ZWÖLF

Du musst dir schon ein bisschen mehr Mühe geben. Allein kriege ich dich da nicht durch.«

Mein erster Versuch, durch die Katzenklappe im Keller zu kommen, ist schon in die Hose gegangen. Ich schaffe es nur zur Hälfte, dann verlässt mich mein Elan, und ich kriege mein Hinterteil nicht mit durch, sondern bleibe mit beiden Läufen auf der Erde. Immerhin haben wir keine menschliche Hilfe gebraucht, um mich wieder herauszubekommen. Ich konnte meine erste Hälfte ganz vorsichtig zurückziehen und habe mir dabei nur ein ganz kleines bisschen die Schlappohren geklemmt. Ich muss einfach entschlossener sein, sonst fehlt mir der nötige Schwung, der den ganzen Hund durch die blöde Klappe bringen kann.

Ich gehe ein paar Schritte zurück, dann nehme ich Anlauf und presche entschlossen auf die Klappe zu – nur, um im letzten Moment eine Vollbremsung zu machen.

Herr Beck faucht laut auf.

»Herkules, jetzt mach endlich ! Das kann doch nicht so schwierig sein ! Seit wann bist du bloß so ängstlich ? Ich dachte immer, du stammst von sieben Fantastillionen Jagdhundahnen ab ? Denk an die Wildschweinjagd, an deine Vorfahren, an was auch immer – aber gib verdammt noch mal Gas !«

Richtig ! Gas geben ! Und zwar sofort ! Wieder ein Anlauf, und zwar ein ganz entschlossener, dann schließe ich die Augen, springe – und bleibe ganz am Ende mit meinem letzten Drittel hängen. Jaul ! Ich hänge in der Luft, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes ! Wie soll ich mich da nur wieder rauswinden ? Meine Hinterläufe zappeln in der Schwebe, meine Schnauze hängt dafür auf der anderen Seite knapp über dem Boden. Verfluchte Sch… !

Und was macht der blöde Kater ? Der lacht doch tatsächlich. Ich hingegen fange an zu heulen.

»Herkules, wenn du wüsstest, wie komisch das von hier hinten aussieht, würdest du auch lachen.«

»Ja, vielen Dank auch für deine großartige Hilfe !« Immerhin heule ich die letzten Worte nicht mehr, sondern knurre sie.

»Ach, Gottelchen. Nun stell dich mal nicht an. Ich helfe dir ja gleich. So geht es tatsächlich besser. Warte mal kurz.«

Leider kann ich nicht sehen, was Herr Beck damit meint. Und sagen tut er nichts mehr. Er scheint sich ein bisschen von der Klappe zu entfernen. Während ich noch darüber nachdenke, was Herr Beck wohl vorhat, trifft mich auf einmal ein gewaltiger Schlag direkt zwischen meine Hinterläufe auf den Allerwertesten. Der Stoß ist so heftig, dass er tatsächlich den letzten Rest von mir durch die Klappe bugsiert. Sehr unsanft knalle ich auf meine empfindliche Dackelnase und bleibe einen Moment benommen auf dem Kellerboden hinter der Klappe liegen. Aua ! Verdammt, was war das ?

Dann klappert es, und kurz darauf sitzt Herr Beck neben mir.

»Du magst nicht so fett sein wie ich, eine Elfe bist du aber auch nicht gerade. Beim Schubsen habe ich mir garantiert eine ziemliche Beule geholt.« Er reibt sich mit einer seiner Vorderpfoten an seiner Stirn entlang.

»Mann, das tat jetzt richtig weh ! Was hast du gemacht ?«

»Dich mit Anlauf durch die Klappe geschoben. Das wäre sonst doch nie etwas geworden. Dass ihr Hunde aber auch so steif sein müsst ! Du solltest ein bisschen Gymnastik machen. Wenn du ein echter Jagdhund wärst, müsstest du ja auch mal in den Bau. Ist mir schleierhaft, wie du das in dieser Verfassung schaffen wolltest.«

»Hey, Moment mal, was heißt denn Wenn du ein echter Jagdhund wärst ? Ich bin ein echter Jagdhund !«

Herr Beck schaut mich belustigt an.

»Meinst du ? Egal, für diese Diskussion haben wir keine Zeit. Los, hoch zu Nina !«

Möglichst unauffällig und leise traben wir die Stufen zu ihrer Wohnung hoch, was eigentlich unnötig ist, denn unter Ninas Wohnung ist sowieso nur die Werkstatt, und die ist um diese Uhrzeit natürlich längst verlassen. Vor ihrer Tür angekommen hocken wir uns erst mal hin und lauschen. Es ist ziemlich still, aber ein fernes Gemurmel verrät, dass jemand im hinteren Teil der Wohnung sein muss. Es ist zwar sehr leise, aber es sind eindeutig zwei verschiedene Stimmen zu vernehmen. Aha. Die ominöse Freundin ist zu Besuch. Und ihre Stimme ist tatsächlich auffallend tief. Beck scheint mit seinem Verdacht auf der richtigen Spur zu sein.

»So, Herkules. Es wäre großartig, wenn du es diesmal selbst durch die Klappe schaffst. Erstens war die Aktion eben sehr schmerzhaft, zweitens war sie sehr laut. Da können wir gleich einpacken, wenn wir hier so rumrumpeln. Also, mehr Einsatz, Kumpel !«

Der hat gut reden. Aber es stimmt natürlich. Wenn wir hier die Tür halb eintreten, wird Nina bestimmt sofort nachsehen, was los ist, und wir fliegen auf. Ich nehme all meinen Mut zusammen, kümmere mich nicht weiter um mein rasendes Herz und sause los. Entschlossen springe ich auf die Öffnung zu und mache mich möglichst lang und schmal. Es macht klapp-klapp – dann lande ich sicher auf der anderen Seite. Sensationell ! Mit dieser Nummer kann ich mit Sicherheit im Zirkus auftreten. Am liebsten würde ich vor Freude laut bellen, verkneife es mir aber.

Ein weiteres Klapp-Klapp, dann sitzt Beck neben mir und maunzt anerkennend.

»Nicht schlecht, Dackel, nicht schlecht.«

Leise schleichen wir durch den Flur, in den nur schwaches Licht fällt, den Stimmen entgegen. Sie kommen aus dem Schlafzimmer. Ninas Stimme – eindeutig. Und ein Mann – ebenso eindeutig nicht Alexander. Und ich kann endlich nachvollziehen, was Herr Beck mit »andere Sprache« meint. Denn ich höre jedes Wort, was die beiden miteinander sprechen – gleichzeitig verstehe ich gar nichts.

Die Tür zum Zimmer steht einen Spalt auf, wir huschen hinein. Nun wird klar, warum das Licht, das in den Flur fällt, so schwach ist: Nina hat nicht die normale Lampe angemacht, sondern sehr viele Kerzen angezündet, die überall im Zimmer stehen, den Raum in ein flackerndes Licht tauchen und ihm damit eine ganz seltsame Stimmung verleihen. Irgendwie – ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll. Ob es das ist, was die Zweibeiner romantisch nennen ?

»Los, weiter !«, raunt mir Herr Beck zu. »Sonst sehen die uns doch gleich !«

Mit die sind natürlich Nina und der fremde Mann gemeint, die gemeinsam auf Ninas großem Bett liegen und sich sehr angeregt in dieser seltsamen Sprache unterhalten. Momentan haben die beiden nur Augen für sich selbst, aber es stimmt natürlich: Wenn wir die Situation weiter beobachten wollen, sollten wir hier nicht wie angenagelt stehen bleiben.

Der Kater hat offensichtlich auch schon eine Vorstellung davon, was ein idealer Beobachtungsposten sein könnte, er steuert direkt auf die Tür der kleinen Kammer zu, die vom Schlafzimmer abgeht und Nina als begehbarer Kleiderschrank dient. Sehr schlau ! Von da haben wir die optimale Aussicht, und Nina und der Typ werden momentan garantiert keinen Gedanken an die Kleiderkammer verschwenden – obwohl beide nackt sind und sich unter normalen Umständen durchaus die Frage stellen könnten, was man denn mal Schönes anziehen sollte. Aber damit ist gerade nicht zu rechnen, denn die ganze Szenerie, die sich uns hier darbietet, sieht mir ganz schwer nach dem Auftakt für etwas aus, bei dem sich Menschen ungern von anderen Sachen ablenken lassen: Sex. Oder Liebe. Oder beides. Das weiß man beim Menschen nie so genau.

Wir huschen in die Kammer, vorsichtig öffnet Herr Beck mit einem Tatzenstoß die Tür ein wenig weiter. Dann hüpfen wir beide auf das unterste Regalbrett, auf dem ein paar Schuhe herumstehen. So. Ein echter Logenplatz. Kann losgehen.

Tatsächlich nimmt der Mann gerade die Flasche Champagner, die vor ein paar Tagen zusammen mit den Rosen angekommen ist, gießt zwei Gläser ein und reicht Nina eins davon.

»Thanks.« Sie trinkt, stellt dann das Glas wieder ab. Auch der Mann hat sein Glas abgestellt, nimmt Nina in den Arm und küsst sie auf den Mund. Die erwidert den Kuss. Allerdings nur kurz, dann schiebt sie den Mann ein Stück von sich weg und betrachtet ihn nachdenklich.

»Sören, we can’t go on like this.«

»Nina, believe me, I love you.«

»But you have a wive and children and I have a boyfriend. I feel bad about this.«

Hä ? Was ist los ? Ich werfe Herrn Beck einen Blick zu.

Der schüttelt den Kopf.

»Sag ich doch«, flüstert er. »Man versteht kein Wort.«

»Aber dem Ton nach ist es irgendwie ein Krisengespräch«, merke ich an.

»Stimmt. Allerdings ein ungewöhnlicher Aufbau für ein Krisengespräch: Beide nackt, Kerzen, Champagner. Da wäre doch nach meiner Erfahrung vom menschlichen Paarungsverhalten eher mal Sex angesagt.«

»Tja. Vielleicht ist der Typ auch Psychologe. Dann reden die vielleicht nur stundenlang, und es ist für sie genauso gut wie Sex.«

»Oder sie hatten schon Sex und machen gerade eine Pause. Wir wissen ja nicht, wie lange der Kerl schon da ist. Um wirklich zu wissen, was hier gespielt wird, müssen wir das Ganze wohl länger beobachten.«

Nina steht vom Bett auf und nimmt die Flasche Champagner.

»Hey, where are you going ?« Der Mann guckt Nina verwundert an. Scheint eine Frage gewesen zu sein.

»I’m just putting the champagne into the fridge.«

Sie verlässt das Zimmer, Mr Fremdsprache bleibt auf dem Bett liegen und schaut an die Zimmerdecke. Er ist größer als Alexander und bestimmt einige Jahre älter. Denn während Alexander noch ein ganz glattes Gesicht hat, hat der hier schon ziemliche Falten um die Augen. Die kann ich selbst auf die Entfernung sehen. Hellere Haare als Alexander hat er auch, sogar noch heller als die von Caro. Seine Arme sind sehr kräftig und muskulös, er sieht aus wie ein Mensch, der nicht im Sitzen arbeitet, sondern richtig. Vielleicht ein Stallbursche ? Die Burschen auf Schloss Eschersbach waren auch sehr kräftig – das brachte die Arbeit auf dem Hof so mit sich.

Klick, klick. Bilde ich mir das ein, oder habe ich gerade ein Geräusch gehört, das klingt, als ob ein Schlüssel im Haustürschloss gedreht wird ? Nein, keine Einbildung – auch Herr Beck scheint es gehört zu haben.

»Ach du Scheiße ! Kommt jetzt etwa Alexander nach Hause ? Er hat jedenfalls auch einen Schlüssel zur Wohnung. Na, das wird gleich lustig !«

Die Tür zum Schlafzimmer fliegt auf, und mit einem Riesensatz steht Nina wieder neben dem Bett. Sie packt den Mann am Arm und zieht ihn vom Bett hoch.

»Quick ! My boyfriend’s coming home.«

»But you said …«

»No time for talking ! GET UP ! And get into the wardrobe over there !«

Als er steht, schubst ihn Nina in Richtung Kleiderkammer. Auch wenn ich die Worte nicht verstehe – der Inhalt ist klar: Nina will ihn verstecken. Und da fällt ihr natürlich der gleiche Ort ein, an den auch wir als Erstes gedacht haben. Oje, oje ! Gleich wird’s hier eng.

»Denkst du das Gleiche wie ich ?«, maunzt Herr Beck.

Ich nicke.

»Okay, dann sollten wir uns mal ein bisschen in die Klamotten verkrümeln.«

Gesagt, getan – Beck und ich kriechen so weit es geht in eine Ecke der Kammer und drücken uns zwischen die langen Kleider von Nina. Keine Sekunde zu früh – denn jetzt wird die Tür zur Kammer noch weiter geöffnet, Nina schiebt den Typen hinein, es klirrt kurz. Das müssen die Gläser sein. Klar, die würden Besuch verraten. Dann schließt Nina die Tür. Es ist stockfinster, aber ich brauche den Mann nicht zu sehen, um festzustellen, wie aufgeregt er ist. Sein Atem geht schnell, er riecht nach Schweiß. Lieber Menschengott, mach, dass Alexander ganz schnell wieder geht und wir alle heil aus dieser Kammer kommen.

»Hallo, Schatz ! Wo steckst du denn ?«

Alexanders Stimme schallt über den Flur, und seine Schritte kommen näher.

»Im Schlafzimmer. Ich habe schon fast geschlafen.«

Ninas Stimme klingt verräterisch zittrig, hoffentlich bemerkt Alexander das nicht.

»Schon so müde ?«

Jetzt ist Alexanders Stimme so laut und nah, dass er im Schlafzimmer angekommen zu sein scheint. Der Atem von dem Herrn im Schrank wird unregelmäßiger und hektischer – und irgendwie pfeifend. Kein Wunder, in seiner Haut möchte ich gerade nicht stecken. Ich möchte momentan noch nicht mal in meiner Haut stecken, obwohl meine Situation ungleich besser ist als seine.

»Ich hab’s mir anders überlegt und bin nach dem Abendessen gefahren. Hatte Sehnsucht nach dir.«

»Wie schön. Ich bin aber total müde.«

»Soll ich uns noch ein Glas Wein holen ?«

Bitte, bitte nicht ! Ich will nicht die restliche Nacht mit einem fremden Mann im Kleiderschrank verbringen.

»Nee, du. Ich will schlafen. Lass uns mal morgen quatschen.«

Eine ausgezeichnete Idee. Los, Alexander ! Husch ins Körbchen, und zwar in dein eigenes !

»Wie du meinst.«

Alexander klingt enttäuscht, scheint die Geschichte aber zu kaufen. Der Dielenboden knarrt, Alexander geht wohl wieder. Wuff ! Endlich !

Den Schritten nach müsste Alexander schon fast an der Tür sein, da beginnt Ninas fremder Besucher zu husten. Also, nicht nur einmal kurz, sondern mehrmals. Erst klingt es sehr gepresst, ganz so, als würde er versuchen, es zu unterdrücken, aber dann wird es stärker. Was auch stärker wird, ist das pfeifende Geräusch, das mir eben schon an seinem Atem aufgefallen ist. Eindeutig: Er pfeift und hustet. Unglaublich – kann der sich nicht noch zwei Minuten zusammenreißen ?

»Heilige Ölsardine !«, faucht Beck. »Was soll denn das ? Der soll gefälligst Ruhe geben.«

Alexander ist wieder stehen geblieben.

»Was ist denn das für ein Geräusch ?«

»Welches Geräusch ?«

»Na, da hat doch jemand gehustet.«

»Ich hör nix«, behauptet Nina tapfer.

Leider wird das Pfeifen noch lauter, das Husten klingt fast wie ein Würgen. Was ist bloß auf einmal los ?

»Ach, du liebe Güte !«, maunzt Beck. »Sag bloß, der Typ ist wirklich gegen Katzen allergisch. Ich dachte, das sei eine Ausrede, um mich loszuwerden, aber vielleicht hat Nina die Wahrheit gesagt.«

»Hä ?« Mehr fällt mir dazu nicht ein.

»Na, es gibt tatsächlich Menschen, die auf Katzenhaare so reagieren wie der Typ jetzt. Vor allem, wenn man sie mit einer Katze in den Kleiderschrank sperrt. Ich habe da auf einmal ein gaaanz schlechtes Gefühl …«

Ein neuer Hustenanfall – aber nicht nur das: Der baumlange Kerl geht auf einmal vor uns in die Knie, sein Atem pfeift und rasselt, ich kann die Panik des Mannes genau riechen. Todesangst. Er hat echte Todesangst. Ob so eine Allergie richtig gefährlich ist ? Oder ist es die Angst, gleich ein paar von Alexander auf die Schnauze zu kriegen ?

»Nina, da ist doch jemand im Schrank !« Alexander klingt wütend und fassungslos.

»Nein, ich … äh …. das stimmt gar nicht !«

»Mach die Tür auf !«

»Nein. Ich will, dass du jetzt gehst. Raus aus meiner Wohnung, Alexander !«

»Nina, du …«

»Raus, habe ich gesagt !«

Ob sie ihn tatsächlich so loswird ? Dann würde er sich zwar seinen Teil denken können, aber, wie das Anwaltsherrchen von Herrn Beck seinerzeit so schön sagte: glauben ist nicht wissen. Vielleicht kriegt Nina so noch die Kurve.

Den Bruchteil einer Sekunde später erübrigt sich diese Überlegung. Mit einem lauten Pfeifen geht unser Schrankmitbewohner zu Boden, dabei schlägt sein Kopf mit einem lauten Knall an der Kammertür an. Die Tür wird aufgerissen, an den Kleidern vorbei kann ich sehen, dass Alexander in der Türöffnung steht. Okay. Soeben ist aus Glauben Wissen geworden.

Zwischen zwei pfeifenden Atemzügen presst der Mann ein Wort hervor: »Help !« Help ? Hm. Ob das wohl Entschuldigen Sie bitte, dass ich nackt aus dem Kleiderschrank Ihrer Freundin gefallen bin. Es wird nicht wieder vorkommen heißt ? Vermutlich nicht. Dafür war es dann doch zu kurz.

Alexander schaltet das Licht in der Kammer an und kniet sich neben den Mann. Der macht jetzt ein Geräusch, das wie hu… hu… hu… hu… klingt.

»Scheiße, Nina, ruf sofort die 112 an. Wir brauchen dringend einen Rettungswagen.« Und an den Mann gewandt: »Versuchen Sie, ganz ruhig zu bleiben.«

Na, Alexander hat vielleicht Nerven. Will den Typen verhauen und bestellt vorher schon mal vorsichtshalber die Ambulanz. Oder verstehe ich da etwas falsch ?

»Sören kann kein Deutsch.« Nina klingt verheult.

»Sören ? Aha. Scheißkerl. Egal.«

Alexander beugt sich neben den Mann. »Sören, you have to stay calm. Please, pretend you give me a kiss and breathe out very slowly through your lips.«

Von meinem Blickwinkel sieht es nun so aus, als würde Sören versuchen, Alexander zu küssen. Jedenfalls formt er einen Kussmund. Eine interessante Entwicklung. Küssen sich jetzt die Männer ? Und falls ja – ob Nina dann eifersüchtig wird ?

»Was machst du denn da ?«, will Nina auch tatsächlich wissen, als sie mit dem Telefon in der Hand wieder neben Alexander auftaucht.

»Dein Liebhaber hat offensichtlich einen schweren Asthmaanfall. Ich versuche, ihn per Lippenbremse so atmen zu lassen, dass sich seine Bronchien wieder weiten. Wann kommt die Rettung ?«

Ach so. Alexander will ihn nicht vermöbeln, sondern retten. Sehr noble Geste !

»Keine Ahnung, wann die kommen !«

»Hat er ein Spray mit ?«

»Keine Ahnung !« Nina heult.

»Ist er gegen irgendwas allergisch ?«

»Gegen Katzen. Aber ich habe Beck heute früh weggebracht.«

»Aha. Von langer Hand geplant. Wundervoll. Aber irgendwo müssen hier noch viele Katzenhaare sein. Hey, Sören, breathe out slowly. Form your mouth, as if you were kissing. Breathe out ! And slowly, very slowly !«

Alexander kniet sich hinter Sören, will ein bisschen Platz schaffen, schiebt die Kleider weg – und erwischt dabei den Schwanz von Herrn Beck. Sofort dreht er sich zu uns um. In der zwischen den Kleidern entstandenen Lücke sitzen wir wie auf dem Präsentierteller.

»Herr Beck ! Herkules ! Was macht ihr denn hier ? Nina, schaff sofort den Kater raus. Raus mit ihm !«

Er schlägt nach Beck, der maunzt laut auf und rennt zu Nina. Ich bleibe wie angenagelt sitzen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sören scheint kaum noch Luft zu bekommen. Alexander packt ihn bei den Schultern.

»Sören, do you have a spray ? Salbutamol ? Asthmaspray ?«

Sören schüttelt den Kopf.

»Auch egal, das kriege ich momentan sowieso nicht in ihn rein. So, komm, Sören, ab in die Küche.«

In die Küche ? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sören gerade Hunger hat.

»Nina, ich brauch deine Hilfe. Sperr die Katze im Wohnzimmer ein. Ich setzte deinen Freund hier vor den geöffneten Kühlschrank, feuchte, kalte Luft hilft oft. Bleib bei ihm. Ich glaube, ich habe in meinem Arztkoffer noch Cortison. Das spritze ich ihm jetzt.«

Er schleppt Sören in die Küche, ich laufe hinterher. Dann schiebt Alexander einen Stuhl vor den Kühlschrank, verfrachtet Sören darauf und öffnet die Tür.

»Oh, Champagner ! Großartig. Da hattet ihr beiden wohl bisher einen richtig netten Abend. Breathe out slowly. Very slowly through your lips. Out, understand ? Good ! Very good ! Nina, wo bleibst du !«

Nina taucht auf und stellt sich neben Sören.

»Versuch, ihn zu beruhigen. Und hör endlich auf zu heulen. Du musst jetzt Ruhe ausstrahlen, sonst wird er noch panischer. Ich hole meinen Koffer von oben.«

Nina tut, wie ihr geheißen, und streichelt über Sörens Wange. Im Licht des Kühlschranks sieht sein Gesicht irgendwie ziemlich blau aus. Ungesund ! Kurz darauf ist Alexander mit einer Tasche wieder da, wühlt darin und zieht schließlich ein Fläschchen und eine Spritze daraus hervor.

»So. Ein Gramm Cortison, dann dürfte das Leben für deinen Freund gleich schöner aussehen. Salbutamolspray hab ich auch noch. Vielleicht krieg ich das gleich in ihn rein.«

Er nimmt Sörens Arm und sticht die Spritze hinein. Als er fertig ist, greift er Sörens beide Arme und legt sie auf dessen Oberschenkel, sodass Sören fast schräg im Kühlschrank liegt.

»Slowly out. Now, can you breathe in a little ?«

Sören nickt.

»Wonderful. It’s getting better. Now take this.« Er gibt ihm eine längliche runde Dose mit einem Röhrchen dran. »That’s Salbutamol. Do you know, how it works ?«

Sören nickt wieder. Es würde mich zu sehr interessieren, worüber sich die beiden gerade unterhalten.

»Four times, okay ?«

Wieder ein Nicken.

Alexander schüttelt die Dose und gibt sie Sören. Der nimmt das Röhrchen in den Mund und atmet ein. Zweimal, dreimal, viermal. Dann hört er auf und stützt sich wieder auf seine Oberschenkel. Tatsächlich klingt sein Atem nicht mehr ganz so pfeifend und wird langsam ruhiger.

Es klingelt an der Tür. Das muss der Krankenwagen sein. Alexander greift seine Tasche, geht zur Wohnungstür und öffnet. Zwei Männer in hellen Jacken kommen in den Flur.

»Guten Abend, Kollegen. Alexander Klein mein Name. Der Patient ist in der Küche. Zustand nach Status asthmaticus. Schwerer Katzenhaarallergiker. Ich bin Arzt, war zufällig da. Habe ihm schon ein Gramm Cortison intravenös gegeben und eben vier Hübe Salbutamol. Akute Krise ist beendet, aber er sollte in ein Krankenhaus.«

Die Männer nicken.

»Wow. Da hat er ja Glück gehabt, dass Sie gerade vorbeigekommen sind.«

»Wie man es nimmt«, erwidert Alexander knapp. »Aber ich muss jetzt leider los. Habe noch einen anderen Notfall. Etwas mit dem Herzen.«

Dann nimmt er die Tasche und seine Jacke, die noch am Haken neben der Tür hängt, und geht.

Notfall mit dem Herzen. Ich weiß genau, welches Herz gemeint ist. In diesem Moment tut mir Alexander sehr, sehr leid.

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