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Für die Vorweihnachtszeit haben in der ganzen Stadt die Geschäfte schon vor Wochen ihre Tannenbäume aus dem Magazin geholt und an die Stellen gestellt, wo sie auch im letzten Jahr standen, fertig präpariert mit Kugeln und Bändern. Überall sieht man Kränze, Lichterketten und Pyramiden, die sich elektrisch drehen. Wenn Richard bei sich zu Hause ein Bier aus dem Keller holt, liest er das Wort Vorweihnachtszeit in der Handschrift seiner Frau auf den zwei, drei Kartons, die im Regal unten stehen.

Richard borgt Rufu, dem Mond von Wismar, den Dante, Band 1.

Ithembas Fischsuppe schmeckt ebenfalls sehr gut. I’m a little bit fine.

So kommt der erste Advent.

Raschid begleitet Richard nach jedem Besuch zum Ausgang, als sei er bei sich zu Hause, einmal treffen sie dort auf eine kurzhaarige Frau, Raschid begrüßt sie mit Handschlag, Abgeordnete sei sie, sagt er zu Richard — und zu ihr, Richard sei ein Supporter. Die Beamten in der Ausländerbehörde hätten Anweisung von ganz oben, sagt die Abgeordnete zu Richard halblaut auf Deutsch, die Entscheidungen über die Einzelfälle mit aller Härte zu fällen. Sie mache sich Sorgen. Richard fragt sich, ob sie das auch Raschid sagen wird. Aber vielleicht ist es ja auch nur ein Gerücht.

Zu Apoll sagt Richard: Du weißt, von der Lage in Libyen einmal ganz abgesehen, gehörst du in deiner Heimat, in Niger, als Tuareg einer verfolgten Minderheit an — sag das, wenn du dein Interview hast. Wenn ich mein Interview habe, erzähle ich meine Geschichte. Ja, sagt Richard, aber du kannst doch die Rebellion erwähnen. Ich erzähle meine Geschichte, so wie sie war. Verstehe, sagt Richard. Wenn ich gehen muss, kann ich gehen, sagt Apoll. Ich habe keine Familie zu ernähren. Ich bin frei: Ich habe in Italien schon einmal sechs Monate auf der Straße gelebt.

Richard denkt, dass er das Wort Freiheit in Deutschland schon oft in ganz anderen Zusammenhängen gehört hat.

Es kommt der zweite Advent.

Es nieselt.

Ich hätte niemals gedacht, dass Ziegenfleisch wirklich so gut schmeckt, sagt Richard, wieder vor einem sehr vollen Teller sitzend, zu Ithemba, dem Koch.

Der oder jener begrüßt Richard jetzt schon auf Deutsch: Guten Tag, wie geht es? Und Richard sagt: Gut.

Tristan bittet Richard, für ihn seinen Anwalt anzurufen und nachzufragen, wie es um seinen Fall steht. Richard ruft den Anwalt an und der sagt:

Der Mann ist doch über Italien gekommen.

Ja, sagt Richard.

Nunja, sagt der Anwalt, das ist ein Problem.

Ich weiß, sagt Richard.

Und geboren ist er in Ghana.

Ja, sagt Richard.

Ghana gilt als sicheres Land, das macht es nicht besser.

Aber, sagt Richard, aufgewachsen ist er in Libyen.

Das fällt in diesem Fall leider nicht ins Gewicht, sagt der Anwalt. Verfahrensfehler der zuständigen Behörden geben ihm noch einen gewissen Aufschub, aber danach wird es voraussichtlich schwierig.

Khalil, dessen Eltern erweißnichtwo sind, hat, weil er noch nicht so gut schreiben kann, die Stationen seiner Flucht in ein Notizbuch gezeichnet. Richard sieht ein Boot, das wie eine sehr dünne Mondsichel aussieht, darunter viel Wasser.

Ein anderer Flüchtling, Zani, es ist der Ältere mit dem kaputten Auge, der bei Richards erstem Besuch auf dem Oranienplatz auf der Lehne der deutschen Parkbank saß, Zani zeigt Richard Kopien von Zeitungsartikeln: Massacre liest Richard beim Blättern, Massacre, Massacre. Das war in meiner Heimatstadt, sagt Zani, deswegen bin ich nach Libyen geflohen, es war nicht leicht, die Artikel hier zu bekommen, aber in dem Interview brauche ich doch einen Beweis.

Richard weiß die ganze Adventszeit über, dass das Abkommen Dublin II nur die Zuständigkeit regelt, aber er sagt nichts.

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