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Raschid hat ein Einzelzimmer, deswegen sitzt er im Zimmer von Ithemba, Zair und noch einem, der auf dem hintersten Bett liegt und schläft. 3 Betten, 3 Stühle, 1 Tisch, 1 Schrank, 1 Waschbecken, 1 Fernseher, 1 Eisschrank.

It’s normal here, sagt Raschid. We’re happy.

Normal, was meinst du damit? fragt Richard.

Es gibt Kinder hier, sagt Raschid. Wir sind glücklich. Wir haben so lange keine Kinder um uns gehabt, keine Familien.

Zair fragt Richard: Wieviel Kinder hast du? Wie viele Enkel?

Keine.

Wirklich, du hast keine Kinder? fragt Zair.

Richard zuckt mit den Schultern.

Das tut mir leid für dich, sagt Zair, in einem Ton, als sei jemand gestorben. Offenbar geht er davon aus, dass nur ein sehr großes Unglück dazu führen kann, dass ein Mann, der so alt ist wie Richard, gar keine Nachkommen hat.

Meine Frau und ich, wir haben das so entschieden.

Wirklich? sagt Zair. Dann verstummt er, aber Richard sieht ihm an, dass er nicht versteht, wie jemand sich freiwillig dafür entscheiden kann, einsam zu sterben.

Der lange Ithemba, der kurz draußen war und nun wieder hereinkommt, stellt einen großen Teller mit dampfendem Essen vor Richard hin: Fleisch, Reis, Spinat. Und holt aus dem Schrank eine Packung mit Fruchtsaft.

Richard erinnert sich noch sehr gut an seine Rechnung mit den 5 Euro pro Tag. Er ist gerührt, aber er kann sich selber nicht leiden, wenn er gerührt ist. Den Afrikanern gefällt in Deutschland der Fahrkartenautomat, und den Deutschen gefällt auf der Safari die Gastfreundschaft des Mohren.

Ist das nicht ein bisschen sehr viel für mich allein? fragt er, allerdings ohne viel Hoffnung, dass diese Gastfreundschaft, die aus ihm einen Idioten macht, plötzlich aufhört.

Nein, nein, iss nur, more is more better, echt afrikanisches Essen: Fufu.

Wie zu einem Gefängnisbesuch hat sich Richard hierher aufgemacht, und nun sitzt er in dem Asylbewerberheim in Spandau und isst zu Mittag. Das Essen schmeckt gut, draußen im Hof hört man die Kinder herumrennen und spielen, rumänische, syrische, serbische, afghanische, auch ein paar afrikanische Kinder. Zur Verabschiedung begleitet Raschid Richard zum Ausgang, so, als hätte er den Besucher bei sich zu Hause empfangen.

It’s normal here, hat er gesagt.

Innerhalb der nächsten zwei Wochen beschafft Raschid seinen Leuten Arbeit als volunteers. Unentgeltlich harken sie Laub in den Parkanlagen Berlins, putzen in Kindergärten und Schulen, waschen Teller in einem Wohngebietsclub. Wir sind froh, wenn wir etwas zu tun haben, sagt Raschid.

Und trotzdem muss Richard jedesmal, wenn er in das zweistöckige Haus zu Besuch kommt, denken: Aus einem zweistöckigen Gebäude kann sich kein Verzweifelter zu Tode stürzen. Die Station für die todkranken Krebspatienten in der Charité, auf der seine Mutter starb, hatte im obersten Stockwerk die schönste Aussicht, aber dafür auch Fenster, die sich nicht öffnen ließen.

In der Ausländerbehörde beginnen die ersten Gespräche zur Klärung der einzelnen Fälle.

Sehr geehrter Herr XXX, Sie sind unter der Nummer XXX als» Teilnehmer Vereinbarung Oranienplatz «registriert.

Richard denkt an die Dreiviertelseite.

Zur Prüfung Ihrer Aufenthaltsangelegenheit werden Sie gebeten, unter Vorlage dieses Schreibens am XXX um XXX Uhr in meinem Dienstgebäude im Warteraum C 06 vorzusprechen.

Was ist Totensonntag?, fragt Khalil Richard am Totensonntag.

Wie kommst du denn darauf? sagt Richard. Am Vormittag war er gerade auf dem Friedhof in Berlin-Pankow, wo seine Eltern begraben liegen.

Der Club, in den wir sonst immer gehen, hatte gestern Nacht zu.

Was ist das für ein Club?

Wir tanzen da, wir dürfen rein ohne Eintritt. Totensonntag stand gestern auf einem Schild am Eingang.

Am Totensonntag, sagt Richard, ist Tanzverbot, und es gibt auch kein Kino.

Warum?

Man denkt an die Gestorbenen, an die Toten.

Ach so.

Und schon verwandelt sich das Gesicht eines jungen Mannes, der letzte Nacht hätte tanzen gehen wollen, in das Gesicht eines jungen Mannes, der die Flucht über ein Meer hinter sich hat und nicht weiß, ob seine Eltern noch leben. An dem Tag, an dem sie auf die Boote getrieben wurden, sei Khalil von ihnen getrennt worden, hat Raschid Richard neulich erzählt. Khalil wisse nicht, ob sie noch dort seien, ob sie erschossen worden seien oder auch auf ein Boot hätten gehen müssen, wisse nicht, in welchem Land sie angekommen sein könnten, wenn überhaupt.

Immer wieder hat Richard in letzter Zeit Meldungen über gekenterte Flüchtlingsboote im Mittelmeer gelesen. An den Stränden Italiens werden inzwischen beinahe täglich Leichen von afrikanischen Flüchtlingen angespült. Wo werden sie begraben? Wer kennt ihre Namen? Wer sagt ihren Familien Bescheid, dass sie es nicht geschafft haben bis Europa — und nie mehr zurückkehren werden? Im Internet schreibt einer, der sich MirEgal nennt: Die einzigen, die mir wirklich leid tun, sind die Rettungskräfte! Wieso müssen sie ausrücken, um die vielen Toten aus dem Wasser zu ziehen? Ein anderer, mit Namen Schlachtgott, schreibt: Der Planet ist sowieso schon maßlos überfüllt. Früher hat das die Natur (Grippe, Pest, etc.) selber geregelt. Und ausgerechnet in dem Teil Deutschlands, in dem bis vor fünfundzwanzig Jahren der proletarische Internationalismus das Motto für unzählige Spruchbänder abgegeben hat, steht nun auf Wahlplakaten einer zunehmend beliebten Partei zu lesen: Lieber Geld für die Oma — als für Sinti und Roma. Richard muss, wenn er solche Meinungsäußerungen liest, immer an ein Gedicht von Brecht denken, in dem Nachkriegsberliner einem zusammengebrochenen Pferd, das lebte überhaupt noch und war gar nicht fertig mit dem Sterben, das Fleisch von den Knochen reißen. Und während es bei lebendigem Leib zerstückelt wird, macht sich das Pferd Sorgen um seine Mörder: Was für eine Kälte /Muß über die Leute gekommen sein! / Wer schlägt da so auf sie ein, /Dass sie jetzt so durch und durch erkaltet? / So helfet ihnen doch! Und tut es in Bälde! Aber welchen Krieg hatten die Menschen jetzt hinter sich?

Ich habe gesehen, wie sie ertrunken sind, hat Osarobo neulich gesagt. Hat am Klavier gesessen, die Hände noch auf den Knien, und den Kopf geschüttelt, als wolle und könne er es nicht glauben. Meinte er diejenigen seiner Freunde, die bei seiner eigenen Überfahrt gestorben waren, quälte ihn die Erinnerung? Nein, er hatte nur einen Fernsehbericht über ein aktuelles Schiffsunglück gesehen. Nur. Hatte Ertrinkende gesehen und in den Ertrinkenden sich selbst erkannt, seine Freunde und die, die neben ihm gesessen hatten.

Vor etwa einhundert Jahren hatte der junge Revolutionär Eugen Leviné in seiner letzten Rede vor Gericht, unmittelbar vor seiner Erschießung, sich und seine kommunistischen Genossen als Tote auf Urlaub bezeichnet. Den Unterschied zwischen den Flüchtlingen, die heutzutage auf dem Meer irgendwo zwischen Afrika und Europa ertrinken, und denen, die nicht ertrinken, macht allein der Zufall. In diesem Sinne ist auch jeder von den afrikanischen Flüchtlingen hier, denkt Richard, gleichzeitig ein Lebendiger und ein Toter.

Am Vormittag, bevor er nach Spandau gefahren ist, hat Richard das Grab seiner Eltern mit Tannengrün zugedeckt, so wie er das jedes Jahr am Sonntag vor dem ersten Advent macht. Die Besuche auf dem Friedhof gehörten schon, als er ein Kind war, für seine Mutter und ihn zum Alltag, nur sein Vater kam niemals mit. Als Richard ein Kind war, half er der Mutter, den Sandweg vor dem Grab der Großeltern schön zu harken, später, als er schon kräftiger war, holte er ihr die Gießkannen voll Wasser vom Friedhofsbrunnen oder trug Säcke mit Blumenerde von der Friedhofsblumenhandlung zur Grabstelle A XIV/0058. Im Frühling pflanzte seine Mutter Stiefmütterchen an, im Sommer Begonien, im Herbst schnitt sie die trockenen Blüten ab, und am Totensonntag wurde das Weihnachtsgesteck aufgelegt. Irgendwann ruhte dann auch ihr Mann, Richards Vater, dort unter der Erde, und noch ein paar Jahre später sie selbst. Nun stutzt Richard allein die Buxbaumhecke rings um den Hügel, mit derselben Schere, die schon seine Mutter dafür gebraucht hat, harkt mit derselben kleinen eisernen Harke, die er als Kind schon in der Hand gehalten hat, noch immer denselben Sand vor dem Grab, zieht kurz vor dem Winter die verdorrten Blumen samt Wurzelwerk aus der Erde und legt am Totensonntag für seine Eltern das Weihnachtsgesteck auf. Er weiß, dass seine Mutter lieber Ewigkeitssonntag dazu gesagt hat, manchmal auch Tag des Jüngsten Gerichts. Als Kind hat er sich deswegen immer vor diesem Tag gefürchtet, weil er glaubte, in irgendeinem November irgendeines Jahres käme die Reihe bestimmt auch an ihn — für die ewige Prüfung. Mit seiner Mutter saß er in der Kirche und hörte, während die Glocken geläutet wurden, wie der Pfarrer die Namen der gestorbenen Gemeindemitglieder vorlas, auch sein Name hätte jederzeit darunter sein können, er saß mit all den anderen schweigend da, bis das Läuten verklungen war: Lauschen wir dem Verhallen der Glocken, das uns alle daran erinnert, dass auch unser Fleisch eines Tages zu Staub wird.

Tannengrün am letzten Sonntag vor dem Advent, und eine Kerze auf dem Grab anzünden, die der Wind irgendwann auslöscht, und dann Winterruhe, ein paar Wochen später ist nur noch der Buxbaum grün unter dem Schnee — all das genauso seit bald sechzig Jahren. Einen Grabplatz zu haben, in dem drei Generationen ruhen, ist, wenn man so will, auch ein Luxus, aber der Gedanke ist Richard erst in den letzten Wochen gekommen. Die längste Zeit seines Lebens hat er im hintersten Winkel seiner Seele gehofft, dass die Menschen aus Afrika weniger um ihre Toten trauern, weil das Sterben dort schon seit jeher so massenhaft auftritt. Jetzt saß in diesem hintersten Winkel seiner Seele stattdessen die Scham darüber, dass er es sich die längste Zeit seines Lebens so leicht gemacht hat.

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