7 Männern gibt die Kirche eine Anderthalb-Zimmer-Wohnung im Norden Berlins, die ein Gemeindemitglied für wohltätige Zwecke vererbt hat. Im größeren Raum legen sie ihnen 7 Matratzen auf die Erde, der kleinere Raum ist für Rucksäcke, Taschen und Tüten. Weil die Wohnung im Erdgeschoss ist, sollen sie, so sagen die Kirchenleute, die Rollos besser nicht hochziehen, damit niemand von außen sehen kann, wer da wohnt, denn man weiß nie.
15 Männer vermittelt die Kirche auf ein Schiff, das im Sommer ein Ausflugsdampfer ist, im Winter liegt es am Spreeufer bei Treptow. Einige bekommen dort Zweierkabinen, die anderen können in gespendeten Doppelstockbetten im Gemeinschaftsraum schlafen, in dem auch gekocht und gegessen werden soll. Das Heizen auf so einem Ausflugsdampfer ist allerdings schwierig.
11 Männer dürfen die Notunterkunft einer Stiftung in Berlin-Mitte beziehen: einen großen Raum mit Küche und Esstisch in der Mitte, ringsherum eine Matratze neben der andern.
12 kommen in einen Gemeindesaal in Berlin-Kreuzberg.
16 in einen Gemeindesaal in Berlin-Adlershof, aber höchstens bis März.
14 werden privat bei Pfarrern und Gemeindemitgliedern aufgenommen. Im Internet werden Pfarrer und Helfer als Pack und Schlepper beschimpft.
27 kommen bei afrikanischen Freunden, die legal in Berlin leben, unter.
1 Mann darf in einem nigerianischen Restaurant in Berlin-Neukölln auf dem Fußboden übernachten.
1 auf dem Sofa einer Versicherungsberaterin.
1 im WG-Zimmer eines Studenten, der ein halbes Semester in Cambridge studiert.
1 in der Wohnung eines Regisseurs, der gerade auf Gastspielreise ist.
Der oder jener sagt, als er um Hilfe gefragt wird: Diese Männer sind doch, hört man, traumatisiert — weiß man da, ob die uns nicht die Einrichtung zerschlagen?
Sagt: Auch wenn wir ihnen helfen — das Problem insgesamt wäre damit ja nicht gelöst.
Sagt: Wir täten den Männern, wenn wir sie aufnehmen würden, sicher keinen Gefallen, denn hier in der Nachbarschaft sind zu viele Nazis.
Sagt: Selbst wenn sie bei uns übernachten könnten, wovon sollten sie leben?
Sagt: Für eine gewisse Zeit würden wir es schon machen, aber es ist ja kein Ende dieses Zustands in Sicht.
Sagt: Einer könnte vielleicht hier wohnen, aber das lohnt sich ja nicht — es gibt doch so viele von denen.
Die Berliner insgesamt, vertreten vom Innensenator, sagen, was sie schon vor zwei Jahren gesagt haben, als die Männer aus Italien nach Deutschland gekommen sind, um in Zelten auf dem Oranienplatz zu wohnen, und was sie auch vor einem halben Jahr gesagt haben, als die Männer den Platz räumten: Wozu gibt es das Gesetz Dublin II, das die Zuständigkeit regelt? Sagen, es steht uns frei, den § 23 anzuwenden, aber eben weil es uns freisteht, wenden wir ihn nicht an.
Nur 12 Ausnahmen von den insgesamt 476 Fällen werden gemacht, darunter sind 3 von Richards Freunden:
Tristan bekommt aufgrund eines Attests seiner Psychologin eine Duldung für sechs Monate und hat damit Anspruch auf einen Heimplatz. Und weil Heimplätze rar sind, kann er froh sein, als einziger schwarzhäutiger Mensch in ein Obdachlosenheim in Berlin-Lichtenberg eingewiesen zu werden, eine ehemalige Schule, wo er das Zimmer mit zwei deutschen Alkoholikern und die Toilette mit dreißig anderen teilt. It’s not easy, sagt er, it’s not easy. 3 Betten, 1 Tisch, 1 Schrank, 1 Fernseher. Richard sieht die zwei Drittel vom Tisch, die Tristans beiden Zimmergenossen gehören: voll mit Essensresten, Flaschen und Krümeln, und sieht das eine Drittel vom Tisch, das Tristans Parzelle ist: leer und sauber gewischt. Er ist mein Kumpel, sagt der eine Zimmergenosse und haut Tristan auf die Schulter. Yes, yes, sagt Tristan, he’s my friend. Nur nachts, sagt er, ist es schwierig. Es gibt viel Geschrei, und die Leute streiten und kämpfen sogar miteinander. Beim Hinausgehen sieht Richard eine Kiepe mit Berliner Pfannkuchen beim Pförtner stehen. Die Obdachlosen sollen es auch ein bisschen lustig haben zu Faschingsbeginn. Aber Tristan weiß nicht, was ein Berliner Pfannkuchen ist, soviel Zucker! sagt er und zeigt auf den Zuckerguss. Und dann sagt er zum Abschied, wie immer take care zu Richard, und geht zurück in seine ihm aufgrund einer schweren Traumatisierung zugewiesene Unterkunft, die verzweifelte, süchtige, wahnsinnige und sehr arme Deutsche mit ihm teilen.
Der lange Ithemba verbringt einige Tage in der Psychiatrie, wo er immer wieder sagt, man solle ihn umgehend nach Afrika zurückbringen. Er bekommt aufgrund eines Attests seines Psychiaters eine Duldung für vier Wochen, die vielleicht, aber das könne man im vorhinein nicht versprechen, noch einige Male verlängert werden wird. Er wird für das Schiff eingeteilt. No good people, sagt er über die, mit denen er dort zusammenleben muss. Und das Klo funktioniert nicht richtig, sagt er. Es stinkt.
Der Blitzeschleuderer bekommt aufgrund seiner Herzkrankheit und seiner schlechten psychischen Konstitution eine Duldung für sechs Monate und ein Zimmer in einem Wohnheim der Arbeiterwohlfahrt.
Zusammen mit Sylvia und Detlef hat Richard den großen runden Tisch in der Bibliothek an den Rand geschoben. 4 Männer können jetzt dort auf dem weinroten Perserteppich schlafen. Im Musikzimmer kann einer unter dem Flügel schlafen, einer daneben: 2 Plätze. Zwei Luftmatratzen hat Richard noch im Schuppen gefunden, für die anderen Männer hat er einige Decken übereinander auf den Boden gelegt. 2 Mann kommen über Eck aufs Wohnzimmersofa, 1 anderer auf zwei zusammengeschobene Sessel. Aus dem Schlafzimmer trägt Richard mit Apoll und Ithemba das Bett seiner Frau hinüber ins Gästezimmer: 3 Plätze.
Detlef und Sylvia sagen, ihr Gästehaus habe ja einen kleinen Ofen, also wenn das die Männer nicht störe, dass man das Feuer immer in Gang halten muss? Es stört die 3 Billardspieler nicht im geringsten.
Die Exfrau von Detlef mit dem Teeladen in Potsdam sagt: Nachts ist der Teeladen ja nicht auf, da ist es mir vollkommen egal, wenn im Hinterzimmer einer schläft. Tagsüber darf er halt nicht andauernd raus und rein. Ihr Mann sagt, aber dann verlierst du vielleicht dein Gewerbe. Irgendwann einmal, sagt die Exfrau von Detlef, stand die Todesstrafe darauf, wenn man Menschen versteckte. Der Mann sagt, da hast du auch wieder recht. Also zieht Hermes, der mit den goldenen Schuhen, im Potsdamer Teeladen ein.
Dass Ali zu Anne zieht, versteht sich schon beinahe von selbst: Er fühlt sich bei uns ja zu Haus. Und wenn er seinen Freund Yussuf mitbringt, macht das den Kohl nun auch nicht mehr fett.
Und sogar der Hölderlinleser sagt: Also, ich hab keinen Platz in meinem Zimmer, aber tagsüber kann gern einer kommen und meinen Computer benutzen.
Thomas, der Wirtschaftsprofessor sagt, 3 könnten in unsre Ein-Zimmer-Wohnung im Prenzlauer Berg ziehen, wo wir eh nie übernachten, meiner Frau sag ich’s später.
Der Archäologe hat seit Februar eine Gastprofessur in Ägypten, die dauert bis Mai, er sagt zu Richard: Der Schlüssel ist bei den Nachbarn.
Marie, seine zwanzigjährige Freundin, sagt: Ach, wenn bei uns in der WG auf dem Küchensofa so einer schlafen würde, das wär sicher witzig.
Nur — Monika und den schnurrbärtigen Jörg zu fragen, auf diese Idee kommt irgendwie keiner.
Von 476 haben auf diese Weise 147 einen Schlafplatz bekommen.
Wo die übrigen 329 geblieben sind, bringt Richard nicht in Erfahrung.
Die Kirche zahlt den Männern in ihren Quartieren von Spenden 5 Euro pro Tag und pro Mann, aber um zum Beispiel nach Italien zu fahren, wenn der permesso abgelaufen ist, reicht das Geld nicht. Wollte auch Richard den Männern, die bei ihm wohnen, diese 5 Euro pro Tag zum Leben geben, bräuchte er 1800 Euro im Monat.
Einer der Männer kann bei einer Freundin putzen, der andere da oder dort auf dem Bau ein paar Wände anstreichen. Der dritte für eine alte Nachbarin den Schnee aus der Einfahrt wegschaufeln, der vierte Holzhacken helfen. Aber meistens, wenn Richard jemanden fragt, heißt es: Ohne Papiere? Das können wir leider nicht machen. Bei den öffentlichen Filmvorführungen mit anschließendem afrikanischen Essen, die er mit Andreas und Detlefs Exfrau einmal pro Woche im Potsdamer Teeladen veranstaltet, um freiwillige Spenden zu sammeln, geben die Besucher, die 1 Film gesehen, 1 Essen gegessen und dazu Cola, Bier oder Wein getrunken haben, oft nicht mehr als 5 Euro. Bei 15 Besuchern macht das 75 Euro. Rechnet man davon die Kosten für den Einkauf der Getränke und von Reis, Couscous, Gemüse, Rinder- und Lammfleisch ab, bleiben für Ithemba und seinen jeweiligen Gehilfen pro Mann oft nicht mehr als 10 oder 15 Euro.
Thomas hilft Richard schließlich dabei, ein Spendenkonto zu eröffnen, du weißt, das Geldwäsche-Gesetz ist ein Problem, sagt er, wenn du nicht nachweisen kannst, wohin das Geld geht, jaja, sagt Richard, ich weiß. Richard sagt von da an dem oder jenem: Ich habe ein Spendenkonto eröffnet. Die meisten geben zur Antwort: Aha, interessant. Manche fragen: Stellst du eine Spendenquittung aus? Richard sagt, nein. Die allerwenigsten überweisen, ohne die Spende von ihrer Steuer absetzen zu können, Geld auf das Konto. Aber es gibt auch Ausnahmen, und was zusammenkommt, ist besser als gar nichts.
Das einzige, was der Senat für die Männer, die von jetzt an eigentlich überhaupt nicht mehr da sein dürften, noch immer bezahlt, ist der Deutschunterricht. Vor knapp fünf Monaten, als sie im Altersheim untergebracht waren, haben die Männer begonnen:
Gehen, ging, gegangen.
Vor vier Monaten sind sie nach Spandau umzogen, haben in der Zeit der Einzelfallgespräche etliche Unterrichtsstunden versäumt und dann wieder von vorn begonnen: Gehen, ging, gegangen.
Als ihre Freunde aufs Dach gestiegen sind, vor ungefähr einem Monat, standen sie mit Blick aufs Dach neben der Feuertonne, statt den Deutschunterricht zu besuchen, und haben danach, weil sie fast alles wieder vergessen hatten, noch einmal von vorn anfangen: Gehen, ging, gegangen.
Nun machen sich nur noch wenige von ihnen aus dem jeweiligen Matratzenquartier zweimal pro Woche auf den Weg zur Sprachschule und lernen erneut: Gehen, ging, gegangen.
Rufu sitzt an Richards Biedermeiersekretär vor seinem aufgeschlagenen Heft und sagt: Ich gehen.
Richard schaut ihm über die Schulter und korrigiert: Das heißt: Ich gehe.
Rufu: Ich gehen.
Richard: Nein, ich gehe!
Rufu: Ich will die deutschen Verben zerbrechen.
Zerbrechen, sagt Richard, ist aber ein sehr schönes Verb.
In der Bibliothek hat Richard Rufu einquartiert und dazu den Sänger Abdusalam, der schon auf der ersten Liste gestanden hat und nun froh ist, aus dem nigerianischen Restaurant zu Richard umziehen zu dürfen. Außerdem Yaya, der hier nicht befürchten muss, dass ein Alarm losgeht, und dessen Freund Moussa mit der blauen Tätowierung im Gesicht.
Khalil, der noch immer nicht weiß, ob seine Eltern noch leben, sein Freund Mohamed, der seine Hose gern tief trägt, und der lange Ithemba, den Richard vom stinkenden Schiffsquartier herübergeholt und als Koch für alle verpflichtet hat, wohnen im Gästezimmer.
Im Musikzimmer schlafen Apoll und Karon, auf dem Sofa im Wohnzimmer Zair, der damals mit Raschid auf einem Boot war und für den Einzug bei Richard wieder sein bestes Hemd angezogen hat, und Tristan — Richard hat in ungefähr 25 Telefonaten mit dem Sozialamt erreicht, dass sein Haus als Heimunterkunft anerkannt wird, und so konnte Tristan das Obdachlosenheim verlassen und zu ihm übersiedeln. Auf den zwei zusammengeschobenen Sesseln schließlich schläft Zani, der oft in der Mappe mit den Kopien über das Massaker in seiner Heimatstadt blättert.
Wenn es keine Gelegenheitsarbeit gibt und auch kein Meeting, schlafen die Afrikaner lange, und bleiben auch tagsüber, wenn sie schon wach sind, auf ihren Matratzen liegen und dösen, spielen mit ihren Handys oder sehen auf den zwei alten Computern, die Richard ihnen gegeben hat, Videos im Internet an. Manchmal beten sie, manchmal fahren sie in die Stadt, um ihre Freunde zu treffen. Wenn Ithemba gefragt wird, wie es ihm geht, sagt er: A little bit good. Einmal nehmen Khalil und Mohamed Richard in einen Club mit, in dem sechzigjährige Frauen in kurzen Hosen mit zwanzigjährigen schwarzen Männern tanzen. Einmal nimmt Karon Richard zu einer Totenfeier für einen Berliner ghanaischer Abstammung mit. Karon muss als Flüchtling und Nicht-Familienmitglied in der letzten Reihe sitzen.
Es kann sein, sagt er, dass die Leute, die hier aufwachsen, bald nicht mehr wissen, was culture ist. Kultur?
Das gute Benehmen.
Und sonst? Am Abend kommen alle in Richards Küche wieder zusammen, wenn das Essen, das Ithemba gekocht hat, auf dem Tisch steht. Mit 50 Euro für den Einkauf der Lebensmittel komme er für eine Woche über die Runden, hat er gesagt und sich für Richards Kostgeld bedankt. Richard hat anfangs immer als einziger einen Teller und Messer und Gabel bekommen, während die anderen um den Küchentisch herum standen und gemeinsam von einem Kuchenblech aßen. Inzwischen macht er es so wie sie: reißt sich von dem Reismehl- oder Yamteig, der von Ithemba auf dem Kuchenblech angerichtet wird, ein Stück ab und tunkt es in die soup, eine Gemüse-Sauce, manchmal mit Fleisch, manchmal mit Fisch, die nicht viel anders schmeckt als das Gulasch seiner Mutter, und vielleicht sogar besser. Wenn von der soup etwas übrig bleibt, kann man auch mit der Hand den letzten Rest schöpfen. Hat er schon jemals mit den Händen Suppe gegessen?
Nach dem Essen setzt sich Abdusalam mit ein paar andern manchmal nach draußen auf die kühle Terrasse und fängt an zu singen. Durch die brandenburgische Nacht klingt dann zum Beispiel das Lied von denen, die ausgewandert sind in die Fremde, es heißt» Aburokiye Abrabo «und geht so:
Mutter, oh Mutter, dein Sohn
hat eine furchtbare Reise gemacht.
Ich bin am anderen Ufer gestrandet.
Dunkel umgibt mich.
Niemand weiß, was ich in der Einsamkeit
aushalten muss.
Eine Mission, die keinen Erfolg hat, ist eine Schande.
Wie soll ich so jemals zurückkehren?
Wenn du versagst, wird kein Kind nach dir benannt.
Dann ist es besser zu sterben,
als sich für immer zu schämen.
Geister unserer Ahnen,
Götter unserer Ahnen,
wacht über unsere Brüder in der Fremde.
Schenkt ihnen eine glückliche Heimkehr.
Wer in Europa lebt, versteht ihre Klagen.