ACHTZEHN

Dafür, dass Carolin eigentlich nur zur Arbeit will, donnert sie sich gerade ganz schön auf. Die Werkstatt ist normalerweise ein Fall für Jeans, T-Shirt und Pferdeschwanz. Anmalen tut Caro sich sonst auch nicht, aber jetzt steht sie schon eine ganze Zeit vorm Spiegel. Außerdem hat sie einen Rock an und eine Bluse. Sonderbar. So kenne ich sie eigentlich nur vor Abendterminen, wenn sie zum Beispiel mit Marc ins Theater geht. Ob das Theater ab und zu auch morgens aufmacht ? Ich bin mir nicht ganz sicher, was da so geschieht, aber aus Erzählungen reime ich mir zusammen, dass es eine ganz entfernte Ähnlichkeit mit dem Fernsehen haben muss. Menschen erzählen dort offenbar Geschichten für Menschen, die sich wieder andere Menschen ausgedacht haben. Oder so ähnlich.

Caro malt ihre Lippen nun mit einem besonders dicken Stift an, betrachtet sich noch einmal prüfend im Spiegel, dann kommt sie aus dem Bad, geht zur Garderobe und greift nach meiner Hundeleine.

»So, Hedwig ! Ich bin jetzt weg. Herkules nehme ich mit, dann kannst du mit Henri drinnen bleiben. Bei der Erkältung ist das wahrscheinlich am besten.«

Hedwig kommt aus Henris Zimmer in den Flur.

»Stört der Hund denn nicht ?«

»Nee, glaube ich nicht. Die haben selbst auch einen Hund. Ansonsten lasse ich ihn im Auto. Bis später !«

Wie ? Ich darf mit ins Theater ? Und dort gibt es auch Hunde ? Das ist ja interessant ! Ich hoffe, ich muss nicht davor im Auto warten, denn das verspricht spannend zu werden. Schnell wetze ich zur Tür. Nicht dass sich Caro das noch einmal anders überlegt.

Draußen ist ein warmer Frühlingstag – schade, dass wir offenbar mit dem Auto fahren. Ich hätte große Lust auf einen ausgedehnten Spaziergang. Aber so hüpfe ich schwungvoll auf den Beifahrersitz, als mir Caro die Tür öffnet. Hoffentlich dauert die Fahrt nicht so lang !

Sie dauert lang. Als ich gerade eingeschlafen bin, hält Caro endlich an.

»Wir sind da, mein Süßer. Ich bin gespannt, wie es dir gefällt. Ich war beim ersten Mal sehr beeindruckt.«

Sie steigt aus und öffnet meine Tür, ich recke und strecke mich kurz, dann springe ich aus dem Auto. Ich lande in einem Kiesbett und schaue erwartungsvoll nach oben. Wow – wir parken vor einem großen Gebäude, das ein bisschen an Schloss Eschersbach erinnert. Es hat ein Portal und Säulen und zwei Türme. Die sind zwar nicht ganz so hoch wie die von Schloss Eschersbach, aber auch ziemlich eindrucksvoll. Jedoch scheint es keinen richtigen Park zu dem Schloss zu geben, es ist zwar umgeben von einem größeren Platz, aber direkt hinter der ersten Baumreihe sind schon die Nachbarhäuser zu sehen. Für ein normales Haus ist es trotzdem ein echter Hingucker.

»Schön, oder ? Eine richtige Villa an der Elbchaussee, die hätte man doch selbst gern.«

Ja, ich könnte mir so ein Anwesen auch gut als Residenz für Carl-Leopold von Eschersbach vorstellen. Standesgemäß eben. Und wenn Elbchaussee bedeutet, dass hier auch irgendwo die Elbe ist, wäre mit Sicherheit der ein oder andere Elbspaziergang drin. Allerdings wundere ich mich langsam, wo die anderen Besucher des Theaters sind. Soweit ich weiß, ist Theater doch eher eine Gruppenveranstaltung – etwas, wo ganz viele Menschen hingehen. Außer uns ist jedoch weit und breit niemand zu sehen. Carolin scheint das nicht zu stören, zielstrebig geht sie auf das Portal zu. Na gut, sehen wir uns das Ganze mal aus der Nähe an.

Caro drückt die Klingel neben den Türflügeln des Portals, die Tür öffnet sich mit einem leisen Summen und gibt den Blick auf eine große Halle frei. Immer noch kein Mensch zu sehen. Dafür kann ich eindeutig einen Hund erschnuppern.

Am hinteren Ende der Halle sind mehrere Türen, eine davon wird nun geöffnet, und endlich kommt der erste Mensch zum Vorschein. Es ist eine Frau, ebenfalls gut gekleidet, vom Äußeren und der Bewegung her allerdings älter als Carolin.

»Hallo, Frau Neumann ! Ich freue mich, dass es heute geklappt hat !«

»Das war doch selbstverständlich, Frau Hohwenser. Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich Herkules dabeihabe ?«

Die Frau lacht uns freundlich an.

»Klar, kein Problem. Da wird sich unsere Biene freuen. Kommen Sie beide rein !«

»Danke. Ich bin schon ganz gespannt, welche neuen Stücke noch dazugekommen sind. «

Aha ! Stücke ! Genau, davon hat Marc gesprochen: Theaterstücke. Dann sind wir wohl wirklich in einem Theater. Die Frau, die offenbar Hohwenser heißt, weist uns den Weg durch die Tür, hinter der ein Treppenhaus liegt. Der Hundegeruch wird stärker, und ich werde langsam ein wenig nervös.

Frau Hohwenser läuft die Treppe vor uns hoch und redet gleichzeitig mit Carolin.

»Mein Vater hatte zuerst überlegt, diesen Teil des Nachlasses in Süddeutschland zu behalten. Als er aber von meiner Idee der historischen Sammlung hörte, war er gleich begeistert. Die Lieferung ist gestern angekommen, ich bin schon ganz neugierig, was Sie dazu sagen.«

»Wenn die Stücke auch nur annähernd so gut erhalten sind wie der Rest der Sammlung, dann ist das eine ziemliche Sensation.«

Leute, nun macht es doch nicht so spannend für einen armen Dackel ! Wann geht es denn nun los mit dem sensationellen Theaterstück ?

Ein Stockwerk höher und eine weitere Tür später stehen wir in einem Raum, in dem es verdächtig nach altem Holz riecht. Fast wie in der Werkstatt. Ich bin enttäuscht. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Gelegenheit, länger über diese Enttäuschung zu sinnieren, bleibt aber nicht. Denn aus der gegenüberliegenden Ecke des Raumes kommt nun tatsächlich ein anderer Hund auf mich zugestürmt. Ein anderer Dackel ! Genauer gesagt: eine Dackelin. Und was für eine: große braune Augen und langes, seidig glänzendes rotbraunes Fell. Mit anderen Worten – eine sehr attraktive Frau ! Natürlich nicht so schön wie Cherie, aber trotzdem ansehnlich. Es ist fast schade, dass mich andere Hündinnen so gar nicht als Frau interessieren, diese hier ist wirklich hübsch. Aber eben nicht Cherie.

»Ach, sehen Sie mal, wie meine Biene sich freut ! Das ist ja nett !«

Frau Hohwenser klatscht begeistert in die Hände.

Da will ich an Begeisterung natürlich in nichts nachstehen und mache schnell mal eine paar Luftsprünge und anschließend Männchen.

Carolin lacht.

»Wie Sie sehen, ist die Freude ganz unsererseits !«

»Ihrer ist auch ein Dackel, oder ?«

»Fast. Ein Dackelmix.«

Grrrr ! Was soll das, Caro ? Musst du mich unbedingt vor den Damen bloßstellen ? Das hätten die doch von allein vielleicht nicht gemerkt.

»Ach, das sieht man auf den ersten Blick gar nicht.«

Eben. Sag ich doch. Biene beschnuppert mich neugierig. Ich lasse sie gewähren.

»Wohnst du hier ?«, will ich schließlich wissen.

Sie setzt sich und betrachtet mich.

»Ja. Ich bin gewissermaßen der Hofhund. Biene. Aber das weißt du ja schon.«

»Ich bin Herkules. Eigentlich Carl-Leopold von Eschersbach – aber Herkules reicht völlig.«

»Angenehm. Biene von der Harkortshöhe. Hier sind sonst fast nie andere Hunde. Sehr ruhig, sehr langweilig.«

Von der Harkortshöhe. Aha. Dieser Name in Verbindung mit Bienes äußerst reinrassigem Langhaardackelaussehen führt dazu, dass ich mich unwohl fühle. Unterlegen. Ich beschließe, das Thema zu wechseln.

»Und du wohnst hier im Theater ?«

Biene macht große Augen – falls es überhaupt möglich ist, ihre Augen noch größer zu machen.

»Wieso Theater ?«

»Na, das ist hier doch ein Theater, oder ?«

Völlig verständnislos blickt sie mich an.

»Ich weiß zwar nicht genau, was ein Theater ist – aber eines weiß ich. Dies hier ist keines. Das wäre mir doch aufgefallen.«

Hm. Kein Theater ? Trotz der sensationellen Stücke ? Aber was genau ist es dann ? Und was machen wir hier ?

»Du meinst, hier gibt es keine Menschen, die andern Menschen, also ganz vielen, Geschichten von wieder anderen Menschen erzählen ? So ähnlich wie Fernsehen, nur anders ?«

»So ähnlich wie Fernsehen, nur anders ? Äh … nee. Glaub ich nicht. Wir haben einen Fernseher, aber ganz viele Menschen sind hier nur selten. Vorn an der Elbe, da sind viele. Vor allem bei gutem Wetter laufen die da in Heerscharen rum. Dann haben sie oft auch Hunde dabei, das ist dann ganz nett. Aber sonst ? Nee.«

»Tja. Dann ist das wohl ein Missverständnis.«

»Wolltet ihr denn ins Theater ?«

Unschlüssig wedele ich mit dem Schwanz hin und her.

»Dachte ich. Scheint aber nicht zu stimmen.«

»Ich glaube, ihr seid wegen der Instrumente da. Ich habe dein Frauchen schon mal gesehen. Da hat sie sich den ganzen alten Krempel da drüben angesehen. Ein Mann war auch dabei, machte einen ganz netten Eindruck.«

Ach so. Instrumente. Na klar. Wir sind nicht zum Spaß hier, sondern Carolin erledigt einen Job. Warum bin ich da nicht von allein draufgekommen ? Schade, dann wird’s doch eher langweilig hier. Ich gähne und lege mich hin.

Biene legt sich neben mich.

»Ich find’s schön, dass du da bist. Soll ich dir mal unseren Garten zeigen ? Die sind hier doch bestimmt noch beschäftigt.«

Ich bin unschlüssig. Biene scheint nett zu sein, doch irgendwie auch ein bisschen aufdringlich. Und sie ist zwar hübsch, aber bestimmt blasiert. Von der Harkortshöhe. Oder ich bin heute nicht so in Stimmung für Konversation.

Sie scheint zu merken, dass ich zögere.

»Ach, nun komm schon. Ist doch spannender, als hier auf dein Frauchen zu warten.«

Stimmt. Ich seufze und raffe mich auf. Sie läuft zurück in Richtung der Treppe, über die wir eben gekommen sind, ich folge ihr. Wieder in der großen Halle traben wir zu einem kleinen Flur, von dem wiederum ein Zimmer abgeht. Hier steht eine Terrassentür offen, durch die Biene verschwindet. Okay, ist wahrscheinlich wirklich besser, als bei dem schönen Wetter weiter hier drinnen rumzuhängen. Also hinterher.

Wuff ! Sagte ich vorhin, dass diesem Haus zum Schloss der Park fehlt ? Na, da kannte ich seine Rückseite noch nicht ! Garten ist die Untertreibung des Jahres. Eine riesige Rasenfläche, eingefasst von haushohen Eichen und gesäumt von akkurat angelegten Beeten, fängt direkt hinter der Terrasse an und erstreckt sich bis hinunter zur Elbe. Uns trennt kein einziges anderes Haus von dem gewaltigen Fluss – fast sieht es so aus, als ob das große Schiff, das dort gerade entlangfährt, direkt durch den Garten kommt.

Ich bin wirklich beeindruckt, und das merkt man mir wohl auch deutlich an, denn Biene gibt mir einen kurzen Stups in die Seite.

»Hey, vergiss das Atmen nicht. Ich hab doch gleich gesagt, dass es im Garten spannender ist.«

»Gibt es hier auch Kaninchen ?«

»Klar. Kaninchen. Amseln. Maulwürfe. Du kannst hier alles jagen, was du willst. Du bist auch ein Jagdhund, oder ?«

Ich nicke.

»Und ob. Ich stamme aus einer ganz berühmten Dackelzucht. Alle meine Vorfahren sind zur Jagd gegangen. Das haben wir im Blut, wir von Eschersbachs.«

Stolz hebe ich die Nase. Ich mag ein Betriebsunfall gewesen sein, wie es irgendein Mensch mal bezeichnet hat. An meinen hervorragenden Instinkten ändert das überhaupt nichts !

Biene ist Gott sei Dank zu höflich, um weitere Fragen zu diesem Thema zu stellen, stattdessen hüpft sie munter vor mir die Stufen der Terrasse zum Rasen hinunter.

»Komm, Herkules, ich zeige dir mal, wie blendend man sich hier amüsieren kann.«

Die nächste Stunde verbringen wir damit, um die Wette zu wetzen, Kaninchen einzuschüchtern und Eichhörnchen die Bäume hochzujagen. Wir legen uns mit einer Elster an und müssen mehrmals ihrem Schnabel ausweichen, aber das stört Biene überhaupt nicht, sie ist beeindruckend mutig und hart im Nehmen. Dackel eben. Dann rollen wir uns im Sandstrand auf der anderen Seite des Zaunes, der das Grundstück von der Elbe trennt, und bekommen sogar einmal nasse Pfoten, als ein besonders großes Schiff vorbeikommt. Es ist herrlich !

Als plötzlich Caro und Bienes Frauchen auf der Terrasse auftauchen und nach uns rufen, würde ich mich am liebsten taub stellen. Aber Frau Hohwenser pfeift nur einmal hoch und schrill, schon läuft Biene zu ihr. So ein gut erzogener Hund ! Wenn Herr Beck hier wäre, es würde all seine Vorurteile über uns bestätigen. Langsam trotte ich auf Caro zu.

»Meine Güte, wie siehst du denn aus, Herkules ? Du bist ja völlig verdreckt und sandig !« Carolin schüttelt tadelnd den Kopf. »Wie soll ich dich denn nach Hause transportieren, ohne dass Marc einen Schlag kriegt, wenn er das Auto sieht ? Am besten, du nimmst im Kofferraum Platz.«

Ich, im Kofferraum ? Was für eine bodenlose Unverschämtheit ! Empört jaule ich auf.

Frau Hohwenser lacht.

»Da ist aber jemand gar nicht einverstanden mit Ihrem Plan. Warten Sie, ich gebe Ihnen eine alte Decke mit, da kann das Kerlchen drauf Platz nehmen. Es freut mich ja, dass die beiden anscheinend so viel Spaß hatten. Das nächste Mal, wenn ich in Ihre Werkstatt komme, nehme ich Biene einfach mit.«

Als ich das höre, wedele ich mit dem Schwanz. Das ist eine ausgezeichnete Idee ! Biene ist ein richtig klasse Kumpel, auf so jemanden trifft man wirklich nicht alle Tage. Ich werfe ihr einen kurzen Blick zu – sie scheint das Gleiche zu denken wie ich. Jedenfalls wirkt auch sie sehr glücklich. Wer hätte gedacht, dass mein Ausflug ins Theater so ein Erfolg wird ?

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