Nun kommen die ersten wärmeren Tage, und es wird Zeit, das Bruchholz von den Herbst- und Winterstürmen des letzten Jahres zu verbrennen. Seit dem Tod seiner Frau hat Richard seinen Geburtstag nie mehr gefeiert. Aber nun hat er im afrikanischen Supermarkt Wedding Kalbs- und Lammbratwürste gekauft und macht selbst den Kartoffelsalat — wie man die Zwiebeln am besten klein schneidet, weiß er ja seit einiger Zeit. Auch Ithemba steht mit Tristan und Yaya in der Küche, die anderen haben am Vortag schon Couscous, Fladenbrot und einen großen Sack Reis eingekauft. Raschid ist natürlich geladen, und Andreas, der Hölderlinleser, Thomas, der Wirtschaftsexperte, und Marie, die Freundin von Peter, der selbst leider noch immer in Kairo ist. Eingeladen sind selbstverständlich auch Marion, die Exfrau von Detlef, mit Hermes, Anne mit Ali und Yussuf, Detlef und Sylvia mit ihren drei Billardspielern. Hat irgendwer vielleicht die Nummer der äthiopischen Sprachlehrerin? Richard schämt sich, einen der Männer danach zu fragen. Osarobo hat vor einigen Tagen plötzlich aus heiterem Himmel: Hi! How are you? geschrieben, sein Profilbild: ein Küchentisch mit vier leeren Stühlen. Sollte er nach Italien abreisen wollen, ohne dass Richard mit ihm hätte klären können, was nun in Wahrheit passiert war? Fine — how are you?, hatte er deshalb schnell zurück geschrieben, aber darauf nur die Antwort erhalten: Ich bin gut. Das konnte nun alles mögliche heißen.
Würden sich manche Spuren einfach verlieren?
Erst jetzt fällt Richard auf, dass sein Blick auf den See sich mit der Erinnerung daran, dass in diesem See letzten Sommer ein Mensch gestorben ist, unauflöslich verbunden hat. Der See wird für immer der See bleiben, in dem jemand gestorben ist, und dennoch für immer auch ein sehr schöner See sein: über dem an den Morgen Nebel steht, durch dessen Wasser im Frühling ein Entenpaar mit ein paar Küken seine Bahn zieht, in dem das frische Schilf Jahr für Jahr die braungewordenen Halme verdrängt, ein See, an dessen Ufer Libellen schlüpfen, an dessen sandigem Grund Muscheln liegen, ein See mit Algen, zwischen denen die Fische spazierenschwimmen, als sei das Grünzeug ein Wald, ein in der Sonne gleißender See, in Gewittern schwärzlicher See, und Winter für Winter ein gefrorener, manchmal verschneiter See, der dann so weiß ist wie ein Blatt Papier. Vielleicht wird Richard im Sommer wieder hier schwimmen, auf jeden Fall wird er, so wie in den vergangenen zwanzig Jahren, am Ufer sitzen und glücklich sein, das Wasser zu sehen. Raschid hat Richard in einem der Gespräche gesagt, nicht einmal die Erinnerung an das schöne Leben mit seiner Familie sei ihm ein Trost, weil diese Erinnerung nur mit dem Schmerz über den Verlust verbunden sei, und nichts außerdem da sei. Am liebsten würde er die Erinnerung von sich abschneiden, hatte Raschid gesagt. Cut. Cut. Ein Leben, in dem eine leere Gegenwart besetzt ist von einer Erinnerung, die man nicht aushält, und dessen Zukunft sich nicht zeigen will, muss sehr anstrengend sein, denkt Richard, denn da ist, wenn man so will, nirgends ein Ufer.
Richard deckt den Kartoffelsalat mit einer Folie ab und bringt ihn nach draußen.
Bevor die Gäste eintreffen, gibt es noch viel zu tun: Moussa mäht Rasen, Mohamed und Khalil rechen Blätter zusammen, Karon fegt die Terrasse, Rufu stellt zusammen mit Abdusalam die schwere Bank auf den Steg, Richard holt, während der fertige Kartoffelsalat kühlgestellt ist, mit Apoll die Gartenmöbel aus der Garage, die Spinnennetze und vertrockneten Blätter des letzten Sommers müssen von den Tischen und Bänken abgefegt, Abdeckfolien ausgeschüttelt und zusammengefaltet werden. Fackeln, die Richard in der hintersten Ecke des Schuppens gefunden hat, steckt er in die Erde, er hat sie noch mit seiner Frau zusammen eingekauft, ist aber nach ihrem Tod nie mehr dazu gekommen, sie zu verwenden. Das Gartenwasser wird zum ersten Mal in diesem Jahr wieder angestellt, damit das Lagerfeuer notfalls gelöscht werden kann, wo sind die Anschlüsse für den Schlauch? Und der Schlauchwagen hat eine Schraube verloren, vom Grill ist mit der Metallbürste der Rost abzuputzen, Geschirr, Besteck, Mülltüten müssen zum Feuerplatz hinuntergebracht werden, die Getränke werden im See, der erst seit einigen Tagen vollkommen eisfrei ist, kaltgestellt. Sind genug Servietten da? Ketchup und Kerzen? Brot, Chips, Salzstangen und Obst? Karon fegt noch den Steg. Richard füllt Spiritus in die Laternen und stellt sie auf die Tische, da kommen die ersten Gäste schon durch den Garten.
Und nun wird das Feuer entzündet und der Grill angeworfen, wie das im Jargon der Vorstadtbewohner heißt, ja, sagt Richard zu dem oder jenem, das Fleisch ist halal, denn er weiß inzwischen: Verboten ist euch das von selbst Verendete, sowie Blut und Schweinefleisch; das Erdrosselte; das zu Tode Geschlagene; das zu Tode Gestürzte oder Gestoßene und das, was reißende Tiere angefressen haben.
Es wird gegessen und getrunken, es werden Servietten verteilt und Gläser, zwei spielen Federball, einige Boule, hier gibt es ein Gespräch darüber, dass keiner von den afrikanischen Männern Alkohol trinkt, da gibt es ein Gespräch über die Angst vor dem Schwimmen, und dort eins darüber, was man an Ostern eigentlich feiert und was an Pfingsten. Als es zu dämmern beginnt, und Richard die Spirituslaternen anzündet, ruft Raschid: Wie in Afrika! Er nimmt eine Laterne und schwenkt sie begeistert. Ein Gruppenfoto! ruft daraufhin Anne, die Fotografin. Bevor es ganz dunkel ist! Und nun hockt sich Raschid mit der Laterne in der Hand vor die großen Eiben, alle anderen bilden um ihn einen Kreis, der Blitzeschleuderer hält die Bootslaterne aus dem deutschen Baumarkt in der Hand, beleuchtet damit die schwarzen und weißen Gesichter rings um ihn her und fühlt sich ganz wie zu Hause: im fernen Kaduna. Erst jetzt, während Richard sich kurz umdreht, um das Arrangement für das Gruppenfoto zu überprüfen, fällt ihm auf, dass Sylvia nicht neben Detlef steht. Wo ist sie überhaupt? Er hat sie, merkt er erst jetzt, bei dem Fest hier noch gar nicht gesehen. Und Detlef? Richard sieht, dass es Detlef nicht einmal für das Gruppenfoto gelingt zu lächeln.
Nach dem Foto setzen sich alle noch einmal zum Feuer, das schon beinahe ganz heruntergebrannt ist. Der eine sagt: Nachts wird es doch kühl, der andere: Ich borg dir meine Jacke, der dritte: Gibt es noch Wein? Der vierte: Ich leg noch ein bisschen Holz nach. Richard hat sich nach dem Gruppenfoto zu Detlef gesetzt und fragt ihn leise inmitten des allgemeinen Gemurmels: Was ist denn mit Sylvia? Detlef schaut dem, der gerade Holz nachlegt, dabei zu, wie der das Holz in die Glut schiebt, und antwortet Richard erst, als die Flamme wieder höher auflodert: Sie hatte heute ihre Untersuchung. Und? Sie haben sie gleich dabehalten, sagt er, es sieht nicht gut aus. Und obwohl er das ganz leise gesagt hat und auf Deutsch, tritt plötzlich Stille ein, als wüsste jeder, dass da eben einer der ganz schweren Sätze im Leben eines Menschen gesagt worden ist.
Um Gottes willen, sagt Richard.
Was ist denn? fragt Raschid.
Seine Frau ist sehr krank, sagt Richard.
I’m very sorry for you, sagt Raschid zu Detlef.
Danke, sagt Detlef und stochert im Feuer.
Ein Mann denkt jetzt daran, wie die Frau ihn immer auf die Augen geküsst hat.
Ein Mann denkt daran, wie die Frau so gut in seine Umarmung gepasst hat.
Ein Mann denkt daran, wie die Frau ihm mit der Hand durchs Haar gefahren ist.
Ein Mann denkt daran, wie gut ihr Atem roch, wenn sie dicht bei ihm war.
Ein Mann denkt daran, wie die Frau ihm ihre Zunge ins Ohr gesteckt hat.
Ein Mann denkt daran, wie der Körper der Frau geglänzt hat, wenn sie sich zu ihm gelegt hat.
Ein Mann denkt daran, wie sich die Lippen der Frau angefühlt haben.
Ein Mann denkt daran, wie die Frau aussah, wenn sie schlief.
Ein Mann denkt daran, wie die Frau seine Hand festgehalten hat.
Ein Mann denkt daran, wie die Frau manchmal gelächelt hat.
Alle miteinander denken einen Moment lang an Frauen, die sie geliebt haben und von denen sie einmal geliebt worden sind.
Von Italien aus habe ich die Frau, die ich in Ghana nicht heiraten durfte, noch zweimal angerufen, sagt Karon, aber dann habe ich ihre Nummer weggeworfen.
Ich hätte so gern noch einmal ein Kind, bevor ich sterben muss, sagt Raschid.
Einmal, sagt Tristan, habe ich in der U-Bahn eine deutsche Frau kennengelernt. Wir haben uns verabredet, sind spazieren gegangen, haben miteinander geredet. Haben uns ein zweites Mal verabredet, sind spazieren gegangen, haben miteinander geredet. Beim dritten Mal hat sie mich gefragt, ob ich nicht mit ihr schlafen wolle. Ich habe ihr gesagt, jetzt noch nicht, vielleicht später. My mind was not there. Zur nächsten Verabredung ist sie nicht mehr gekommen. It’s not easy, sagt Tristan. Not easy.
Wenn es ernst wird, sagt Khalil, haben wir hier keine Chance. Ich hab es an meinen Freunden gesehen. Irgendwann haben die Freundinnen immer Schluss gemacht. Die Eltern waren dagegen. Oder es gab dann doch einen deutschen Freund.
Ithemba sagt: Ja, es ist so. Nobody loves a refugee.
Niemand liebt einen Flüchtling? Das glaube ich nicht, sagt Marie.
Doch. Niemand liebt einen Flüchtling.
Detlef sitzt vornübergebeugt da, mit einem Weinglas in der Hand, und hört zu, was die anderen über die Liebe sagen.
Apoll sagt: Ich habe eine Freundin. Aber heiraten würde ich sie nicht.
Marion fragt: Warum nicht?
Wenn ich jetzt eine deutsche Frau heirate, denkt sie, ich heirate nur, um Papiere zu bekommen.
Du würdest wirklich eine Frau, die dich liebt und die du liebst, nicht heiraten, weil es so aussehen könnte, als tätest du es nur, um Papiere zu bekommen?
Ja, sagt Apoll.
An Grenzen verkehren sich manchmal Dinge in ihr Gegenteil, erinnert sich Richard an das, was er bei seinem ersten Besuch auf dem Oranienplatz gedacht hat. Die Bedürftigkeit verschiebt und entstellt sogar das Wenige, das einfach sein könnte. Würde zu bewahren, ist eine Anstrengung, die den Flüchtlingen täglich auferlegt wird und sie bis in ihre Betten hinein verfolgt.
Und wenn du es tätest, um Papiere zu bekommen, was wäre daran so schlimm? fragt Richard.
Er hat noch im Ohr, was der Anwalt gesagt hat: Ein deutsches Kind! Ein deutsches Kind wäre das einzige, was wirklich hilft!
Schau einmal, sagt Apoll: Es muss eine Ordnung geben. Erst muss ich Arbeit haben, dann eine Wohnung, dann kann ich heiraten und dann Kinder bekommen.
Außerdem, sagt jetzt Tristan, eine Frau kann von irgend jemandem schwanger werden, und auch, wenn der Mann nichts taugt, bleibt das Kind doch bei ihr. Aber wenn du ein Mann bist, musst du eine gute Frau finden. Eine Frau, mit der du, wenn sie ein Kind von dir bekommt, wirklich zusammenbleiben kannst. Aber wo treffe ich eine gute Frau?
Beim Tanzen vielleicht, sagt Richard halbherzig, denn er denkt an seinen Ausflug in die Bar mit den sechzigjährigen Kurzbehosten.
Ich gehe in keine Bar, sagt Tristan.
Niemals?
Niemals.
Raschid, der, als das Gespräch so ruhig dahinging, kurz eingeschlafen ist, hört nun wieder zu und sagt jetzt: In Nigeria suchen die Mütter ihrem Sohn die Frau aus. Sie wissen, welche eine gute Frau ist. Aber hier? Ich weiß gar nicht, wie man eine Frau ansprechen soll. Ich würde das niemals tun.
Denkst du eigentlich noch oft an Christel? fragt Detlef jetzt plötzlich, fünf Jahre nach Christels Tod, seinen Freund Richard. Noch nie haben sie über diese Dinge gesprochen.
Aber ja, sagt Richard.
Und was denkst du dann genau?
Wie sie dastand, wenn sie geraucht hat. Wie sie, wenn es heiß war, ihre Haare mit einer Haarklammer hochgesteckt hat. Ich denke an ihre Füße.
Vermisst du sie?
Früher habe ich manchmal gedacht, ich würde sie, wenn sie fort wäre, vielleicht gar nicht vermissen.
Richard versucht, sich an die Zeit zu erinnern, als er für möglich gehalten hat, Christel nicht zu vermissen.
Du weißt ja, abends hat sie oft angefangen, mit mir zu streiten, obwohl es gar keinen Grund gab.
Warum hat sie mit dir gestritten? fragt Tristan.
Sie hat getrunken. Und der Alkohol hat sie, besonders gegen Abend zu, immer vollkommen verändert.
Aber warum hat sie getrunken? fragt nun Ithemba.
Wahrscheinlich, ja, sagt Richard, wahrscheinlich, weil sie unglücklich war.
Und warum war sie unglücklich? fragt Ithemba.
Das Orchester, in dem sie gespielt hat, ist aufgelöst worden, sagt Thomas und zieht an seiner Zigarette.
Und Richard hat eine Geliebte gehabt, sagt Anne.
Sie wollte gern Kinder, sagt Marion.
Hat sie dir das erzählt? fragt Richard.
Ja, sagt Marion.
Aber du hast doch gesagt, ihr habt das gemeinsam so entschieden, fragt nun Zair, der sich offenbar an das schon so lang zurückliegende Gespräch damals in Spandau erinnert.
Sie ist einmal schwanger gewesen, sagt Richard, aber mir war das damals zu früh. Ich war noch nicht einmal fertig mit dem Studium. Ich habe sie überredet, das Kind wegmachen zu lassen.
Verstehe, sagt Zair.
Ich wollte es nur in dem Moment nicht.
Verstehe.
Aber es war damals noch nicht legal. Sie ist zu so einer Frau gegangen. Die hat das auf dem Küchentisch gemacht. Ich hab auf dem Hof unten gewartet.
Richard erinnert sich noch gut an den Hinterhof, in dem er gewartet hat. 30 Grad, der heiße Schatten, in dem er stand, neben sich Mülltonnen aus Blech mit krummen Deckeln.
Als sie rauskam, sagt er, ist sie beinahe hingefallen, ich musste sie halten, und sie war auf einmal so schwer. Es hat gedauert, bis wir bei der S-Bahn-Station ankamen. Und in der S-Bahn erst hab ich gesehen, wie das Blut an ihren Beinen hinunterlief. Ich hab mich damals für sie geschämt. Ich musste mich um sie kümmern, aber es war mir furchtbar peinlich.
Richard schüttelt den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, was er da sagt.
Warum hast du dich für deine Frau geschämt? fragt Ali.
Ich glaube, dass es mir eigentlich Angst gemacht hat.
Angst wovor?
Dass sie stirbt. Ja, sagt Richard, ich habe sie in dem Moment dafür gehasst, dass sie vielleicht stirbt.
Das kann ich verstehen, sagt Detlef.
Damals, glaube ich, sagt Richard, ist mir klargeworden, dass das, was ich aushalte, nur die Oberfläche von all dem ist, was ich nicht aushalte.
So wie auf dem Meer? fragt Khalil.
Ja, im Prinzip genauso wie auf dem Meer.