Für den nächsten Tag hat Richard sich vorgenommen, Raschid und Ithemba noch einmal zu suchen. Der Sicherheitsdienst kennt ihn nun schon und lässt ihn allein hinaufgehen. Der Billardtisch ohne Kugeln, das geschwungene Treppengeländer, im ersten Stock noch immer kein Wasser.
Gerade als er im zweiten Stock die lindgrüne Tür mit der 2017 erreicht und anklopfen will, fliegt sie mit einem Krach vor ihm auf und ein rasender Raschid stürmt blindlings, hinter sich drei, vier andre, an ihm vorbei Richtung Treppe. Von dort hört Richard jetzt ein unverständliches Rufen mehrerer Stimmen und rasche, stampfende Schritte treppauf- und abwärts. Das Türblatt schwingt noch in den Angeln, im Zimmer ist niemand, so geht Richard der wilden Jagd ins Treppenhaus nach, nach oben sind sie gelaufen und kommen gerade wieder herunter. Gerade hat er noch Zeit, in den Flur auszuweichen. Unheilvoll ist es, dem Olympier entgegenzutreten. Schon einmal hat er mich, als ich helfen wollte, am Fuß gepackt und von der himmlischen Schwelle hinabgeworfen. Einen ganzen Tag flog ich, und erst als die Sonne unterging, fiel ich nieder in Lemnos, und nur noch wenig Leben war in mir. Raschid poltert, ohne Richard auch nur zu bemerken, die Treppe hinunter, ihm folgen inzwischen nun schon zehn oder zwölf jüngere Männer, einer von ihnen Apoll, dessen Locken aufgrund der heftigen Bewegung auf und ab springen, als gelte es ein großes Vergnügen. Das Neonlicht im Treppenhaus ist wieder ins Flackern geraten, der lindgrüne Dämmer deshalb nur momentweise erhellt von zuckenden Blitzen. Was ist eigentlich oben im dritten Stock, wo Richard noch nie war, da unter dem Dach? Er steigt aufwärts und findet sich dort, wo die Treppe zu Ende ist, vor einer weiteren offenen Tür mit noch in den Angeln auspendelndem Türblatt: dahinter ein großer Raum, in dem sitzen um einen runden Tisch drei, vier Gestalten. Bis auf das Gurgeln einer Kaffeemaschine ist es ganz still. Als Richard näher tritt, sieht er, dass eine von den Sitzenden die ältere Dame ist, die ihn anfangs immer zu den Männern begleitet hat. Offenbar ist hier das Büro der vom Senat eingesetzten Betreuer. Mitten im Raum liegt ein Stuhl mit verbogenen Beinen, um den geht er herum, dann schüttelt er Hände. Niemand fragt ihn, warum er hier ist, die ältere Dame hat vielleicht von ihm erzählt. Nunja, sagt er, da ist wohl irgendetwas im Gange, die anderen nicken, dann werd ich mal wieder, sagt er und grüßt. Beim Hinausgehen versucht er, den Stuhl aufzuheben, aber weil das eine Bein rechtwinklig abgeknickt ist, fällt der Stuhl gleich wieder um. Sich entschuldigend für diesen missglückten Versuch, Ordnung zu schaffen, wendet er sich noch einmal zu der schweigenden Gruppe, einer von den Betreuern schlürft nun wieder seinen Kaffee, war das Raschid? fragt Richard und zeigt auf den Stuhl, die anderen nicken. Das Licht im Treppenhaus hat sich inzwischen beruhigt, der Blitzeschleuderer ist nirgends mehr zu sehen oder zu hören.
Unten beim Ausgang telefoniert der eine vom Sicherheitsdienst, den anderen fragt Richard, was eigentlich los sei, und erfährt, dass die Männer wohl morgen umziehen sollen, und zwar in ein Heim, das mitten im Wald liegt, siebeneinhalb Kilometer entfernt von Buckow.
Von Buckow? Und morgen?
Ich hab keine Ahnung, ich bin hier nur der Sicherheitsdienst.
Nach Buckow braucht Richard, selbst mit dem Auto, mindestens eine Stunde, und nur, wenn kein Stau ist. Aber das geht doch nicht, sagt er, der vom Sicherheitsdienst zuckt mit den Schultern.
Heute Nachmittag 14 Uhr machen sie eine Versammlung, hier ist der Zettel. Auch vom Senat kommt vielleicht jemand.
Eigentlich wollte Richard heute einkaufen gehen, aber jetzt ist er zu aufgebracht, um an den Einkauf zu denken. Die Leute, die solche Beschlüsse verkünden, wissen wohl nicht, was es heißt, ernsthaft zu recherchieren. Eben erst hat er begonnen, seine Gespräche mit den Männern zu führen, da wirft man ihm gleich wieder Steine in den Weg. Auch an der Uni gab es solche Beamte, die glaubten, dass es wichtiger sei, die Reisebelege zu stempeln, das Krankenversicherungsformular zu erneuern, die Anzahl der im Büro verbrachten Stunden in eine Liste zu schreiben — als dass man die Arbeit tun konnte, für die man ursprünglich bestellt war: Zum Beispiel zu untersuchen, ob es Zahlenverhältnisse gab, die für die Schönheit eines Verses ebenso wichtig waren wie für die Stabilität eines Schneckengehäuses. Oder in Erfahrung zu bringen, wo in der Literatur der Augusteischen Zeit Jesus in Erscheinung trat als letzter griechischer Gott. Sicher, man konnte das Passwort für die dienstliche Email-Adresse zum achten Mal ändern, aber man konnte auch danach fragen, wie sich das, was ein Autor selbst nicht von sich wusste, in seinen Text einschrieb. Und wer überhaupt war in diesen Passagen der Sprecher?
Deshalb macht Richard sich, obgleich sein Bedarf an Versammlungen, die seine Lebenszeit schlucken, seit langem gedeckt ist, um zwanzig vor zwei auf den Weg zu dieser vermaledeiten Versammlung.
Der Unterrichtssaal ist schon bis auf den letzten Platz besetzt, viele Männer sitzen, die Knie eingezwängt, an den zu kleinen Tischen, am Rand stehen Betreuer und Leute vom Sicherheitsdienst, die Diskussion wird gerade eröffnet. Weil der schmächtige, blondgescheitelte Herr vom Senat, der vorn steht, weder Englisch, noch Französisch, noch Italienisch noch gar Arabisch sprechen kann, folgt eine ähnliche Übersetzungsprozedur wie diejenige, der Richard vor einiger Zeit in der besetzten Schule beigewohnt hat. Aber wir können froh sein, dass vom Senat überhaupt einer da ist, raunt ihm einer von den Männern zu, die er heute Mittag am stummen Betreuertisch hat sitzen sehen. In blondgescheiteltem Deutsch ist jetzt zu vernehmen: Wir haben volles Verständnis für Ihre Lage! Sie haben viel beigetragen zur friedlichen Lösung der unhaltbaren Situation auf dem Oranienplatz! Und andere, ähnliche Sätze. Der Beamte sieht nicht so aus, als sei er sehr glücklich über seine Entsendung zu diesen Dahergelaufenen, die immer nur Forderungen haben und nie zufrieden sein können. Wahrscheinlich hat er, gemessen an anderen Mitgliedern der Senatsverwaltung, eine recht niedrige Stellung oder wird durch diesen Auftrag auf die Probe gestellt. Fast könnte er Richard leidtun. Aber was wollen die denn auch schon wieder, Querulanten, denen der Senat, ohne rechtlich dazu gezwungen zu sein, bis zur Klärung der einzelnen Fälle immerhin 300 Euro pro Monat bezahlt, denen die Stadt, für eine gewisse Zeit zumindest, Monatskarten schenkt und auf zwölf halben Stellen Betreuer für Gänge zu Ärzten und Behörden?
Das Heim bei Buckow ist, das verspreche ich Ihnen, sagt der Mann vom Senat, eine gute Lösung für alle. Sie sind nicht die einzigen hier in Berlin und Umgebung, die eine Unterkunft suchen, und wenn Sie als Gruppe zusammenbleiben wollen, gibt es da keine so große Auswahl.
Wir wollen sichtbar bleiben, solange für das Problem insgesamt keine politische Lösung gefunden ist, sagt Raschid, der Blitzeschleuderer von heute Vormittag, und erhebt sich. Was sollen wir denn im Wald? Wozu gibt es das Abkommen mit dem Senat? Noch kein einziger Punkt dieses Papiers wurde von Ihrer Seite bis jetzt erfüllt, sagt er.
Die Bestie ist angeschossen, der Schuss kostet 300 Euro pro Mann und Monat plus Ticket und Betreuer, aber sie ist noch immer gefährlich, man kann nicht wissen, ob sie nicht doch noch Kraft hat und ein weiteres Mal auf einen losgeht, dann vielleicht sogar unberechenbarer ist als zuvor.
Das alles geht nicht von einem Tag auf den andern, sagt der Mann vom Senat und überlegt, wie er sich in Sicherheit bringen könnte, falls das verwundete Biest doch zum Sprung ansetzen sollte.
Ein zweiter meldet sich: Ich habe gehört, es sind von dem Lager dort fünf Kilometer bis zur nächsten Bushaltestelle.
Zeit zu gewinnen ist gut, dann fließt das Blut aus der Wunde einfach weiter still vor sich hin, das schwächt den Gegner.
Ein dritter: Und dann — von einem Tag auf den andern!
Ein vierter: Wir brauchen Duschen, die abschließbar sind, alles andere verstößt gegen unsre Gesetze.
Sie zuckt noch, die Bestie, aber das sind nur die Reflexe.
Ein fünfter: Mehr als vier Leute in einem Zimmer sind inakzeptabel!
Der Mann vom Senat wartet, bis alle die Aussagen und Fragen für ihn übersetzt sind, dann sagt er: Ich verstehe Sie gut, ich werde mir das alles notieren.
Wenn du ein Fremder bist, hast du keine Wahl mehr, hat Tristan gesagt. Hat er etwa Unrecht gehabt? Nein, denkt Richard, aber das Wünschen behauptet, dass so einer noch in der Art von Welt lebt, in der gewünscht werden darf. Wünschen als Heimweh. Kein Wunder, denkt er, dass die halbverhungerten Kriegsgefangenen aller möglichen Nationalitäten in allen möglichen Lagern aller möglichen Kriege sich am Leben hielten durch das Reden über Rezepte. In Wahrheit wollen die Flüchtlinge vom Senat weder ein Vier-Bett-Zimmer, noch eine Dusche mit abschließbaren Kabinen, noch einen kurzen Fußweg zwischen Asyl-Unterkunft und Bushaltestelle. In Wahrheit wollen sie vom Senat überhaupt nichts. In Wahrheit wollen sie auf Arbeitssuche gehen und sich ihr Leben selbst organisieren, so wie jeder, der bei Kräften und bei Verstand ist. Diejenigen aber, die dieses Gebiet bewohnen, erst seit ungefähr 150 Jahren heißt es Deutschland, verteidigen ihr Revier mit Paragraphen, mit der Wunderwaffe der Zeit hacken sie auf die Ankömmlinge ein, stechen ihnen mit Tagen und Wochen die Augen aus, wälzen die Monate über sie hin, und wenn sie dann noch immer nicht still sind, geben sie ihnen, vielleicht, drei Töpfe in verschiedenen Größen, einen Satz Bettwäsche und ein Papier, auf dem Fiktionsbescheinigung steht.
Stammeskämpfe, könnte man auch dazu sagen.
Zu Hause liegen in einem hölzernen Kästchen im Bücherregal noch Richards alter Ausweis und seine alte Versicherungskarte. 1990 war er plötzlich, von einem Tag auf den andern, Bürger eines anderen Landes gewesen, nur der Blick aus dem Fenster war noch derselbe. Die beiden Schwäne, die er so gut kannte, schwammen an diesem Tag, von dem an er ein sogenannter Bundesbürger war, genauso von links nach rechts wie am Tag davor, als er noch Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hatte genannt werden können, ein paar Enten saßen genauso wie am Tag davor auf der Ecke des Stegs, dieses Stegs, für dessen Bau er sich damals Schwellen von der Deutschen Reichsbahn besorgt hatte. Die Deutsche Reichsbahn wiederum hatte ihren faschistischen Namen auch in der sozialistischen Republik behalten müssen, es ging da wohl um Besitzübernahme und Formalitäten. Machte es einen Unterschied, wie etwas hieß? Als Richard im Zusammenhang mit der Asylproblematik das erste Mal das Wort Fiktionsbescheinigung im Internet gelesen hatte, hatte er zunächst geglaubt, es handle sich um einen Begriff aus der Welt der Literatur, Belletristik hieß ja auf Englisch fiction, aber dass den Autoren unter den Flüchtlingen eine solche Bescheinigung ausgestellt würde, damit sie auf dem internationalen Buchmarkt leichter Fuß fassen könnten, war ihm dann doch wenig wahrscheinlich erschienen. Wie er bald verstand, handelte es sich nur um eine Bestätigung dafür, dass ein Mensch, der noch nicht das Recht besaß, sich Flüchtling zu nennen, vorhanden war. Rechte gründeten sich auf eine solche Fiktionsbescheinigung nicht.
Noch immer ist im Streit der beiden Parteien, des blondgescheitelten Senatsvertreters und Raschids als Sprecher der andern, keine Lösung in Sicht, die Diskussion steckt im Hin-und-Her-Übersetzen fest, da tritt plötzlich der Leiter des Heims auf, quasi als reitender Bote: Soeben habe er die Nachricht erhalten, dass es im Haus zwei Fälle von Windpocken gebe. Damit erübrige sich die heutige Diskussion, denn der Umzug in ein anderes Heim müsse, so schreibe das Gesetz es vor, für die Dauer der Inkubationszeit ausgesetzt werden. Die Afrikaner wissen nicht, was Windpocken sind. Unruhe macht sich breit. Schafft der Senat sie sich nun durch die Ansteckung mit einer teuflischen Krankheit vom Hals? Der Blondgescheitelte seinerseits fragt sich, ob die Nachricht überhaupt wahr ist, oder ob der Leiter des Heims mit den Schwarzen gemeinsame Sache macht und ihnen nur helfen will, Zeit zu gewinnen. Der Leiter des Heims wiederum sieht durch den Ausbruch der Krankheit nun wirklich den Beginn seiner Umbauarbeiten gefährdet und fragt sich, wie es sein kann, dass erwachsene Menschen plötzlich aus heiterem Himmel eine Kinderkrankheit bekommen.
Als Schüler hatte Richard in den fünfziger Jahren beim Absammeln der Kartoffelkäfer von den Feldern mithelfen müssen, behauptet wurde vom DDR-Landwirtschaftsministerium, die Amerikaner versuchten, durch den Abwurf der Käfer Sabotage zu üben. In langen Reihen waren die Kinder, mit einem Einweckglas in der Hand, über die Felder gegangen, um jede einzelne Pflanze zu kontrollieren und die Käfer in Essig zu werfen. Später erst hat er erfahren, dass schon in der Nazizeit nicht nur Schüler, sondern auch SA-Leute und sogar Soldaten eingesetzt worden waren, um die krabbelnde amerikanische Wunderwaffe mit den gelben und schwarzen Streifen zu vernichten. Hatten also die Amerikaner mit dem Abwurf der Käfer erst gegen die Faschisten und dann gleich weiter gegen die Antifaschisten gekämpft? Oder entschied so ein Heer aus Käfern einfach irgendwann selbst, was ihm schmeckte? Aus der Sicht der Käfer sah so ein Kartoffelfeld um 1941 sicher ebenso grün aus wie ein Kartoffelfeld ’53. Nach dem Mauerfall dann, bei Richards erster Dienstreise nach London, hatte ihm ein älterer englischer Kollege abends beim Whiskey erzählt, dass er in seiner Schulzeit wiederum die englischen Felder habe abschreiten müssen, um die Kartoffelkäfer, die während des Zweiten Weltkriegs angeblich von Deutschland als Waffe zur biologischen Kriegsführung eingesetzt worden seien, zu bekämpfen. Deutschland habe sogar Experimente in Bezug auf die verheerende Wirkung der Käfer gemacht, hatte dieser englische Germanistikprofessor behauptet, und gegen Ende des Krieges Tausende Exemplare der Schädlinge über der Pfalz, also über dem eigenen Land! zu Testzwecken abgeworfen. Anyway, I love the German language, hatte er zum Abschluss seiner Geschichte gesagt und einen tüchtigen Schluck Whiskey genommen, und nur wegen dieses kryptischen Fazits war Richard das Gespräch überhaupt im Gedächtnis geblieben.
Bei den Windpocken jedenfalls, soviel ist sicher, handelt es sich um eine Virusinfektion, die, wenn sie unter Erwachsenen ausbricht, über zwei Wochen lang ansteckend sein kann. Der Umzug findet morgen nicht statt, und so bleibt Zeit, nach einem andern, geeigneteren Quartier für die Flüchtlinge zu suchen. Auf dem Weg nach draußen spricht Richard den Blitzeschleuderer an, der sich nun wieder beruhigt hat, und fragt ihn, ob sie sich morgen nicht treffen wollen für das erste Gespräch. No problem, sagt der, und es scheint wirklich so, dass er sich nicht daran erinnert, den Professor heute Vormittag gesehen zu haben, als er vor Zorn schnaubend aus seinem Zimmer herausfuhr.