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Am Anfang war ein unterschiedsloses Ganzes, das alles enthielt: das Weibliche und das Männliche, den Raum und die Zeit, das Gleiche und das Verschiedene. Dieses Ganze ist durch die Leere hinabgestiegen und hat sich dann in den verschiedenen Gestalten gezeigt. Das Weibliche ist dicht und körperlich, es enthält den Urstoff und war zuerst da, dann ist das Männliche hinzugekommen, es ist von leichterem Wesen und beweglich. Ebenso sind der Raum und die Zeit entstanden. Aber all diese Erscheinungsformen bedingen sich gegenseitig, keine ist der anderen übergeordnet, sie ergänzen sich und bleiben in ihrer Verschiedenheit das eine Ganze, bleiben ein einziger Körper. Genauso sind die einzelnen Menschen in der Gesellschaft Teile einer lebendigen Ganzheit — wie unterschiedliche Organe eines Körpers üben sie in der Gesellschaft unterschiedliche Funktionen aus, sind aber untrennbar miteinander verbunden. Und schließlich gibt es auch einen politischen Körper, der aus den verschiedenen Stämmen zusammengesetzt ist. Die Tuareg sagen: In den sechziger Jahren haben die Franzosen durch die Aufteilung des traditionell von ihnen besiedelten Gebiets auf fünf verschiedene Länder diesen ihren politischen Körper zerschnitten.

Richard liest.

Begonnen hat er mit seiner Lektüre bei Herodot, der die Garamanten, die Vorfahren der Tuareg, schon im fünften Jahrhundert vor Christus beschreibt. Die Kunst, einen Streitwagen zu lenken, hätten die Griechen von den Männern dieses Berbervolkes gelernt, und von deren Frauen die Poesie. Bis heute setzen die älteren Frauen sich vor Sonnenaufgang, noch in der Nacht, unter freiem Himmel hin und singen:

Auch wenn einer reich und vermögend ist,

ist der Tod ihm nahe.

Der Tod ist größer als die Zeit, er umfängt sie.

Gerade jetzt sendet er seine Pfeile aus, sie gehen nieder

in die Mitte der Herde.

Aus dem heutigen Syrien, vielleicht sogar aus dem Kaukasus, sollen die Vorfahren der Tuareg vor über 3000 Jahren über Ägypten nach Nordafrika gekommen sein, das in der Antike im ganzen Libyen hieß, also auch das heutige Tunesien und Algerien umfasste. Von dort sind sie im Laufe der Zeiten dann weiter west- und südwärts gezogen: bis nach Timbuktu, Agadez, Ouagadougou.

Richard liest, und während er liest, verrückt sich für ihn plötzlich auch der griechische Götterhimmel, der doch eigentlich sein Spezialgebiet ist, und er versteht plötzlich neu, was es bedeutet, dass sich für die Griechen das Ende der Welt da befand, wo heute Marokko ist, am Atlasgebirge, dort stemmte Atlas Himmel und Erde auseinander, damit Uranus nicht wieder in Gaia hineinstürzt und ihr Gewalt antut. Die Gegenden, die heute Libyen, Tunesien, Algerien heißen, waren in der Antike das Gebiet vor dem Ende der Welt, also die Welt. Auf libyschem Sand stand der Sohn der Gaia, der Gigant Antaeus, der seine Kraft aus der Verbindung mit seiner Mutter, der Erde, schöpfte — und erst besiegt wurde, als Herakles ihn aufhob und so lange in der Luft hielt, bis die Verbindung des Antaeus mit seiner Mutter erlosch. Die eulenäugige Athene, von manchen Wissenschaftlern sogar als schwarze Göttin bezeichnet, wuchs bei ihrem Ziehvater Triton am Ufer des Tritonsees auf, im heutigen Tunesien. Die Amazonen, die Athene als erste verehrten, ursprünglich Amazigh genannte kriegerische Berberfrauen, tanzten am Ufer dieses Sees, von dort aus auch zogen sie in den Kampf — und sprachen Tamashek, die gleiche Sprache wie der, den Richard vor einigen Wochen, noch ganz in Verkennung der mythischen Lage, Apoll genannt hat: der Flüchtling aus Zimmer 2019.

Richard liest.

Auch Medusa, die Gorgone mit den sich ihr auf dem Kopf windenden Schlangenhaaren, die jeden, der sie ansah, durch ihren Blick in Stein verwandelte, sei, heißt es, einmal ein schönes libysches Berbermädchen und eine erfolgreiche Kriegerin gewesen. Erst nachdem Poseidon, der Gott des Meeres, am libyschen Ufer ausgerechnet in einem Tempel Athenes mit der Schönen geschlafen hatte, habe die empörte Göttin der Amazone die Schreckensgestalt verliehen und später Perseus den spiegelnden Schild gegeben, mit dem dieser dem tödlichen Blick der Gorgone ausweichen und ihr so, ohne zu Stein zu werden, endlich den Kopf abschlagen konnte. Noch aus den Blutstropfen, die bei der Enthauptung der Medusa in den libyschen Sand fielen, seien Schlangen geworden, liest Richard. Nein, es ist sicher kein Zufall, dass den Frauen der Tuareg auch heute noch die Viehherden und die Zelte gehören, dass sie sich die Männer aussuchen und sich scheiden lassen können, wie es ihnen beliebt, dass sie unverschleiert, die Männer aber verschleiert gehen, dass die Frauen die Erbfolge begründen und auch heute noch berühmt sind für ihre Dichtkunst und ihre Lieder, dass sie es sind, die ihre Kinder die Schrift lehren, und zwar dieselbe Schrift, die schon Herodot mit eigenen Augen gesehen hat.

Vieles von dem, was Richard an diesem Novembertag, einige Wochen nach seiner Emeritierung, liest, hat er beinahe sein ganzes Leben über gewusst, aber erst heute, durch den kleinen Anteil an Wissen, der ihm nun zufliegt, mischt sich wieder alles anders und neu. Wie oft wohl muss einer das, was er weiß, noch einmal lernen, wieder und wieder entdecken, wie viele Verkleidungen abreißen, bis er die Dinge wirklich versteht bis auf die Knochen? Reicht überhaupt eine Lebenszeit dafür aus? Seine — oder die eines andern?

Wenn er sich den Weg ansieht, den die Berber vielleicht genommen haben: vom Kaukasus über Anatolien und die Levante bis nach Ägypten und ins antike Libyen, später dann in den heutigen Niger und vom Niger wieder zurück ins heutige Libyen und über das Meer bis nach Rom und Berlin, ist es beinahe ein vollkommener dreiviertel Kreis. Tausende von Jahren dauert die Bewegung der Menschen über die Kontinente schon an, und niemals hat es Stillstand gegeben. Es gab Handel, Kriege, Vertreibungen, auf der Suche nach Wasser und Nahrung sind die Menschen oft dem Vieh, das sie besaßen, gefolgt, es gab Flucht vor Dürre und Plagen, Suche nach Gold, Salz oder Eisen, oder es konnte dem Glauben an den eigenen Gott nur in der Diaspora die Treue gehalten werden, es gab Verfall, Verwandlung, Wiederaufbau und Siedler, es gab bessere oder schlechtere Wege, niemals aber Stillstand. Um einem Studenten zu erklären, dass er damit nicht einmal ein moralisches, sondern vielmehr ein Naturgesetz meine, hätte Richard nur aus dem Fenster zeigen müssen, wo so viele der Blätter, über deren Erscheinen er sich im Frühjahr gefreut hat, nun schon auf dem Gras liegen, indes die Knospen für den nächsten Frühling schon angelegt sind. Aber es gibt keinen Studenten hier, der ihn danach fragt.

Richard liest.

Von den verlorenen Städten der Garamanten liest er, von ihren verwehten Burgen und ausgeklügelten Bewässerungssystemen unter der Erde in den einstmals dicht besiedelten Oasen am Beginn der Handelsstraßen, die durch die Wüste nach Süden führten. Nun, nach Gaddafis Sturz sei endlich durch Satellitenbilder erwiesen, dass es sich bei den libyschen Ureinwohnern nicht um Räuber am Rande der Zivilisation, sondern um Menschen gehandelt habe, die technologisch auf der Höhe ihrer Zeit gewesen seien, heißt es auf der Website der Übergangsregierung. Die Website ist schon zwei Jahre alt, sieht Richard. Jetzt hoffe man, so heißt es weiter in dieser zwei Jahre alten Gegenwart, auf einen Neubeginn für die libysche Altertumsforschung, die unter Gaddafi sträflich vernachlässigt worden sei. Bald schon werde es für das libysche Volk zum ersten Mal die Möglichkeit geben, sich mit seiner lange unterdrückten, ureigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Im Moment sei zwar der die Forschungen leitende Professor aufgrund der Unruhen evakuiert, aber sobald die Sicherheit im Lande wiederhergestellt sei, werde er mit seinen Untersuchungen, finanziert durch europäische Gelder, beginnen. Richard wohnt ja nun in dieser inzwischen schon zwei Jahre alten Zukunft und weiß daher, dass Libyen seit dem Sturz Gaddafis durch die verschiedenen Milizen, deren Ziele niemand mehr durchschaut, vollends in ein Schlachtfeld verwandelt worden ist. Das libysche Volk ist seit zwei Jahren durchaus nicht damit befasst, seine ureigenen, vorislamischen Wurzeln zu ergründen, sondern ausschließlich damit, zu überleben. Gaddafi hatte den landeseigenen Altertumsforschern zwar nur kärgliche Gelder für ihre Forschungen bewilligt, das mochte wahr sein, aber jetzt hatten auch die Europäer ihre Förderungen eingefroren, und die Altertumsforscher saßen wahrscheinlich seit zwei Jahren im Exil, während die Burgen, Städte und Dörfer der Garamanten allenfalls von uniformierten Antiquitätenjägern erforscht und all der Dinge beraubt wurden, die sich zu Geld machen ließen. Die Nachfahren der Garamanten wurden im heutigen Libyen als Ausländer angesehen und waren deshalb genauso wie alle anderen Ausländer vor zwei Jahren in Boote gesetzt und nach Europa gejagt worden. In welchen Zeiträumen muss man messen, wenn man wissen will, was Fortschritt genannt werden kann?

Richard liest und liest.

Und deswegen hat er noch nicht einmal zu Mittag gegessen, als das Telefon klingelt und seine Freunde ihm vorschlagen, einen Spaziergang mit ihnen zu machen. Es werde ja schon bald wieder dunkel, sagt Sylvia. Und Detlef ruft aus dem Hintergrund: Thomas kommt auch mit.

Thomas muss nicht das ganze Wochenende zu Haus sein?

Nein, seine Frau hat Besuch von ihrer Cousine.

Der dicke Thomas, früher Wirtschaftsprofessor, inzwischen Computerspezialist, steckt sich beim Gehen eine Zigarette an.

Nur noch 6 drin, sagt er und schüttelt seine Zigarettenschachtel, bevor er sie in die Manteltasche zurücksteckt. Es scheint die letzte der 3 Schachteln zu sein, die ihm seine Frau pro Woche zuteilt.

Die neuen gibt’s erst am Montag, sagt er.

Die Freunde nicken.

Richard, Thomas, Sylvia und Detlef wohnen alle kaum mehr als zehn Minuten zu Fuß voneinander entfernt, aber sie würden sich trotzdem wahrscheinlich nie treffen, riefe nicht Sylvia, wie heute, Thomas und ihn einfach an.

Wie geht’s denn den Afrikanern? fragt Detlef.

Sie ziehen bald um.

Welche Afrikaner? fragt Thomas und hört nun die Kurzfassung der Geschichten, die Richard neulich den beiden andern erzählt hat. Richard erzählt auch von der Göttin Athene, von Medusa, Antaeus, und schließlich von seiner Verabredung mit Apoll.

Aber Apoll war aus Delos, sagt Thomas, der, obgleich sein Fach Wirtschaftsgeschichte war, immer schon auch alles andere mindestens genauso gut wusste wie Richard.

Jaja, sagt Richard, aber ich meine den Flüchtling. Morgen kommt er und hilft, ich will den Garten winterfest machen, das Ruderboot bringe ich allein nicht mehr aus dem Wasser. Ziehe das Schiff an’s Land und stütz es mit Steinen. /Ringsum, dass der Gewalt feuchtwehender Winde sie wehren. /Nimm auch den Zapfen heraus; sonst bringt es Zeus’ Regen zum Faulen.

«Werke und Tage«, sagt Thomas.

«Werke und Tage«, sagt Richard. Thomas ist der einzige von seinen Freunden, der, so wie er, den alten Hesiod noch immer auswendig hersagen kann.

Wenn mein Rücken mitmachen würde, hätte ich dir geholfen, sagt Detlef.

Ich weiß schon, sagt Richard.

Tuareg ist dieser Apoll? fragt Thomas.

Ja.

Aus Niger?

Ja.

Na, dann halt mal den Geigerzähler an ihn ran, bevor du ihm Guten Tag sagst.

Ich weiß, sagt Richard.

Wieso denn? fragt Sylvia.

In Niger gibt es so viel Uran wie sonst auf der Welt fast nirgends, sagt Richard.

Und während sie an Kiefern und Eichen vorbeigehen, und während der Hund angelaufen kommt, der dem alten Ehepaar, dem er gehört, immer ausreißt, Cognac heißt er, erzählt Richard seinen Freunden Detlef und Sylvia, die wahrscheinlich nicht einmal wissen, wo genau Niger liegt, vom französischen Staatskonzern Areva, der das Monopol für die Minen hält und seinen Müll dorthin kippt, wo die Tuareg bisher ihre Kamelweiden hatten. Und natürlich auch selbst leben, sagt er.

Am Himmel versuchen ein paar Vögel, für ihre Reise nach Afrika fliegend ein Dreieck zu formen. Der Briefkasten bei dem verwilderten Grundstück ist, seit der Besitzer den Bungalow an Studenten aus Berlin vermietet, rosa gestrichen.

Dort, sagt Richard, ist das Trinkwasser inzwischen verseucht, die Kamele sind hin, die Menschen kriegen Krebs, ohne zu wissen, warum — der Strom aber fließt in Frankreich und hier bei uns, in Deutschland.

Hier bei uns, in Deutschland, wiederholt Detlef, und Richard weiß nicht genau, ob Detlef über den Inhalt des Satzes erstaunt ist, oder darüber, dass er, Richard, es so formuliert. Das Land, das Deutschland hieß, war schließlich bis vor einiger Zeit nur auf der andern Seite der Mauer. Naja, sagt Richard, als ob er sich für seine verbale Vereinigung der beiden deutsch sprechenden Länder entschuldigen wollte.

Und übrigens, sagt Thomas, ist der Gewinn dieses Konzerns pro Jahr zehnmal so hoch wie sämtliche Einnahmen des Staates Niger.

Woher weißt du das schon wieder? fragt Richard.

Na, was man so liest, sagt Thomas und schnipst seine Kippe in den märkischen Sand.

Es ist wirklich ganz übel, sagt Richard, die Tuareg haben schon 1990 einen Aufstand gemacht, dann gab’s ein Massaker, dann war wieder Ruhe. Vor ein paar Jahren das Gleiche noch einmal.

Die Vertiefungen in dem Sandweg hat irgendwer mit Bruchstücken von Ziegeln und Fliesen ausgeglichen, sicher um die Stoßdämpfer seines Autos zu schonen.

Und die einzige Regierung, die die Franzosen rausschmeißen wollte, ist ganz schnell weggeputscht worden, sagt Thomas. Von wem auch immer.

Wollen wir umdrehen? fragt Sylvia, so wie sie das immer fragt, wenn sie mit ihrem Spaziergang am Ende der Häuserzeile angelangt sind. Sie gehen dann einen Bogen durch den Wald, in dem es noch immer nach Pilzen riecht, obwohl die wahrscheinlich schon längst verfault sind.

Und auch Al-Quaida, sagt Richard, hat von dem Uran schon gehört. Es scheint nur die Frage zu sein, ob die sich mit den Tuareg gegen die Regierung von Niger verbünden, oder eben gerade nicht.

Das eine schließt das andre wahrscheinlich nicht aus, sagt Detlef.

Ja, sagt Richard, die Wüste ist bestimmt groß genug für mehrere Fronten.

Sylvia sagt, was der Konzern da mache, sei doch eigentlich genau das, was Richard vorhin erzählt habe: Herakles hebt Antaeus von der Erde, und erst dadurch verliert der seine Kraft.

Detlef sagt, hat der FC Nürnberg nicht Trikots, auf denen Areva steht?

Kann sein, sagt Richard und denkt, während sie, weiter miteinander redend, auf dem Rückweg ein zweites Mal an dem Grundstück vorübergehen, wo die Beamtin wohnt, die für jedes kleine Vergehen der Nachbarn gleich mit 2000 Euro Strafe droht, und dann noch einmal an dem Grundstück vorbeigehen, auf dem der Chef vom Anglerverein eine deutsche Fahne gehisst hat, und dann auch wieder an der Badestelle vorbeigehen, die den ganzen Sommer über verwaist war, denkt, während er sieht, wie Sylvia sich bei ihrem Mann Detlef einhakt, und wie Thomas einen Blick in seine Zigarettenschachtel wirft, und die Schachtel dann stirnrunzelnd wieder in die Manteltasche zurücksteckt, ohne sich eine Zigarette zu nehmen, denkt in genau diesem Moment, dass auch diese vier Menschen hier, von denen er einer ist, zu einem Körper gehören. Hand, Knie, Nase, Mund, Füße, Augen, Gehirn, Rippen, Herz oder Zähne. Egal.

Was wird sein, wenn Sylvia, die ihn oder Thomas oder auch ein paar von den Berliner Freunden manchmal einfach so anruft, nicht mehr da ist?

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