebendige Ziege zwischen all die anderen Passagiere in ein Auto zu zwängen.
Ich traf genau an dem Tag ein, an dem die Totenfeier für meinen Vater stattfand. Wir opferten, so wie es Brauch ist, die Ziege. Länger als eine Nacht konnte ich nicht bei meiner Familie bleiben, dazu war das Zimmer zu klein. Von jetzt an musste ich allein für meine Mutter und meine drei Geschwister sorgen.
In einem benachbarten Dorf bekam ich Arbeit auf einer Kakaoplantage.
Nach einem Jahr beschloss ich, mit dem Geld, das ich verdient hatte, nach Accra zu gehen.
Ich ging zu meiner Mutter, meinen Brüdern, meiner Schwester und verabschiedete mich. Länger als eine Nacht konnte ich nicht bei ihnen bleiben, dazu war ihr Zimmer zu klein.
Während Richard nun mit seinem Bier auf dem Sofa sitzt, fegt der Mann in der gelben, zerlöcherten Hose den Wohnzimmerteppich.
Ich fuhr nach Accra und kaufte die ersten 4 Paar Schuhe für meinen eigenen Handel. Am Nachmittag hatte ich 2 Paar verkauft. Ich kaufte 2 neue Paar nach, und verkaufte am Abend noch 1 Paar. Von dem Gewinn für die insgesamt 3 verkauften Paar Schuhe konnte ich mir Essen kaufen, eine Schlafmatte und eine Plane, um auf der Straße zu schlafen. Nachts stahl mir jemand die Plane.
Richards Blick fällt auf den Adventskranz, der seit fünf Jahren auf seinem Wohnzimmertisch steht.
Die Regenzeit hatte gerade begonnen, so lief ich in der Stadt herum, ich hatte inzwischen 11 Paar Schuhe, zeigte immer den einen Schuh her, den zweiten hatte ich in meinem Rucksack. Nachts wurde ich manchmal nass, wenn meine neue Plane nicht dichthielt. Tagsüber war ich dann oft so müde, dass ich im Sitzen einschlief. Schließlich ließ ich mir eine Tischplatte machen. Ich fand jemanden, der den Sack mit den Schuhen über Nacht für mich einschloss. Aber noch immer schlief ich auf der Straße, mit dem Geld in der Hosentasche, immer hatte ich Angst, überfallen zu werden. 5 Paar Schuhe gab ich einem, der mir beim Schuhverkauf helfen wollte, in Kommission. Aber er stahl mir die Schuhe und blieb verschwunden.
Jetzt dreht der Mann in der gelben, zerlöcherten Hose den Besen um und zupft die Fusseln aus den Borsten heraus, lässt sie aber gleich wieder an Ort und Stelle zu Boden zu fallen. Was soll das, denkt Richard im ersten Moment, dann denkt er: Na, wenn es ihm Spaß macht.
Ich fuhr zu meiner Mutter und meinen Geschwistern. Länger als eine Nacht konnte ich nicht bei ihnen bleiben, dazu war das Zimmer zu klein.
Ich fragte mich: Was ist an mir falsch?
Ich fragte mich, und ich fragte auch Gott.
Es darf einem auch einmal schlecht gehen. Aber wenn man nie weiß, wo man schlafen soll und was man zu essen hat? Gibt es auf der ganzen Erde wirklich keinen Platz, an dem ich mich zum Schlafen hinlegen kann?
Ich schaute nach vorn und nach hinten und sah nichts.
Meiner Mutter sagte ich, dass es mir gut geht.
Und meine Mutter sagte mir, dass es ihr gut geht.
Aber ich wusste ja: Sie besaß kein Land. Wenn ich ihr kein Geld gab und auch sonst niemand ihr etwas schenkte, konnte sie für sich und meine Geschwister nichts kochen.
Mein Schweigen und ihr Schweigen trafen sich, wenn wir uns sahen.
Dann arbeitete ich als Erntehelfer auf einer Plantage.
Die erste Woche.
Die zweite Woche.
Die dritte Woche.
Er dreht den Besen wieder herum, aber bleibt ruhig stehen.
Ich dachte: Wenn ich nicht mehr da wäre, könnte auch niemand mehr etwas von mir wollen.
Ich setzte mich an den Rand des Feldes und weinte.
Es ist so, viele Menschen in Ghana sind sehr verzweifelt.
Manche hängen sich auf.
Andere nehmen DDT, sie trinken Wasser nach, dann gehen sie ins Haus, machen die Tür hinter sich zu — und sterben.
Ich schickte ein Kind zu dem Laden, wo es das DDT gibt. Aber der Verkäufer fragte das Kind, wer es geschickt hat. Er suchte mich, dann sprach er lange mit mir und sagte, ich soll es mir gut überlegen.
Drei Tage saß ich nach diesem Gespräch in der Moschee und dachte nach.
Ich hatte dann keine Kraft mehr, es zu tun.
Danach wurde ich krank.
Richard steht auf und geht in die Bibliothek hinüber. Dort sitzt er manchmal im Ohrensessel, wenn er telefoniert. Vielleicht braucht er noch irgendein Buch, um vor dem Einschlafen auf andere Gedanken zu kommen.
Hätte der Verkäufer von dem DDT damals nicht mit mir gesprochen, wäre ich schon lange tot.
Sicher, auch in der Bibliothek ist es staubig. Richard schaut dem dünnen Mann eine Weile dabei zu, wie er die Stühle, die um den runden Tisch herum stehen, umdreht und auf die Tischplatte hebt. Den Besen hat er solange ans Regal angelehnt, auf Höhe der deutschen Klassik.
Dann ging ich nach Accra zurück. Ich stellte einen Helfer ein. Irgendwann hatte ich insgesamt zweieinhalb Säcke mit Schuhen, beinahe 300 Paar. Für ein Zimmer hätte mein Geld jetzt bald gereicht.
Aber da wurde der Straßenhandel verboten.
Ich schaute nach vorn und nach hinten und sah nichts.
Jeweils 5 Paar Schuhe trug ich mit mir herum und verkaufte sie heimlich. Ganze Tage lief ich quer durch die Stadt. Die letzten 20 oder 30 Paare gab ich billig an meinen Helfer ab.
Von dem Erlös kaufte ich einen Sack Athfiadai, daraus machen sie hier in Europa Medizin, hat mir jemand gesagt. Paracetamol.
Richard nimmt gegen Kopfschmerzen ASS, das ist die Aspirin-Variante für die aus dem Osten, aber er weiß nicht, ob darin derselbe Wirkstoff enthalten ist wie in Paracetamol.
Dann fuhr ich nach Hause zu meiner Mutter und meinen Geschwistern. Ich blieb nur eine Nacht, weil das Zimmer zu klein war, und erklärte ihnen, was sie machen sollten, um mir zu helfen.
Sie gingen alle vier in den Busch, um die Frucht zu sammeln. Sie sieht aus wie ein kleiner Apfel, man trocknet sie, dann platzt sie auf, man sammelt die Kerne heraus, auch die Kerne werden dann zwei, drei Tage an der Sonne getrocknet und im Mörser zermahlen. Am Ende ist es ein schwarzes Pulver. Die Frucht ist selten, und es macht viel Arbeit, bis man das Pulver hat, aber schließlich war ein zweiter Sack voll, den schickte mir meine Mutter nach Accra.
Richard würde gern das Licht löschen und zu Bett gehen. Aber dann wartet er doch noch so lange, wie der Dünne unter dem Sofa fegt und unter dem Sekretär, so lange, bis er die Stühle wieder vom Tisch nimmt und alles ordentlich hinstellt.
Ich ging auf den Markt mit den zwei Säcken.
Am ersten Tag kam niemand, um das Pulver zu kaufen.
Auch nicht am zweiten.
Und auch nicht am dritten.
Erst dann hörte ich, dass im Vorjahr einige Händler ähnlich aussehendes Pulver in die Säcke gefüllt hatten, um die Aufkäufer zu betrügen.
Jetzt macht Richard das Licht aus. Die Stimme erwartet ihn schon im Flur.
Ich ließ die Säcke bei einem Freund und fuhr zu meiner Mutter und meinen Geschwistern, um Abschied zu nehmen. Eine Nacht konnte ich bleiben, nicht länger, weil das Zimmer zu klein war.
Von dem letzten Geld, das ich hatte, gab ich meiner Mutter die Hälfte, von der anderen bezahlte ich den Schlepper für meine Fahrt nach Libyen.
Das war im Jahr 2010.
Eigentlich schön, dass es keinen Lärm macht, das Fegen, denkt Richard und fragt sich, warum er selbst, wenn überhaupt, immer gleich zum Staubsauger greift.
Mein Geld reichte nur bis Dakoro in Niger. Den Rest lieh mir der Schlepper. Ich und die andern lagen im doppelten Boden eines Pickups so eng aneinander und so flach, dass wir uns nicht einmal umdrehen konnten. Mit Stücken von Wassermelonen hielt uns der Schlepper am Leben, die schob er uns ins Versteck.
In Tripoli arbeitete ich die ersten acht Monate auf einer Baustelle nur für den Schlepper. Als meine Schuld endlich abbezahlt war, brach der Krieg aus. Wir konnten die Baustelle nicht mehr verlassen. Ringsum hörte man Schüsse. Irgendwann kam der Mann nicht mehr, der uns bis dahin mit Essen und Trinken versorgt hatte. Drei Tage hielten wir aus, dann mussten wir rausgehen. Die Straßen waren vollkommen leer. Man sah keinen Ausländer mehr, aber auch keinen Libyer. Überhaupt keine Menschen. Schließlich schafften wir es nachts auf ein Boot. Ein Freund lieh mir die 200 Euro für die Überfahrt nach Europa.
Als ich vom Lager in Sizilien aus in Accra anrief, sagte mir der Mann, bei dem ich die zwei Säcke mit dem Pulver stehengelassen hatte, das Zeug sei nun doch schon alt.
Ja, sagte ich, schütt es weg.
Und jetzt beginnt der Dünne, die Treppe aufwärts zu fegen, anders, als Richard es bei seiner Mutter gesehen hat, fegt er Stufe für Stufe von unten nach oben, so dass der Staub von der nächsthöheren Stufe auf die gerade gesäuberte fällt.
So lange, wie ich in Italien im Camp war, bekam ich 75 Euro im Monat, 20 oder 30 davon schickte ich meiner Mutter.
Aber nach einem Jahr wurde das Camp geschlossen. Sie gaben uns 500 Euro. Damit stand ich nun auf der Straße. Ich ging auf den Bahnhof, um dort zu schlafen. Ein Polizist weckte mich und schickte mich raus, weil ich keine Fahrkarte hatte.
Draußen war einer aus Kamerun. Der sagte, er hat einen Bruder in Finnland. Wir riefen den Bruder an. Ja, ich kann nach Finnland kommen und bei ihm wohnen.
Ich fuhr nach Finnland. Aber der Bruder von dem aus Kamerun hob das Telefon nicht mehr ab.
Zwei Wochen schlief ich in Finnland auf der Straße.
Es war sehr, sehr kalt.
Dann fuhr ich zurück nach Italien.
Ich ging mit meiner Tasche auf dem Rücken umher. Ein Paar Schuhe und eine Hose warf ich irgendwann weg, weil die Tasche so schwer war.
Ein Jahr und acht Monate war ich insgesamt in Italien.
Dann fuhr ich nach Deutschland.
Dann war mein ganzes Geld weg, die 500 Euro.
Ich schaute nach vorn und nach hinten und sah nichts.
Der Dünne ist mit dem Besen nun oben und scheint in Richtung Gästezimmer zu gehen, aber als Richard ihm nachgeht, einen Band von Edgar Lee Masters in der Hand, und sich in der oberen Etage umschaut, ist niemand mehr da.