Komm Schatz, lass mich doch mit Herkules Gassi gehen. Wenn dein Fuß noch so weh tut, solltest du ihn lieber ein bisschen hochlegen, anstatt unserem Kampfdackel hinterherzuhinken.«
»Danke, das ist lieb von dir. Es geht zwar schon viel besser, aber so ganz in Ordnung ist mein Fuß tatsächlich noch nicht.«
Seit ihrem kleinen Unfall an der Alster lahmt Carolin. Und zwar gewaltig. Zudem hat sich herausgestellt, dass Marc sich zwar mit Pferdegelenken bestens auskennt, bei Menschen hingegen passen muss. Viel mehr als ein paar aufmunternde Worte und das Angebot, mit mir spazieren zu gehen, ist vom Herrn Doktor noch nicht gekommen. Das überrascht mich: Es kann doch nicht sein, dass Marc vom Hamster bis zum Elefanten alles behandelt, was durch seine Praxistür kommt, bei Carolin aber völlig ahnungslos ist. Ob er vielleicht keine Lust hat, sich um sie zu kümmern? Weil er mit seinen Patienten schon ausgelastet ist? Aber ein reines Zeitproblem kann es auch nicht sein: Immerhin hat sich Marc jetzt meine Leine geschnappt und scheint fest entschlossen, eine Runde mit mir zu drehen. Gut, ich muss nehmen, wen ich kriegen kann. Denn nicht nur, dass Caro schwächelt: Luisa ist dieses Wochenende gar nicht da.
Marc zieht sich eine Jacke über, dann geht es los. Wir steuern direkt auf den Park zu, das ist gewissermaßen unsere Stammstrecke. Nicht mehr besonders aufregend für mich, aber immer wieder gerne genommen. Kaum haben wir allerdings die ersten Bäume passiert, setzt sich Marc schon auf eine Parkbank. Ach nö – was soll das denn? Das ist doch wohl nicht wahr! Soll ich jetzt etwa im Kreis um die Bank laufen? Ich zerre an der Leine und belle.
»Keine Sorge, Herkules, es geht gleich weiter. Ich muss nur mal eben in Ruhe telefonieren. Dauert auch nicht lang.«
Okay, das kann sogar stimmen. Wenn Marc telefoniert, dann tatsächlich meist sehr kurz. Carolin hingegen kann stundenlang in das kleine Kästchen sprechen, das sie sich beim Telefonieren ans Ohr hält. Wie überhaupt alle Menschenfrauen, die ich bisher beim Telefonieren beobachtet habe, hier wesentlich mehr Ausdauer beweisen als Männer. Dann kann ich also nur hoffen, dass Marc nicht mit einer Frau telefonieren will. Ich setze mich neben die Bank.
»Hallo Sabine, Marc hier. Du hattest um Rückruf gebeten.«
Mist. Soweit ich weiß, ist Sabine ein Frauenname. Ich glaube, die eigentliche Mutter von Luisa heißt zum Beispiel so. Die Stimme, die ich dank meiner ausgezeichneten Ohren aus dem Telefon hören kann, ist auch tatsächlich die einer Frau. Das kann also dauern. Ich lege mich hin. Gähn. Vielleicht schlafe ich ein bisschen.
Bevor ich jedoch wegdämmern kann, ändert sich die Stimmung schlagartig von »langweilig« zu »explosiv«. Und nicht nur die Stimmung – vor allem Marcs Stimme bekommt auf einmal einen ganz schneidenden Ton.
»Ich muss dich gar nichts fragen. Ob meine Freundin bei mir einzieht, geht dich nichts an! Ich kann mich auch nicht erinnern, dass du mich gefragt hättest, bevor du mit deinem Flugkapitän abgehoben bist.«
Auch die Frau klingt auf einmal ganz aufgeregt. Ich kann zwar keine einzelnen Worte verstehen, aber ihre Stimme ist plötzlich hell und schrill.
»So, du machst dir Sorgen um deine Tochter? Das ist aber neu. Wo waren denn deine Muttergefühle, als du ausgezogen bist? Das war für Luisa mit Sicherheit schlimm.«
Sabine, Luisa? Marc scheint also tatsächlich mit Luisas Mutter zu telefonieren. Aber warum ist er denn so wütend? Ich dachte, das Konzept menschlicher Familie sei Harmonie. Davon ist Marc aber meilenweit entfernt: Er brüllt regelrecht. Verschreckt verkrieche ich mich unter der Parkbank. Jetzt springt Marc auf und geht vor der Bank auf und ab. Ich beobachte ihn aus sicherer Entfernung. Seine Aggression ist so greifbar, dass ich ein bisschen Angst bekomme. Sabine schreit auch irgendwas, aber Marc fällt ihr ins Wort.
»O nein, meine Liebe, so einfach ist es eben nicht. Wir waren uns einig, dass Luisa zu mir zieht. Das war eine gemeinsame Entscheidung. Wenn dir das heute nicht mehr schmeckt, ist das allein dein Problem.«
Jetzt wieder sie – weit kommt sie allerdings nicht. Marc unterbricht sie und schreit in den Hörer.
»Pass mal auf, Sabine: Ich bin endlich wieder glücklich, und das stinkt dir. So einfach ist das.«
Dann drückt er auf einen Knopf und steckt das Handy in seine Hosentasche. Er atmet tief durch, dann dreht er sich zu mir um.
»Herkules, was machst du denn unter der Bank? Komm da mal raus.«
Ich zögere. Er bückt sich und streckt mir eine Hand entgegen.
»Nun komm schon. Ich habe mich wieder beruhigt. Keine Schreierei mehr, versprochen.«
Kaum stehe ich neben ihm, nimmt mich Marc auf einmal auf den Arm und drückt mich fest an sich. Hoppla, so kuschelig ist er doch sonst nicht! Ich frage mich, ob diese plötzliche Gefühlsanwandlung mit dem Telefonat zu tun hat. Was hat Luisas Mutter bloß zu ihm gesagt, das ihn so aufgeregt hat? Ich würde es wirklich gerne wissen, denn so habe ich Marc noch nie erlebt. Der ist eigentlich ein sehr besonnener Mensch.
Er setzt mich wieder auf den Boden und dreht sich um.
»So, mein Lieber. Jetzt kommst du endlich zu deinem Recht: einem ausgedehnten Spaziergang. Wir werden uns doch von der blöden Kuh nicht den Tag verderben lassen, Kumpel! Wir sind gut drauf, oder?«
Ich mag mich täuschen, aber diese plötzliche Fröhlichkeit wirkt auf mich irgendwie … gekünstelt und Marc eher verzweifelt als guter Dinge. Um ihn aber nicht noch mehr runterzuziehen, gebe auch ich mich nun geradezu kämpferisch gut gelaunt und belle aufmunternd. Hoffe ich jedenfalls.
»Ich habe dir doch gleich gesagt, dass es mit gebrauchten Männern etwas schwieriger wird. Und das liegt unter anderem an den alten Frauen.«
Marc hat gestern kein Wort mehr über sein Gespräch mit Sabine verloren – selbst Carolin hat er meines Wissens nichts davon erzählt. Ich bin also immer noch ratlos, was diesen Gefühlsausbruch seinerseits verursacht haben könnte, und habe mich daher heute umgehend an den Spezialisten in Menschenfragen gewandt: Herrn Beck.
Der liegt neben mir auf dem Rasen und erläutert mir haarklein die Tücken der menschlichen Familie. Beck ist hier unglaublich versiert: Sein altes Herrchen, der Bruder von Frau Wiese, war Anwalt und als solcher oft mit Familienfragen befasst. Menschen, die ihren Partner loswerden wollten, kamen zu ihm, und auch solche, die sich darüber streiten wollten, bei wem die Menschenkinder künftig wohnen, zählten zu seinen Kunden. Ich mag es kaum glauben, aber das Thema Familie scheint wirklich unglaublich kompliziert zu sein.
»Aber was haben denn alte Frauen mit gebrauchten Männern zu tun? Das verstehe ich nun überhaupt nicht. Marc ist gebraucht, das habe ich jetzt geschnallt. Aber wenn Sabine die Mutter von Luisa ist, dann ist sie doch wahrscheinlich noch gar nicht so alt.«
»Ich meine doch nicht alt im Sinne von alt.«
»Nein?«
Okay, vielleicht verstehe ich es auch einfach nicht, weil Beck es so schlecht erklärt.
»Ich meine: Wenn Carolin die neue Frau von Marc ist, dann ist Sabine die alte. Kapiert?«
»Aha. Aber wo ist das Problem? Die Frauen begegnen sich doch nie. Marc wohnt schließlich nicht mit beiden zusammen. Obwohl das in der freien Wildbahn jeder Dackelrüde so machen würde – also, mit all seinen Frauen zusammenleben, neuen, alten, jungen, betagten, einfach allen. Behauptet jedenfalls mein Opili. Und wenn Marc sich das aussuchen kann, dann könnte er doch …«
Beck atmet schwer.
»Unsinn. Das kann sich Marc doch nicht aussuchen! Was denkst du denn. Da würden ihm die beiden Damen aber aufs Dach steigen!«
»Ja, schon klar. Die Menschen bilden Pärchen, weiß ich doch. Aber dann verstehe ich den ganzen Ärger noch weniger. Marc hat doch dann alles richtig gemacht. Ein neues Pärchen gebildet. Mit Carolin. Damit hat doch dann die alte Frau gar nichts zu tun.«
»Wenn du mir nun endlich mal zuhören würdest, anstatt hier immer alles zu kommentieren, würde ich es dir erklären.«
Ich nicke schuldbewusst. »Okay, ich halt die Klappe.«
»Das Problem mit den alten Frauen ist doch Folgendes: Menschen als denkende Wesen können die Vergangenheit einfach nicht ruhen lassen. Während der durchschnittliche Hund sich maximal noch daran erinnern kann, was vergangene Woche alles so passiert ist, und selbst eine Katze selten mehr als den vergangenen Monat auf dem Zettel hat, hängen Menschen gerne ganzen Jahren nach. Ich habe es bei meinem Herrchen gesehen: Die Menschenpaare trennen sich, aber dann verbringen sie immer noch genauso viel Zeit mit Streitereien. Sie sind wie gefangen in der Vergangenheit. Und besonders schlimm kann das werden, wenn Menschenkinder zu der ganzen Geschichte gehören. Weil Mann und Frau dann ja tatsächlich immer noch miteinander zu tun haben, als Vater und Mutter.«
Ein interessantes Konzept. Natürlich habe ich auch an meiner Mutter gehangen. Aber man wird als Hund schnell unabhängig von den Eltern. Deckrüde und Hündin wohnen meist sowieso nicht zusammen. Streit über den Aufenthalt des Nachwuchses kann es nicht geben, weil der Züchter den bestimmt. Kein Wunder, dass Menschen ständig Probleme haben. Sie machen es sich einfach zu schwer.
»Also, so wie du es erzählst, wird wohl Folgendes passiert sein: Sabine und Marc haben beschlossen, dass Luisa bei Marc wohnen soll. Leider hat Marc dann vergessen, Sabine zu erzählen, dass Carolin bei ihm einzieht. Und jetzt ist Sabine sauer, weil sie nicht will, dass ihr Kind mit einer fremden Frau zusammenlebt, ohne dass sie vorher gefragt wurde. Vielleicht hat sie auch Angst, dass Carolin ihr die Mutterrolle streitig macht.«
»Hä?«
»Ja, Letzteres ist für Fortgeschrittene. Das erkläre ich dir ein andermal genauer. Momentan verspüre ich tatsächlich ein leichtes Hungergefühl. Weißt du, Nina kocht jetzt immer für mich, und wahrscheinlich wartet schon etwas ganz Leckeres in meinem Napf. Ich sehe dich später!«
Spricht’s, steht auf und verschwindet. So, so. Nina kocht für Herrn Beck. Und der verbringt seine Zeit offenbar lieber mit seiner neuen Freundin als mit mir. Dabei wollte ich ihm noch von Cherie erzählen. Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass Hundedamen nicht gerade in Herrn Becks Kernkompetenz fallen. Trotzdem hätte ich mich gerne mal mit jemandem ausgetauscht. Oder besser: jemandem von Cherie vorgeschwärmt. Und nun lässt mich dieser alte Kater schnöde hier sitzen. Wer hätte das gedacht? Und warum kocht eigentlich niemand für mich?
Bevor ich mich weiter mit dieser Frage befassen kann, streckt Carolin ihren Kopf durch die Terrassentür und ruft nach mir. Ob sie vielleicht Ninas leuchtendem Beispiel gefolgt ist und auch etwas Leckeres für mich vorbereitet hat? Neugierig trabe ich in Richtung Werkstatt.
»So, Herkules, heute machen wir mal früher Feierabend. Ich habe Marc versprochen, dass wir Luisa von der Schule abholen. Der Hort fällt heute aus, wir werden uns also ein bisschen um die junge Dame kümmern.«
Gut, dagegen ist nichts zu sagen – aber was ist denn mit meinem Mittagessen? Oder bekomme ich nicht nur nicht etwas Selbstgekochtes, sondern insgesamt nix? Carolins Kinderliebe in allen Ehren und auch wenn mir langsam klar wird, dass die menschliche Brutpflege eine ganz delikate Angelegenheit ist: Das geht nun echt zu weit! Luisa wird schon keinen Schaden nehmen, nur weil sie vielleicht ein bisschen vor der Schule warten muss. Ich werde auch häufiger vor dem Supermarkt angebunden und muss mich dann gedulden, bis Carolin mit dem Einkaufen fertig ist. Meines Wissens hat sich noch kein einziger Mensch darüber Gedanken gemacht, wie es mir eigentlich damit geht.
Aber so wie es aussieht, fällt das Essen tatsächlich aus, denn Carolin hat schon ihre Jacke an und wedelt mit dem Autoschlüssel. Ein eindeutiges Signal zum Aufbruch. Normalerweise erledigt Carolin alles zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Werkstatt, Marcs Haus und die Schule liegen schließlich so dicht beieinander, dass es selbst für Menschen keine unüberwindbare Distanz darstellt. Doch mit Hinkefuß ist die sonst so bewegliche Carolin zum Autofahrer mutiert. Nun gut, dann muss ich eben hungern. Wenn ich deshalb gleich die Autositze fresse, ist Carolin selbst schuld. Ich knurre leise vor mich hin, aber dieses Zeichen meines Protests wird von Carolin komplett ignoriert. Stattdessen scheucht sie mich aus der Werkstatt und schließt die Tür hinter uns. Hier im Treppenhaus riecht es verführerisch lecker nach gekochtem Hühnchen. Wahrscheinlich eigens für Herrn Beck zubereitet. So eine Gemeinheit!
Schlecht gelaunt hüpfe ich auf den Beifahrersitz. Eigentlich mag ich Luisa sehr gerne, aber gerade entdecke ich, dass das Zusammenleben mit einem Kind auch ganz offenkundig Nachteile hat. Man spielt als Hund eindeutig nur noch die zweite Geige. Es ist wahrscheinlich der Hunger, aber ich kann mich nicht daran hindern, in Selbstmitleid zu versinken. Was bin ich nur für ein armer Hund! Es ist noch nicht so lange her, da gab es nur Carolin und mich. Das war herrlich. Sie hatte jede Menge Zeit für mich, wir haben auf dem Sofa gekuschelt, und ab und zu durfte ich in ihrem Bett schlafen. Dann kam Marc dazu. Das war auch noch in Ordnung, immerhin war Carolin seitdem deutlich ausgeglichener und glücklicher. Ab und zu hat uns Luisa besucht, und wir waren eine kleine Familie auf Zeit. Vielleicht war das ideal, und es wäre besser so geblieben. Herr Beck hatte Recht. Damals war alles besser: Luisa spielte und schmuste mit mir, fütterte mich, ich war für sie auch etwas Besonderes, denn zu Hause, bei ihrer Mutter, gab es offensichtlich keine Tiere. Das habe ich gleich gerochen. Jetzt bin ich natürlich nichts Besonderes mehr, und es spielt nicht einmal eine Rolle, dass ich …
»Herkules, mein Süßer! Komm, lass dich mal richtig knuddeln! «
Luisa reißt die Autotür auf und nimmt mich sofort auf den Arm. Sie drückt mich fest an sich, vergräbt ihr kleines Gesicht in meinem Fell und bläst mir ihren warmen Kinderatem ins Genick. Das kitzelt zwar, ist aber trotzdem ein schönes Gefühl. Dann hebt sie mich hoch und guckt mir direkt in die Augen.
»Weißt du, ich freue mich immer, wenn ich dich sehe! Ich glaube, du bist mein bester Freund.«
Ich merke, wie mein Herz einen kleinen Hüpfer macht. Luisa ist einfach ein ganz tolles Mädchen, ich bin wirklich froh, dass es sie gibt. Das mit dem Freund stimmt schon – Kinder und Hunde passen super zusammen. Man ist einfach gleich auf Augenhöhe. Ich schlecke ihr einmal quer übers Gesicht, und sie quietscht vor Freude.
»Komm, Luisa, steig ein! Ich glaube, Herkules hängt der Magen schon auf den Knien, ich hatte eben keine Zeit mehr, ihn zu füttern. Wahrscheinlich frisst er mir gleich die Autositze auf.«
So ein Quatsch! Die Autositze? Absurd. So einen riesigen Hunger habe ich nun auch wieder nicht. Ist doch wohl wichtiger, dass Luisa erst mal heil nach Hause kommt.