DREIUNDZWANZIG




Noch so ein Tag, und ich schmeiße hin. Meine Augen tränen, und meine Nase ist von dem Gestank der Autos schon richtig geschwollen. Das ist das Schlimmste! Abgesehen von meinen tauben Ohren, die nun seit mehreren Tagen den Krach von vorbeiknatternden Wagen und Motorrädern ertragen müssen. Und das alles ohne jeden Erfolg. Ich beginne zu jaulen.

»Ehrlich, Herkules, jetzt reiß dich mal zusammen! Ich habe dir gleich gesagt, dass so eine Fahndung kein Zuckerschlecken ist.«

Herr Beck guckt mich streng an.

»Aber ich kann nicht mehr! Dieser ganze Verkehr macht mich fertig!«, verteidige ich mich.

»Nun sei doch nicht so weinerlich! Hart in der Sache und gegen sich selbst – das ist das Erfolgsrezept des wahren Kriminalisten.«

Das sagt nun gerade der Richtige. Sonst ist es doch immer Beck, der rummeckert. Und außerdem bin ich ein Dackel, kein Kriminalist. Ich weiß ja nicht mal genau, was das Letztere überhaupt bedeutet.

»Beck, vielleicht ist unser Plan einfach gescheitert, und wir sollten nach Hause gehen.«

»Quatsch. So schnell willst du doch wohl nicht aufgeben. Denk an deine große Liebe – für eine Hündin finde übrigens selbst ich sie recht attraktiv und sportlich, wenn sie jeden Tag auf der Hundewiese trainiert. Ich muss sagen: Geschmack hast du.«

Tatsächlich hat unser bisheriger Einsatz zumindest dazu geführt, dass Beck Cherie kennengelernt hat, als sie gestern mit ihrem Frauchen zur Hundewiese spazierte. Sie war sichtlich erstaunt, mich ohne Mensch, dafür aber in Begleitung eines Katers anzutreffen.

»Wahrscheinlich findet mich Cherie jetzt erst recht wunderlich. Wir hätten ihr schon mal von unserem Plan erzählen sollen.«

»Auf keinen Fall. Der ist streng geheim. Und nun mach dir nicht so viele Sorgen. Denk einfach daran, was für ein Held du sein wirst, wenn du ihr den Schurken auf dem Silbertablett präsentierst.«

»Genau: wenn. Ich meine, seit fast einer Woche hängen wir in jeder freien Minute hier rum – und von dem Typen keine Spur.«

»Ach, der wird schon kommen. Und unser Beobachtungsposten ist perfekt: Hier muss eigentlich jeder vorbei, der von Cheries Haus zur Alster will. Du siehst doch, wie viel hier los ist.«

Keine Frage, das sehe ich. Und riechen und hören tue ich es leider auch. Ich seufze und frage mich, ob ich unseren Kandidaten schon verpasst habe. Vielleicht ist er so schnell gefahren, dass ich keine Witterung aufnehmen konnte. Andererseits – die Stelle ist von Beck tatsächlich perfekt gewählt. Denn an der neben uns liegenden Kreuzung müssen alle, die Richtung Alster wollen, abbiegen, werden also langsamer oder halten ganz an. Wäre der Kurier an mir vorbeigekommen, hätte ich ihn bemerken müssen. Ich beschließe, der Sache noch eine letzte Chance zu geben. Ohnehin müssen wir gleich wieder in die Werkstatt zurück. Zu lange können wir nicht auf unserem Posten bleiben, denn sonst würde Carolin merken, dass ich gar nicht mehr mit Beck im Garten bin.

»He, guck mal, ist das unser Mann?«

Während mich diese Bemerkung von Beck noch vor drei Tagen elektrisiert hätte, wende ich jetzt nur kurz den Kopf. Es ist immerhin das ungefähr fünfhundertste Mal, dass Herr Beck einen Verdächtigen sichtet.

Von unserem Blickwinkel aus sieht der Fahrradfahrer allerdings schon sehr nach dem Typen aus, den wir suchen. Ich müsste mal an ihm schnuppern. Ich trabe näher an den Bordstein zur Straße – und habe endlich mal Glück: Die Ampel springt offensichtlich gerade auf Rot, jedenfalls hält der Mann direkt neben mir. Ich schnüffele an dem Bein hoch, das er praktischerweise direkt vor meiner Nase abgestellt hat: Pfefferminz! Nun bin ich wirklich elektrisiert.

»Beck! Ich glaube, das ist unsere Zielperson! Könnte es zumindest sein!«

»Bist du sicher?«

»Ja.«

»Okay. Zugriff!«

Mit diesem Kommando beginnt Teil zwei unseres Plans. Und ich hoffe sehr, dass wir uns dabei nicht alle Knochen brechen. Immerhin steht unser Mann schon, das erleichtert das Vorhaben immens. In voller Fahrt wäre alles deutlich gefährlicher, aber auch dann hätten wir versucht, was wir nun in die Tat umsetzen.

Wie vorher tausendmal besprochen, läuft Herr Beck zum Fahrrad, springt auf das Vorderrad und krallt sich in den Reifen. Dann passiert tatsächlich das, was er vorausgesagt hatte: Der Typ steigt von seinem Fahrrad ab.

»Sach mal, bist du irre, du Viech? Geh weg von meinem Fahrrad, los!«

Ah! Die Stimme! Jetzt habe ich überhaupt keinen Zweifel mehr – der Kurier ist der Typ von der Alster. Und bestimmt ist er auch der Verkehrsrowdy, den wir suchen.

»He, weg da!«

Aber Herr Beck denkt gar nicht daran, dieser Aufforderung zu folgen. Stattdessen attackiert er den Vorderreifen, als hätte er es mit einer sehr appetitlichen Maus zu tun. Ich schleiche mich von hinten an die beiden heran. Der Mann beugt sich zu Beck, versucht ihn zu verscheuchen. Aber noch hat er leider seine Tasche nicht abgelegt. Beck macht also weiter und versucht, einen Kampf zu provozieren. Er beißt in den Reifen, faucht und kreischt, was das Zeug hält. Der Kurier wiederum versucht, ihn von dem Fahrrad wegzuziehen, hat aber deutlich Respekt vor Becks Krallen. Und dann, endlich, endlich, nimmt er seine Tasche von der Schulter, um sich beim Kampf mit Beck besser bewegen zu können.

Als er sie neben sich auf den Bürgersteig gestellt hat und sich wieder zu Beck umdreht, schleiche ich so unauffällig wie möglich in Richtung Tasche. Nicht dass der Typ noch merkt, dass er es in Wirklichkeit mit zweien von uns zu tun hat. Ich packe die Tasche und ziehe sie vorsichtig weg. Gott sei Dank ist sie nicht besonders schwer. Beck beschäftigt den Mann derweil, so gut er kann. Schließlich brauche ich ein bisschen Vorsprung, um nicht gleich geschnappt zu werden. Ich halte nach dem nächsten Gebüsch Ausschau. Dorthin schleppe ich meine Beute und gucke vorsichtig durch die Blätter. Bisher funktioniert unser Plan: Der Mann hat das Fehlen der Tasche noch nicht bemerkt und versucht inzwischen, mit seinen durch die Hemdsärmel geschützten Händen Beck von dem Fahrradreifen zu ziehen. Verdeckt durch die Sträucher, laufe ich immer weiter von den beiden weg.

Ich renne mittlerweile so schnell, wie ich es mit einer Tasche im Maul eben kann. Einfach ist das nicht, mein Nacken ist schon ganz steif, aber die Angst, erwischt zu werden und eine Riesenmenge Ärger zu kriegen, treibt mich voran. Noch zwei Ecken – dann bin ich endlich im Park vor unserem Haus. Ich halte kurz an und drehe mich um: Niemand folgt mir. Mir fällt ein ziemlich großer Stein vom Herzen, denn wer Hunde mit dem Fahrrad auf die Straße schubst, hat bestimmt auch wenig Skrupel, Dackeln das Fell über die Ohren zu ziehen. Ich hoffe nur, dass die Kuriertasche auch wirklich die Informationen enthält, die wir brauchen. Sonst war alles umsonst.

Am Haus angekommen, schleppe ich die Tasche nicht in die Werkstatt, sondern versteckte sie hinter einem der Blumenbeete. Aus der Werkstatt klingt Musik. Carolin spielt auf einer Geige. Sehr gut. Offenbar hat sie mich noch nicht vermisst. Ich lege mich unter den großen Baum und warte auf Beck. Hoffentlich ist bei ihm auch alles glattgegangen – immerhin tut er das nur mir zuliebe.

Bevor ich mir aber weiter Sorgen um ihn machen kann, kommt Beck schon lässig in den Garten geschlendert. Ein wenig zerzaust sieht er aus, aber alles in allem wie ein strahlender Sieger. Er legt sich neben mich und reckt und streckt sich genüsslich.

»Gut, dass du wieder da bist! Ich hatte schon ein bisschen Angst, dass du mit dem Typen noch mächtig Ärger bekommen hast.«

»Ach was! Mit einem unbewaffneten Menschen werde ich doch leicht fertig. Du solltest den mal sehen – ein paar Schrammen hat er schon abbekommen. Aber nun zum Wichtigsten: Hast du die Tasche?«

»Ja, sie liegt hinter dem Beet.«

»Sehr gut. Dann gibt es jetzt nur noch eine Schwierigkeit.«

»Echt? Welche denn?«

»Wie kriegen wir die Tasche zu Cheries Frauchen?«

Stimmt. Das ist noch ein klitzekleines Hindernis. Ansonsten hat der Plan bisher perfekt funktioniert. Wir haben dem Verbrecher tatsächlich die Tasche geklaut, und nach Becks Kenntnissen von menschlichen Taschen und Koffern dürfte sich darin eine Information über ihren Eigentümer befinden. Wenn Cheries Frauchen also in die Tasche hineinschaut, wird sie herausfinden, wem diese gehört, und sie ihrem Besitzer zurückgeben wollen. Dabei wird sie erkennen, dass sie den Schurken vor sich hat, der den Unfall mit Cherie verursacht hat, und wird ihm das Geld für die Operation abknöpfen. Und Cherie wird mich lieben, weil ich ein Held bin. Es ist einfach eine strategische Meisterleistung von Beck! Auch wenn wir noch nicht ganz am Ziel sind: Ich bin trotzdem stolz auf den Kater.

»Weißt du, Beck, das wird uns auch noch einfallen.«

»Ah, ich mag es, wenn du optimistisch bist.«

»Danke. Und weißt du noch was? Du bist ein echter Freund. Ich bin froh, dass es dich gibt.«



»Wie geht es eigentlich deinem neuen Mitarbeiter?«, will Carolin von Nina wissen, als diese später am Tag auf einen Kaffee in der Werkstatt aufkreuzt.

»Och, ich glaube, ganz gut.«

»So, glaubst du.«

»Ja«, erwidert Nina knapp. Das ist ungewöhnlich. Normalerweise redet sie doch gerne über Männer.

»Du musst ihn jetzt eigentlich gut behandeln, sonst nennt man das Bossing und ist bestimmt ein Fall für die Gleichstellungsbeauftragte. Nicht, dass die Arbeitsgruppe noch darunter leidet.«

»Ha, ha. Sehr witzig. Woher denn das plötzliche Interesse für meine Arbeitsgruppe?«

»Na, du bist schließlich meine Freundin. Mich interessiert brennend, wie es beruflich so bei dir läuft.«

»Aha. Wie es beruflich läuft. Na klar. Gegenfrage: Wie läuft es denn bei dir so beruflich – mit dem Kollegen Carini?«

»Och. Gut.« Nun ist es an Carolin, einsilbig zu sein.

»Soso. Gut ist gut.«

»Ja. Gut ist gut. Aber was hältst du denn davon, wenn wir uns heute Abend auf ein Glas Wein treffen? Ich habe Marc versprochen, Luisa später vom Flughafen abzuholen, aber danach hätte ich Zeit. Dann könnten wir uns doch mal ausführlich über unser berufliches Fortkommen austauschen.« Carolin grinst.

»Eigentlich eine sehr gute Idee. Aber heute habe ich leider keine Zeit. Bin schon verabredet.«

»Aha? Habe ich da etwas verpasst?«

»Nein. Ein rein geschäftlicher Termin.«

»Abends?«

»Ja. Ein 24-Stunden-Versuchsaufbau. Ganz neues Studiendesign.«

»Schade. Dann wünsche ich fröhliches Forschen.«

»Danke.«

Nina trinkt ihren Kaffee aus und geht. Dabei gibt sie sich fast mit Daniel die Klinke in die Hand, der in diesem Moment in die Werkstatt kommt.

»Hallo, Nina! Musst du schon los?«

»Ja, leider, die Pflicht ruft.«

»Nina absolviert heute einen vierundzwanzigstündigen Versuch«, erklärt Carolin.

»Echt? Wow. Dann viel Erfolg!«

»Ja, den kann ich brauchen. Tschüss!«

Nina schließt die Tür hinter sich, und Daniel stellt den großen Cellokasten, den er gerade noch in der Hand gehalten hat, im Flur ab.

»Gibt es eigentlich Neuigkeiten von ihrem Nachbarn? Hat sie sich von dem Schock, dass er bei ihr arbeitet, erholt?«

Carolin zuckt mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Da lässt sich Nina nicht in die Karten gucken. Ich wollte mich heute Abend mit ihr verabreden, aber leider muss sie arbeiten. Na, ich werde es schon noch herausfinden. Aber mal was ganz anderes: Wie war es denn bei Lemke? Hat ihm die erste Restauration gefallen?«

»Ja, er war begeistert. Ehrlich. Außerdem hatte er noch ein paar wertvolle Anregungen für die Sammlung. Ich bin jetzt noch motivierter als ohnehin schon – es macht Spaß, für jemanden mit so viel Sachverstand zu arbeiten.«

»Finde ich auch. Ich würde übrigens gleich gerne von deinem Sachverstand profitieren. Bei der Geige, die ich momentan bearbeite, bin ich an einer heiklen Stelle angelangt. Kannst du dir das mal anschauen?«

»Klar, mache ich.«

Die beiden verschwinden in Richtung Werkbank, und ich beschließe, mich ein bisschen in meinem Körbchen im Flur auszuruhen. Der Tag war doch sehr anstrengend, und die Taschenentführung hat mich ziemlich mitgenommen. Außerdem muss ich die ganze Zeit darüber nachdenken, wie wir die Tasche nun möglichst schnell zu Claudia Serwe schaffen.

Vielleicht fällt mir im Schlaf etwas dazu ein. Ein kleines Nickerchen käme mir ganz recht. Bevor mir die Augen zufallen, überlege ich noch kurz, ob Ninas 24-Stunden-Experiment etwas mit Alexander Klein zu tun haben könnte. War da nicht auch von 24 Stunden die Rede?



Luisa kommt an der Hand einer jungen Frau, die eine Art Uniform trägt, durch die großen Glasschiebetüren am Flughafen. Sie sieht uns, lässt die Frau los und stürzt auf uns zu.

»Carolin, Herkules! Das ist aber schön, dass ihr mich abholt! «

Sie fällt Caro um den Hals, die drückt das Mädchen herzlich.

»Das mach ich doch gerne. Ich war sogar ganz froh, dass Marc heute eine Fortbildung hat und ich einspringen konnte. Wie war es denn in München?«

»Och, das Fest bei Oma Burgel war ein bisschen langweilig. Das Beste war eigentlich, dass ich deswegen nicht zur Schule musste.«

Die Frau in der Uniform mischt sich ein. »Sind Sie Frau Neumann?«

»Ja, genau. Ich hole Luisa ab.«

»Können Sie sich ausweisen?«

»Sicher.« Carolin hält der Dame ein Kärtchen unter die Nase.

»Alles klar. Dann noch einen schönen Abend!«

»Danke.«

Gemeinsam laufen wir zum Ausgang.

»Na, Luisa, haben die sich denn gut um dich gekümmert an Bord?«, will Carolin wissen.

»Klar. Und einige von denen kennen mich ja. Mama ist doch auch Stewardess. Also bin ich fast Profi.«

Carolin lacht. »Dann ist ja gut. Gib mir doch deinen Koffer. Was hast du denn da alles drin? Der ist ja viel schwerer als auf dem Hinweg.«

»Oma hat mir noch ein paar Sachen gekauft. Und Mama hat mir auch noch etwas für Papa mitgegeben.«

»Aha. Was denn?«

»Ein Buch. Sie sagt, da hat sie sich neulich mit Papa drüber unterhalten, als sie ihn in Hamburg besucht hat.«

»Sie hat ihn in Hamburg besucht? Wann war denn das?«

Caros Stimme bekommt auf einmal einen ganz seltsamen Unterton, der mir überhaupt nicht gefällt. Aber Luisa bemerkt ihn nicht und plappert munter weiter. »Weiß nicht genau. Neulich irgendwann. Sie waren zusammen essen, weißt du, in dem Café, in das du auch immer so gerne gehst. Da hast du mir mal ein Eis gekauft.«

»Im Violetta?« Carolin klingt tonlos.

»Genau.«

Auf der Fahrt nach Hause sagt Carolin fast gar nichts mehr. Dafür unterhält sich Luisa mit mir, krault mich hinter den Ohren und wird nicht müde, mir zu versichern, wie toll der Tussi-Club ist und wie froh sie ist, wieder in Hamburg zu sein.

Carolin trägt Luisas Koffer nach oben und legt ihn auf ihr Bett. Sie setzt sich neben Luisa auf den Fußboden und guckt das Kind nachdenklich an.

»Luisa, darf ich das Buch für Papa mal sehen?«

»Logo.« Sie öffnet ihren Bärchenkoffer, kramt darin herum und gibt Caro schließlich ein Buch. Die nimmt es, guckt auf den Titel und schlägt die erste Seite auf. Neben den ganz geraden, dunklen Buchstaben hat offenbar jemand etwas in das Buch gemalt oder geschrieben – das ist für mich schwer zu unterscheiden.

»Sag mal, Luisa, Papa müsste in einer halben Stunde wieder da sein. Ich muss noch etwas in der Werkstatt erledigen. Meinst du, du kannst so lange allein bleiben?«

Luisa nickt.

»Klar, kein Problem.«

Caro steht vom Boden auf. »Komm, Herkules. Lass uns nochmal los.«

Ich habe auf einmal ein ganz, ganz ungutes Gefühl. Fast ein bisschen so wie an dem Tag, als mich der alte von Eschersbach in einen Karton setzte und ins Tierheim fuhr.

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