ZWEI

Ja, wo ist denn der kleine Henri ? Da ist der kleine Henri ! Ja, wo ist denn der kleine Henri ? Daaaa ist der kleine Henri ! Ja, wo ist denn der kleine Henri ? Daaaaaaa …«

Eine gefühlte Ewigkeit geht das schon so. Oma Hedwig legt Baby Henri ein Stofftuch über das Gesicht, dann zieht sie es schnell weg. Baby Henri gluckst vor Freude, und auch Oma strahlt über das ganze Gesicht. Dass man Menschenkinder mit einem dermaßen stupiden Spiel bei Laune halten kann – unglaublich ! Jeder Hundetrainer, der sich so an einem Welpen versuchen würde, wäre gleich die Lizenz los. Aber Henri ist begeistert und jedes Mal wieder überrascht, seine Oma hinter dem Tuch zu entdecken.

Eines steht schon mal fest: Henri ist nicht die hellste Kerze auf der Torte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er bei seinen begrenzten intellektuellen Fähigkeiten jemals so einen komplizierten Menschenkram wie Lesen und Schreiben lernt. Aber auch für einfache Kommandos wie Sitz ! Platz ! oder Bring’s ! sehe ich schwarz, ich glaube, Henri hätte bei einer Gebrauchshundeprüfung keine Chance.

Der sich klar abzeichnende Schwachsinn ihres Enkels tut Hedwigs Freude trotzdem keinerlei Abbruch. Seltsam. Sonst ist sie doch immer so ehrgeizig. Mit Luisa, Henris großer Schwester, übt sie zum Beispiel gern und viel für die Schule. Wenn es dann gut klappt, ist sie furchtbar stolz auf Luisa und erzählt jedem, der es hören will, wie schlau und begabt ihre Enkeltochter ist. Weil sie es offenbar auch jedem erzählt, der es nicht hören will, bekommt sie dann manchmal sogar Ärger mit Marc. Dem ist so viel Angeberei nämlich ein bisschen peinlich. Hedwig ist das allerdings egal – kein Wunder, sie ist schließlich Marcs Mutter. Meine Mutter hätte sich von mir auch nichts sagen lassen. Von mir nicht und auch von keinem anderen Junghund. Da war sie ganz klar die Chefin des Rudels, als ältester Hund nach meinem Opili. Und genauso ist Hedwig. Eindeutig Chefin, auch wenn das den anderen überhaupt nicht passt. Insbesondere Caro rollt sehr gerne mit den Augen, wenn Hedwig allen anderen Menschen mal wieder gute Tipps zur allgemeinen Lebensführung gibt.

Interessanterweise tun sich Menschen nach meiner mittlerweile jahrelangen Beobachtung überhaupt schwer mit der Rangordnung in der Familie. Wie viel Zeit die damit verdaddeln zu klären, wer gerade recht hat und demzufolge bestimmen darf. Das ist bei uns Hunden eindeutig besser geregelt. Es gibt nur einen Häuptling, die anderen sind Indianer. Ganz einfach. Kann sich selbst der dümmste Dackel merken. Wäre insofern auch die beste Lösung für den dummen Henri. Mit allem anderen ist das kleine Kerlchen doch völlig überfordert.

Wo wir gerade bei überfordert sind: Die Sauberkeitserziehung scheint kleinen Menschen auch sehr schwerzufallen. Gerade in diesem Moment fängt Henri nämlich an, einen sehr unschönen Geruch zu verströmen. Ist es denn zu glauben ? Schon fast ein Jahr alt und immer noch nicht stubenrein. Der alte von Eschersbach wäre fuchsteufelswild geworden, wenn ich in diesem Alter noch einen Haufen in den Salon von Schloss Eschersbach gesetzt hätte. Aber auch hier genießt Henri Narrenfreiheit – im Gegenteil, Hedwig entlockt der infernalische Gestank sogar ein Lächeln. Sie beendet ihr albernes Tuch-wegzieh-Spiel und hebt Henri vom Boden hoch.

»Mein Süßili, hast du etwa Pupsi in der Windel ? Oma macht schnell wischi-wischi, dann ist alles wieder gut.«

Okay, der Fairness halber muss ich sagen, dass Henri bei so einer Ansprache auch überhaupt keine Chance auf eine angemessene Entwicklung seiner geistigen Fähigkeiten hat.

Caro, die bis eben noch damit beschäftigt war, Einkäufe in den Kühlschrank einzuräumen, kommt zu uns ins Wohnzimmer.

»Komm, Hedwig, ich wickle ihn schnell selbst.«

»Ach, meine Liebe, nun lass doch mal die Oma machen. Koch du dir doch in Ruhe einen Kaffee und entspann dich etwas.«

»Vielen Dank, aber ich bin entspannt. Ich finde es total nett, dass du heute Morgen auf Henri aufgepasst hast, aber jetzt bin ich ja wieder da – da musst du dich nicht noch mit Henris dreckigen Windeln rumschlagen.«

Täusche ich mich, oder klingt Carolin ein wenig gereizt ? Warum nur ? Es war doch wirklich nett von Hedwig, sich um den Stinker zu kümmern. Bei Beck und mir hätte sie ihn nicht parken können, für eine sachgerechte Betreuung hätte ich jedenfalls nicht garantiert. Und dann hätte sie ihn mit zum Shoppen nehmen müssen, was – unter uns gesagt – auch in die Hose hätte gehen können. Im wahrsten Sinne des Wortes: Ich war einmal bei einer solchen Tour dabei, ich weiß genau, wovon ich spreche.

Es war das nackte Grauen. Henri hatte auf einmal die Windel voll, Caro aber keine neue dabei. Erst stank das Baby nur, dann fing es an zu heulen. Und zwar ununterbrochen. Anstatt jetzt aber von Caro angefaucht zu werden, wie sie es bei mir sicherlich getan hätte (»Aus, Herkules ! ! !«), wurde Klein Henri noch getröstet. Pah ! Keine Dackelmutter würde ihre Welpen so verzärteln ! So wird man niemals ein richtiger Jagdhund. Das Ende vom Lied war, dass wir den Laden schließlich verlassen haben, ohne auch nur eine einzige Sache gekauft zu haben. Also, ohne Oma Hedwig hätte es für Caro heute bestimmt keinen entspannten Einkaufsbummel mit Nina gegeben.

Etwas Ähnliches scheint sich auch Hedwig zu denken, jedenfalls sieht ihr Gesichtsausdruck gerade sehr nach Undank ist der Welt Lohn aus. Im Deuten von menschlichen Gesichtsausdrücken bin ich inzwischen ziemlich gut, was enorm wichtig ist, da Menschen nur in den seltensten Fällen sagen, was sie wirklich meinen. Oder wirklich meinen, was sie sagen. Insofern lohnt sich das Studium der menschlichen Körpersprache und Mimik für ausnahmslos jedes Haustier, denn selbst ein Wellensittich will doch irgendwann einmal wissen, woran er bei Herrchen oder Frauchen tatsächlich ist.

»Du, ich wollte dir nur helfen. Aber wenn du lieber selbst die Windeln wechselst – bitte sehr ! Ich habe zwar selbst einen Sohn großgezogen, aber ich muss mich nicht aufdrängen. Dann gehe ich jetzt.«

Bingo. Hedwig ist beleidigt. Und Caro rollt bestimmt gerade wieder mit den Augen.

»Tut mir leid, so war das doch gar nicht gemeint. Ich freue mich doch, dass du dich so lieb um Henri kümmerst. Komm, ich setz uns jetzt beiden einen Kaffee auf, ein Rest Streuselkuchen ist auch noch da.«

Aha. Die Friedenspfeife.

»Na gut, wenn du meinst … dann bleibe ich noch ein bisschen. Aber vorher wickle ich Henri.«

Ich sag’s ja. Hedwig ist der Boss.

Caro und Marc sitzen mit einem Glas Rotwein auf dem Sofa, ich liege davor. Wobei – eigentlich liegt auch Caro. Sie hat die Beine über die eine Sofalehne geschwungen, ihr Kopf liegt auf Marcs Schoß, er wuselt mit seinen Händen durch ihre Haare. Sieht sehr gemütlich aus. Gerne würde ich mich jetzt heimlich dazwischenmogeln und mich auch kraulen lassen, aber wahrscheinlich würde Marc das sofort merken und mich runterschmeißen.

Also bleibe ich, wo ich bin, und genieße den Moment. In der Wohnung hat sich nämlich eine herrliche Stille ausgebreitet. Baby Henri schläft endlich, und seine große Schwester Luisa ist noch auf dem Ponyhof, es sind Märzferien. Das Leben kann so schön friedlich sein. Anders als Herr Beck mag ich Kinder – ehrlich ! Und unsere beiden eigenen natürlich besonders, aber manchmal sind die ganz schön laut. Wie überhaupt die meisten Menschen laut sind. Das muss irgendwie rassespezifisch sein. Ohne Geräusch läuft da fast gar nichts. Selbst Marc und Caro reden fast ununterbrochen, wenn sie zusammen sind. Umso schöner, dass auch sie jetzt schweigen – ich könnte stundenlang so mit ihnen herumliegen.

Kurz bevor mir die Äuglein zufallen, räuspert sich Caro. Okay, für stundenlanges Schweigen ist der Mensch wohl einfach nicht gemacht.

»Ich habe Nina heute übrigens gefragt, ob sie meine Trauzeugin sein mag.«

»Hm.« Marc gibt nur eine Art Grunzen von sich.

»Du findest das also doof.«

»Nö. Wieso ?«

»Weil du gar nichts dazu sagst.«

Marc lacht.

»Das ist ja nun typisch – ich sage nichts, und du hörst aus meinem Nichtssagen trotzdem etwas heraus.«

Caro rappelt sich von seinem Schoß hoch.

»Nun tu mal nicht so. Es ist die Art, wie du nichts gesagt hast. Die war ganz eindeutig.«

Jetzt lacht Marc nicht mehr, sondern seufzt.

»Okay. Wie habe ich denn bitte nichts gesagt ?«

»Na, total missbilligend. Weil du es eben doof findest, dass Nina meine Trauzeugin wird. Du magst sie nicht.«

»Stimmt doch gar nicht. Ich mag Nina. Ich habe eher das Gefühl, dass ich nicht sonderlich hoch bei ihr im Kurs stehe. Eben als der Typ, der mit ihr geflirtet, aber sich dann in ihre beste Freundin verliebt hat.«

Richtig. Genauso war es. Damals, als Nina und Caro mit mir in Marcs Tierarztpraxis auftauchten, weil er eine Zecke bei mir entfernen sollte. Erst ging Marc mit Nina aus, am Ende landete er bei uns. Begeistert war Nina darüber nicht. Sollte Caro das etwa vergessen haben ? Ich lege meine Schnauze auf die Sofakante und mustere sie.

»Das ist doch nun schon Jahre her. Ich bin mir sicher, dass du dir das einbildest. Ich meine, so toll, dass Frauen dir noch ewig hinterhertrauern, bist du nun auch wieder nicht.«

Sie lacht und knufft Marc in die Seite, der guckt belämmert.

»Wie, bin ich etwa nicht ?«

»Nee. Noch dazu, wo Nina gar nicht wissen kann, dass du der weltbeste Küsser bist, den frau garantiert nie vergisst. Oder ?«

Marc zuckt mit den Schultern.

»Hm, weiß sie das etwa nicht ? Moment, da muss ich mal überlegen … also, vielleicht weiß sie es ja doch … oder … äh …«

»Hey !« Jetzt knufft ihn Caro noch mal, allerdings deutlich fester als beim ersten Mal. »Weiß sie es doch ? Frechheit ! Ich dachte, ihr habt nie …«

Marc fängt ihre Hand ab, die wieder in Richtung seiner Rippen zielt.

»Aua ! Das war doch nur ein Spaß ! Nein, wir haben uns nie geküsst. So weit ging’s nicht.«

Caro grinst, zieht Marc zu sich herüber und küsst ihn.

»Na, dann ist ja gut. Ich bin auch wirklich sicher, dass Nina ohne bleibende Schäden über dich hinweggekommen ist. Und mit Alex ist sie doch für ihre Verhältnisse schon ziemlich lange in festen Händen.«

Marc nickt.

»Gut, dann gestehe ich hiermit aufrichtig, dass mein Schweigen vorhin in der Tat vielsagend war, aber meine Vorbehalte gleichzeitig völlig unberechtigt. Nina wird bestimmt eine tolle Trauzeugin.«

Sie küssen sich wieder. Schön, dass ihr euch da so einig seid. Ich bin hingegen noch kein Stück schlauer, was die Geschichte mit der Trauzeugin anbelangt. Was bedeutet das ? Und was hat Nina damit zu tun ? Was ein Zeuge ist, weiß ich ja. Das ist jemand, der etwas gesehen hat, worauf es ankommt, und das dann nachher anderen Menschen erzählen kann. Als Beweis für irgendetwas. Beweise sind bei Menschen nämlich sehr wichtig, mit dem einfachen Glauben haben die es oft nicht so. Das hat mir Herr Beck erklärt, der mal bei einem Anwalt gewohnt hat. Was könnte Nina gesehen haben, was nun so wichtig ist ? Es muss ja mit dem Heiraten zu tun haben, das hat Caro selbst gesagt. Also, wie war das noch ?

Beim Heiraten schwören sich zwei Menschen ewige Liebe und Treue. Liebe und Treue, Liebe und …. ha ! Ich hab’s ! Nina hat gesehen, dass sich Caro und Marc wirklich lieben ! Das hat sie schon daran gemerkt, dass Marc nicht sie, sondern Caro geküsst hat. Und genau das kann sie jetzt bezeugen. Deswegen ist sie nun natürlich die ideale Trauzeugin. Ich bin einfach ein superschlaues Kerlchen, das muss ich schon sagen. Was mir noch nicht ganz klar ist: Vor wem muss Nina das bezeugen ? Vor den ganzen Hochzeitsgästen ? Oder vor Marcs Mama Hedwig ? Darf die die Heirat sonst möglicherweise verbieten ? Oder wie oder was ?

Während ich noch darüber grüble, was das wohl alles zu bedeuten hat, steht Marc vom Sofa auf – und tritt mir dabei genau auf die Rutenspitze. Aua ! Ich jaule laut auf, Marc springt erschreckt zur Seite.

»Oh, Mann, Herkules, das tut mir leid ! Dich habe ich gar nicht hier liegen sehen. Tut’s noch weh ?«

Na, ehrlicherweise nein. Ich entscheide, dass ein bisschen mehr Jaulen trotzdem keinesfalls schaden kann.

»Armes Dackelchen ! Komm, ich schau mal in der Küche nach einem kleinen Leckerli für Wautzi.«

Guter Mann ! Normalerweise ist Marc niemand, der zum Verwöhnen von Haustieren neigt, aber ein gutes Herz hat er trotzdem. Das würde ich sofort und überall bezeugen. Also, falls Ninas Wort allein nicht genug Gewicht hat: Nehmt mich ! Auch wenn ich nicht sprechen kann. Ich mache mich schon irgendwie verständlich.

In diesem Augenblick kommt es offenbar zu einem der seltenen Fälle von Gedankenübertragung zwischen Haustier und Frauchen. Caro steht vom Sofa auf, folgt Marc in die Küche und stellt sich neben ihn, als er in der Vorratskammer nach dem Leckerli sucht.

»Sag mal, wer soll denn dein Trauzeuge werden ?«

Ich hab’s ja geahnt ! Nina allein reicht nicht als Zeugin für eine Hochzeit ! Sofort hefte ich mich an Caros Bein und wedele euphorisch mit dem Schwanz. Marc schaut erst Caro, dann mich an. Perfekt ! Bestimmt begreift er jetzt, dass der beste Trauzeuge schon vor ihm sitzt. Oder, um es mit dem alten von Eschersbach zu sagen: Warum in die Ferne schweifen ? Sieh, das Gute liegt so nah !

»Mensch, Herkules, nun beruhig dich mal, du kriegst ja gleich dein Goodie. Was hast du gerade gesagt, Caro ?«

Okay. Während die Gedankenübertragung zu Frauchen funktioniert, muss an der zu Frauchens Herrchen noch gearbeitet werden.

»Ich wollte wissen, wer eigentlich dein Trauzeuge werden soll.«

»Tja, da habe ich noch gar nicht drüber nachgedacht. Vielleicht …« – wildes Schwanzgewedel meinerseits – »Herkules, aus !« Menno ! »Mein Trauzeuge. Gute Frage. Vielleicht Georg ?«

WER ? Georg ? Völlig falsch ! Ich heiße Herkules. HERKULES. Von mir aus auch Carl-Leopold von Eschersbach, mein eigentlicher Name, der leider im Tierheim verlorenging, bevor mich Carolin dort rettete. Auf jeden Fall nicht Georg. Wer ist das überhaupt ? So ein enger Freund kann das ja nicht sein, wenn ich den Namen noch nie gehört habe. Und der soll jetzt an meiner statt als Zeuge dafür dienen, dass man Marc bedenkenlos heiraten kann ? Das Wort eines Unbekannten gilt bei Hedwig offensichtlich mehr als meines, nur weil ich ein Dackel bin und der andere ein Mensch ist ?

Ach Mist, jetzt bin ich wirklich enttäuscht. Niemand nimmt mich hier ernst. Dabei wollte ich eben noch bezeugen, was für ein gutes Herz dieser Blödmann von Marc hat. Warum eigentlich ? Soll er doch sehen, wie weit er mit diesem Georg kommt. Aber wehe, mit dem klappt es nicht: Bei mir ist jetzt zeugentechnisch der Ofen aus, wuff ! Da braucht er gar nicht mehr anzukommen. Beleidigt stelle ich das Wedeln ein und trolle mich aus der Küche. Das Leckerli kann Marc getrost selbst fressen. Menschen sind so verdammt unsensibel !

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