SECHS

Carolin, da ist eine Frau für dich am Telefon.«

Luisa läuft mit dem Hörer durch die Wohnung und sucht mein Frauchen. Das ist im Bad und hört anscheinend nichts.

»Caaarooo, da ist eine Frau !«

Die Tür vom Badezimmer zum Flur wird geöffnet, Carolin schaut hinaus. »Ich komme gerade aus der Dusche und tropfe alles nass. Notierst du dir mal den Namen und die Nummer ? Ich rufe zurück.«

»Sie sagt aber, es sei dringend.«

»Na gut.«

Caro streckt die Hand aus und nimmt den Hörer entgegen, ich nutze die Gelegenheit und trabe ins Bad.

Caro murmelt »einen Moment bitte!« in den Hörer, drückt einmal kurz auf die Tasten und stellt den Apparat ins Regal vor sich. Dann schnappt sie sich ein Handtuch, um sich abzutrocknen.

»So, kann losgehen, ich kann Sie hören. Ich hoffe, Sie mich auch.«

Interessant. Wen meint Caro denn damit? In diesem Moment kommt eine laute Stimme aus dem Hörer im Regal.

»Hallo, Frau Neumann, Langhagen hier. Ich kann Sie ebenfalls gut hören.«

Faszinierend. Man kann also mit dem Hörer auch telefonieren, wenn man ihn sich nicht direkt an den Kopf hält. Das ist mal wieder eine tolle menschliche Erfindung – Donnerwetter! Wäre eigentlich besonders gut geeignet für Hunde und andere Vierbeiner – schließlich können wir so einen Hörer sehr schlecht in der Pfote halten und ans Ohr drücken. Gebannt starre ich den Apparat an. Ich kenne die Stimme zwar nicht, die aus dem Hörer schallt, aber der Name Langhagen kommt mir bekannt vor.

»Hallo, Frau Langhagen, es geht um Henris Eingewöhnung nächste Woche, stimmt’s?.«

Langhagen und Henri ? Das muss dann ja wohl die Tagesmutter sein. Wie die wohl so klingt, die zweite Mutter ? So ähnlich wie Carolin ? Neugierig hefte ich mich an Caros Bein und lausche nach der Stimme, die aus dem Telefonhörer kommt.

»Ja, hallo, Frau Neumann. Gut, dass Sie gleich zurückrufen.«

Die Stimme hört sich anders an als die von Carolin, trotzdem sehr nett. Warm und weich. Allerdings klingt sie irgendwie auch nach schlechten Nachrichten. Tatsächlich höre ich der menschlichen Stimme sofort an, ob sie etwas Schönes oder etwas Trauriges zu erzählen hat.

»Also, das ist mir jetzt äußerst unangenehm, aber ich fürchte, ich muss die Betreuung für Henri absagen.«

Oh. Das sind wohl wirklich keine guten Nachrichten. Denn selbst für meine Dackelohren nimmt sich das wie eine drastische Planänderung aus, und solche Änderungen kommen beim Menschen meistens nicht so gut an. Caro sagt erst mal nichts. Dafür fängt Frau Langhagen nach einer kurzen Pause wieder an.

»Ja, ich weiß, das ist jetzt wahrscheinlich ein Schock für Sie – aber wissen Sie, mein Mann hat ein sehr attraktives Angebot aus Norwegen. Er ist Arzt und hier schon lange nicht mehr glücklich. Ich könnte dort auch sofort wieder als Hebamme arbeiten. Wir haben lange mit uns gerungen – aber es ist nun mal so: jetzt oder nie. Irgendwann sind wir sonst zu alt. Nächsten Monat geht es schon los.«

Caro sagt nur Aha. Sonst sagt sie nichts. Dafür redet Frau Tagesmutter umso mehr. Es sprudelt geradezu aus ihr heraus.

»Ich weiß, dass das jetzt sehr kurzfristig ist, aber so eine Chance bekommt man nicht alle Tage, und wegen dieser Jobgeschichte meines Mannes hatten wir schon einige schlaflose Nächte. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie schlimm das hier in Deutschland als Krankenhausarzt ist. Immer dieser Stress, die viele Verantwortung. Mein Mann hat ja mittlerweile gar nichts mehr von unseren eigenen Kindern. Immer morgens so früh raus und abends erst spät heim. Und dann die langen Dienste. Aber in Skandinavien, da ist das alles anders. Da zählt die Familie noch was und die Work-Life-Balance, da werden …«

Caro greift ins Regal und schnappt sich den Hörer. Klick. Möööööhhhhh. Jetzt hat sie wohl aufgelegt.

Erstaunt blicke ich zu ihr hoch. Das ist etwas Neues. So beendet Carolin Telefonate eigentlich nie. Ob ihr die Geschichte zu aufregend war ? Norwegen. Skandinavien. Work-Life-Balance. Ich muss zugeben, dass ich fast nichts verstanden habe. Das war aber auch nicht nötig. Denn der Stimme konnte man es genau anhören: Hier hatte jemand ein verdammt schlechtes Gewissen. Und wollte es sich von der Seele reden. Aber obwohl Carolin sonst ein ungemein mitfühlender Mensch ist: Gerade jetzt sieht sie überhaupt nicht so aus, als ob ihr das pure Mitgefühl die Sprache verschlagen hätte. Eher so, als habe sie sich urplötzlich und überraschend eine böse Krankheit zugezogen. Sie ist ganz blass um die Nase, und ihre Unterlippe zittert. Jaul ! Ob man sich per Telefon bei anderen Menschen anstecken kann ? Möglicherweise mit Skandinavien oder Norwegen ?

Jetzt schüttelt sich Carolin kurz, greift nach ihrer Wäsche, die auch im Regal liegt, und zieht sich in Sekundenschnelle an. Wow – die hat es aber eilig. Dann geht sie aus dem Bad und klopft an Luisas Tür. Die öffnet.

»Ja ?«
»Sag mal, ich muss kurz runter in die Praxis. Henri schläft noch. Kümmerst du dich um ihn, falls er wach wird ?«

Luisa, ganz gewissenhafte große Schwester, nickt.

»Geht klar. Aber in einer halben Stunde muss ich weg. Bin mit Hanna im Kino verabredet.«

Was will Caro denn in der Praxis ? Soll ihr Marc vielleicht eine Spritze geben ? Immerhin kennt er sich als Tierarzt auch ein bisschen mit menschlichen Erkrankungen aus. Jedenfalls hat er meinen Freund Willi mal gerettet, als der im Park plötzlich umgekippt ist. Und als Henri zur Welt kam, wusste er auch, was zu tun ist. Ist ja auch kein Wunder. Zwei- und Vierbeiner sind sich eben doch ähnlicher, als Menschen wahrhaben wollen. Ich beschließe, mich mit Caro in die Praxis runterzumogeln. Zusammen mit Luisa auf den schlafenden Henri aufzupassen ist mir definitiv zu langweilig.

Carolin ist noch so sehr neben der Spur, dass sie mich gar nicht bemerkt, als ich einfach hinter ihr herlaufe. Sie klingelt kurz an der Praxistür im Erdgeschoss unter unserer Wohnung, der Summer geht, und schon sind wir drin. Ein wildes Geruchswirrwarr von verschiedensten Tieren schlägt mir entgegen. Mindestens zwei andere Hunde, eine Katze und ein Kaninchen erkenne ich sofort. Das ist doch mal deutlich spannender als Penn-Nase Henri ! Ich will gerade ins Wartezimmer durchlaufen, da werde ich entdeckt. Und zwar nicht von Caro, sondern von Frau Warnke, Marcs Helferin.

»Oh, hallo, Frau Neumann ! Und hallo, Herkules ! Stimmt was nicht mit dem Superdackel ?«

Carolin schaut verwirrt.

»Was ? Äh, ach, ist der etwa mitgekommen ? Mensch, Herkules, was soll denn das ? Das passt mir gerade gar nicht, ich muss mal in Ruhe mit Herrchen sprechen !«

Frau Warnke beugt sich zu mir hinunter.

»Soll ich so lange auf ihn aufpassen ?«

Caro schüttelt den Kopf.

»Ist schon okay. Ich nehme ihn dann doch mit rein zu Marc, wenn der Zeit hat.«

»Er ist bestimmt gleich frei.«

Tatsächlich geht keine zwei Minuten später die Tür zu Marcs Behandlungszimmer auf, und ein Junge mit einer Transportbox unter dem Arm kommt uns entgegen. Riecht nach Meerschweinchen. Stehen meiner Meinung nach auf der Liste der langweiligsten Tiere überhaupt ganz oben. Vielleicht sogar noch vor Wellensittichen.

»So, Max, und wenn du noch mal versuchst, deinen Kumpels die Krallen zu schneiden, dann nimmst du bitte die Zange, die ich dir jetzt mitgebe, und lässt dir von einem Erwachsenen helfen. Und ganz wichtig: Der schwarze Strich, den du sehen kannst, ist die Ader. So hoch darfst du auf keinen Fall schneiden, klar ?«

Der Junge nickt.

»Gut. Dann grüße deine Eltern von mir.«

Der Junge zockelt ab, Carolin begrüßt Marc, der ihr erstaunt die Tür aufhält.

»Oh, waren wir verabredet ?«

»Nein, aber ich muss dringend mit dir sprechen.«

»Lass mich raten«, fragt Marc lachend, »das Trauzimmer im Leuchtturm ist schon ausgebucht.«

Caro sagt dazu nichts, sondern geht an ihm vorbei ins Behandlungszimmer und schließt die Tür. Ich muss richtig Gas geben, damit sie meine Rute nicht einklemmt – also jetzt ist Caro aber wirklich nicht gut drauf ! Sie steuert einen der beiden Stühle an Marcs Schreibtisch an und sinkt auf ihm zusammen.

»Marc, es gibt katastrophale Neuigkeiten !«

»Okay – es geht also nicht um das Trauzimmer, nehme ich an.«

Caro schüttelt den Kopf.

»Nein, damit hat es nichts zu tun. Es ist eine echte Katastrophe. Keine gefühlte.«

Nun schaut Marc auch besorgt.

»Was ist denn bloß passiert, Spatzl ?«

»Frau Langhagen hat eben angerufen.«

»Wer war jetzt gleich noch mal Frau Langhagen ?«

»Die Tagesmutter !«

Caros Stimme klingt schrill und scharf.

Marc hebt beschwichtigend die Hände.

»Entschuldige, dass ich den Namen nicht gleich parat hatte. Okay, die Tagesmutter. Was wollte sie ?«

»Sie hat abgesagt, Marc. Sie hat einfach abgesagt. Sie wird Henri nicht nehmen. In vier Wochen beginne ich wieder zu arbeiten, und wir haben keine Kinderbetreuung !« Carolin fängt an zu weinen.

Marc legt seinen Arm um sie.

»Spatzl, ganz ruhig. Mal der Reihe nach: Die hat abgesagt ? Aber das geht doch nicht so einfach. Die kann doch nicht kurz vorher anrufen und absagen. Wir haben immerhin einen Vertrag mit der unterschrieben.«

Caro schluchzt und zuckt mit den Schultern.

»Ja, aber was hilft uns der ? Die wandert spontan nach Norwegen aus, mit ihrer ganzen Familie. Wir können sie kaum zwingen, in Hamburg zu bleiben. Selbst wenn sie die Kündigungsfrist noch einhält – was nützen denn vier Wochen ? So lange dauert doch schon die Eingewöhnung. Und dann ist sie weg.«

Das Schluchzen geht über in heftiges Tränenvergießen.

Marc stöhnt.

»Scheiße. Kann nicht einfach mal irgendetwas nach Plan laufen ? Gib mir mal die Nummer von der Alten, die ruf ich jetzt an und erzähl ihr ein paar Takte.«

Caro schluckt.

»Die Nummer gebe ich dir gleich. Aber das bringt doch sowieso nichts.«

»Wir werden sehen. Auf alle Fälle hat die dumme Kuh nach dem Telefonat mit Sicherheit so schlechte Laune wie ich gerade jetzt. Nach den nächsten drei Patienten habe ich eine kleine Lücke, dann kümmere ich mich drum, versprochen.«

Er zieht Carolin sanft zu sich hoch und schließt sie kurz in seine Arme, die wischt sich die Tränen von der Wange.

»Okay, dann bis später.«

Beim Abendessen ist die Stimmung noch gedrückt. Immerhin heult Carolin nicht mehr. Luisa hat zur allgemeinen Aufmunterung ein paar Muffins gebacken und mich heimlich einen probieren lassen. Lecker ! Meine Laune ist daraufhin schlagartig blendend – vielleicht sollte Caro einen probieren ? Aber sie betrachtet nur düster Henri, der seinen Muffin genüsslich bearbeitet, sich eine Hälfte in den Mund steckt, die andere Hälfte zerbröselt und auf seinem Pulli und seiner Hose verteilt. Schließlich kommt Marc aus der Praxis und setzt sich zu uns in die Küche.

»Und «, will Carolin wissen, »hast du mit ihr gesprochen?«

Marc nickt.

»Tja, es ist leider so, wie du sagst. Im April wandern sie aus. Sie hatte allerdings ein mörderschlechtes Gewissen und hatte sich schon bei befreundeten Tagesmüttern und Kinderkrippen nach Alternativen für uns umgehört. Hier …«, er kramt einen Zettel aus seiner Hosentasche, »… hat sie ein paar Nummern für uns notiert. Zwei davon habe ich schon angerufen, bei einer der Adressen können wir nächste Woche mal vorbeischauen. Die Purzelzwerge. Ist eine Elterninitiative. Zwölf Kinder und drei Erzieher. Wirklich niedlich. Die haben eigentlich eine meterlange Warteliste, Frau Langhagen hat aber trotzdem ein Vorstellungsgespräch für uns klargemacht.«

Carolin schnaubt.

»Ach ? Dann soll ich der jetzt wohl auch noch dankbar sein, oder wie ?«

»Nein, so meinte ich das doch nicht. Ich wollte nur sagen, dass sie sich drum gekümmert hat, weil ihr auch klar ist, wie unmöglich ihre Absage ist. Und normalerweise hätte man sich da anmelden müssen, noch bevor man überhaupt über Sex nachgedacht hat.«

»Papa !«, ruft Luisa empört. »Du bist voll peinlich !«

Marc lacht.

»Ist ja gut, Schatz – ich wollte nur einen kleinen Witz machen, damit Carolin mal wieder lacht.«

Diese lächelt daraufhin. Gequält, so sieht es jedenfalls aus der Fußbodenperspektive aus.

»Ist ja gut. Für mich ist eben heute Nachmittag eine Welt zusammengebrochen. Ich dachte, es wäre alles perfekt geregelt und Henri wäre gut versorgt. Daniel und ich haben einen Riesenauftrag an Land gezogen, ich muss spätestens in vier Wochen wieder dabei sein, er schafft das alleine nicht. Und unabhängig davon: Ich will auch wieder arbeiten. Die Zeit hier mit den Kindern ist toll, aber ich vermisse meinen Job.«

»Spatzl, das verstehe ich doch.«

»Nein, tust du eben nicht. Für dich hat sich auch kaum etwas seit der Geburt geändert. Für mich aber schon !«

»Carolin, ich widerspreche dir da gar nicht. Aber nun lass uns doch mal diese Liste abtelefonieren und nächste Woche zu den Purzelzwergen gehen. Und wenn alle Stricke reißen, haben wir ja immer noch meine Mutter. Hedwig würde sich bestimmt sehr gern um Henri kümmern.«

»Nein !« Caro springt vom Stuhl auf. »Das kommt überhaupt nicht in die Tüte ! Auf keinen Fall erzieht deine Mutter meinen Sohn ! Die mischt sich schon genug in unser Leben ein.«

Luisa und Marc starren Carolin an, zunächst sprachlos. Dann räuspert sich Marc.

»Also, bitte rede nicht so von meiner Mutter. Und schon gar nicht, wenn Luisa dabei ist.«

»Was ist denn falsch mit der Oma ?«, will Luisa auch prompt wissen.

»Und was heißt hier eigentlich dein Sohn ? Das ist unser Kind.«

Oweiowei ! Hier klingt aber jemand so richtig angefasst. Und ich kann Marc verstehen. Warum ist Carolin denn auf einmal so biestig ?

Caro sagt erst einmal nichts, sondern verlässt die Küche.

Marc schüttelt den Kopf und greift nach einem Muffin, Henri sagt etwas, das wie ein verwundertes Gangagaah klingt, Luisa guckt dafür sehr erstaunt.

»Papa, was hat Caro denn ?«

»Ich glaube, einen extrem schlechten Tag. Diese blöde Tagesmutter will Henri jetzt doch nicht nehmen.«

»Aber warum ist sie denn dann sauer auf dich ? Du hast doch gar nichts gemacht.«

Eine sehr berechtigte Frage, die ich mir auch gerade gestellt habe.

»Tja, ich glaube, sie macht sich einfach Sorgen und ist deswegen so schlecht gelaunt.«

»Heißt das, dass ihr doch nicht heiratet ?«

Marc reißt die Augen auf.

»Was ? Nein, natürlich heiraten wir. Das hat damit gar nichts zu tun. Man kann sich doch mal streiten und sich trotzdem doll lieb haben. Aber du bringst mich auf eine gute Idee: Wir sollten uns am Wochenende ein paar von den Orten anschauen, an denen wir heiraten könnten. Vielleicht verbessert das Carolins Laune.«

Luisa nickt begeistert. Das Thema Hochzeit scheint ihr sehr zu gefallen.

»Aber pst ! Nicht verraten ! Wir sollten Caro damit überraschen. Wir tun einfach so, als wollten wir einen Ausflug machen, okay ? Und dann, schwups, stehen wir auf einmal vor dem Leuchtturm, auf dem wir heiraten könnten.«

»Alles klar, Paps ! Das ist eine klasse Idee.«

Das finde ich ehrlich gesagt auch. Vorausgesetzt, ich darf mitkommen. Aber dafür werde ich schon sorgen.

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