Nachts geht er pinkeln und kann danach nicht mehr schlafen, so wie in den letzten Monaten manchmal. Im Dunkeln liegt er dann da, und schaut seinen Gedanken dabei zu, wie sie auf Abwege geraten. Er denkt an den Mann, der unten im See liegt, ganz am Grund, wo der See selbst im Sommer noch kalt ist. An sein leeres Büro. An die junge Frau mit dem Mikro. Früher, als er noch durchschlafen konnte, hat die Nacht sich wie eine Pause angefühlt. Aber jetzt schon seit längerem nicht mehr. Alles geht immer weiter und hört auch im Dunkeln nicht auf.
Am nächsten Tag mäht er den Rasen, dann isst er Erbseneintopf zum Mittag, dann spült er die Dose aus und macht sich einen Kaffee. Er nimmt eine Kopfschmerztablette. Schmopfkerzen. Mit seiner Geliebten hat er früher Witze gemacht und die Worte verdreht. Oder die Tippfehler gesprochen. Aus alt wurde auf diese Weise atl, aus kurz kruz und so weiter. Warum hat er die Männer nicht gesehen? We become visible. Von wegen.
Er zieht die Prosaübersetzung der» Odyssee «aus dem Regal und liest sein Lieblingskapitel, das elfte.
Später fährt er zum Landkaufhaus und bringt das Messer vom Rasenmäher zum Schleifen.
Abends macht er sich Brote, dazu Salat. Er ruft seinen Freund Peter an, den Archäologen, der erzählt ihm davon, wie ein Bagger am Rand der Grabung plötzlich eine moderne Statue auf der Schaufel gehabt hat. Aus der Nazi-Ausstellung» Entartete Kunst«, sagt er. Stell dir das vor. Da ist im Bombenkrieg vielleicht ein Büro der Reichskulturkammer eingestürzt und der Giftschrank, sozusagen, ins Mittelalter gefallen. Richard sagt, das ist wirklich unglaublich, und der Freund sagt, die Erde ist voller Wunder. Richard denkt, aber das sagt er nicht, dass die Erde eher wie eine Müllhalde ist, die verschiedenen Zeiten fallen im Dunkeln, den Mund mit Erde gefüllt, übereinander her, die eine begattet die andre, ohne fruchtbar zu sein, und der Fortschritt besteht immer wieder nur darin, dass die, die auf dieser Erde herumgehen, von alldem nichts wissen.
Am nächsten Tag regnet es, deshalb bleibt er zu Hause und räumt endlich einmal den Stapel mit den alten Tageszeitungen auf.
Er macht einige Überweisungen per Telefon, dann schreibt er eine Einkaufsliste für später.
1 Kilo Zwiebeln
2x Salat
½ Weißbrot
½ Schwarzbrot
1 Butter
Käse, Wurst?
3x Eintopf (Erbsen oder Linsen)
Nudeln
Tomaten
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16-er Schrauben
Bootslack
2 Haken
Nach dem Mittagessen legt er sich hin, für zwanzig Minuten. Die Decke aus echtem Kamelhaar, mit der er sich zudeckt, hat ihm seine Frau vor Jahren zu Weihnachten geschenkt.
Um mit dem Auspacken der Kartons im Keller zu beginnen, wartet er lieber einen helleren Tag ab.
Die Studentin, deren Manuskript über die» Bedeutungsebenen in den Metamorphosen von Ovid «er eingepackt hat, hatte manchmal hinter den Händen versteckt sein Seminar verschlafen. Aber die Arbeit, die sie geschrieben hatte, war trotzdem in Ordnung gewesen.
Nachmittags nieselt es nur noch ein wenig, er steigt in sein Auto und fährt in den Supermarkt, Kaufhalle hieß das früher, morgen ist Sonntag, er darf nichts vergessen, fährt dann noch ins Landkaufhaus, wegen der übrigen Dinge. Im Landkaufhaus riecht es nach Dünger, Holzspänen und Farbe, Maden zum Angeln gibt es da auch, Taucherbrillen, und Eier, frisch aus dem Dorf.
Taucherbrillen.
Abends, in den Nachrichten aus Stadt und Region, wird eine kurze Meldung gebracht: Die hungerstreikenden Flüchtlinge vom Alexanderplatz seien heute abtransportiert worden. Der Streik sei beendet.
Schade, denkt er. Die Idee, sichtbar zu werden, indem man öffentlich nicht sagt, wer man ist, hatte ihm gefallen. Odysseus hatte sich Niemand genannt, um aus der Höhle des Zyklopen zu entweichen. Wer hat dir das Auge ausgestochen? fragten den blinden Zyklopen von draußen die anderen Riesen. Niemand, brüllt der Zyklop. Wer schlägt dich? Niemand! Odysseus, der Niemand, dessen sich selbst aufhebenden falschen Namen der Riese herausschreit, klammert sich an den Bauch einer Ziege und entwischt so unentdeckt aus der Höhle des menschenfressenden Ungeheuers.
Das Schild mit der Aufschrift We become visible steckte wahrscheinlich jetzt in einem Papierkorb oder lag, wenn es zu groß für den Papierkorb war, nass vom Regen, am Boden.