FÜNF




Kleiner? Alles in Ordnung bei dir?«

Als ich aus meiner Blitzohnmacht wieder erwacht bin, ist Cherie noch ein Stück näher an mich herangerückt und betrachtet mich neugierig.

»Du warst eben total weggetreten. Geht es dir nicht gut?«

»Äh, doch, blendend.«

»Ich kenn dich. Du warst im letzten Jahr mit deinem Frauchen hier. Sie hatte ein Date, und du hattest Angst, sie könnte Schluss machen. Was sie wohl auch getan hat, wenn ich mir den Typen neben ihr ansehe. Das ist eindeutig ein anderer.«

Stimmt. Im letzten Sommer bin ich Cherie hier schon einmal begegnet. Sie lag unter dem Nachbartisch, als Carolin eine Verabredung mit Jens, dem Schauspieler, hatte. Damals waren wir noch auf Männersuche, und eigentlich erfüllte Jens alle Anforderungen an ein zukünftiges Herrchen. Er ging gerne spazieren, brachte Hundewurst mit und hatte auch Eigenschaften, die bei Menschenfrauen für Begeisterung sorgen: nämlich blaue Augen und ein Auto ohne Dach. Leider hatte er ganz vergessen zu erzählen, dass er bereits eine Freundin hatte. Das kam bei Carolin natürlich nicht so gut an, und so mussten wir Jens dann wieder loswerden.

Wieso ist mir damals nicht aufgefallen, wie sensationell Cherie aussieht und riecht? Dass es sich bei ihr wahrscheinlich um die tollste Hündin der Welt handelt? Also, hübsch fand ich sie damals auch, daran kann ich mich noch erinnern. Aber wiedererkannt habe ich sie jetzt trotzdem nicht. Ob sie irgendwie schöner geworden ist? Oder hat sich irgendetwas bei mir geändert? Kann ich auf einmal besser sehen und riechen? Mysteriös.

Schmeichelhaft ist allerdings, dass sich Cherie noch an mich erinnert hat. Ich bin eben ein Mann, der Eindruck hinterlässt. Klasse! Beste Voraussetzung, um mal ein Rendezvous unter uns Vierbeinern klarzumachen.

»Schön, dass du noch weißt, wer ich bin.«

»Wie könnte ich das vergessen! Du hast an dem Abend so ein Theater gemacht, dass ich zuerst dachte, du hättest eine Blasenschwäche. Mindestens. Wenn nicht etwas Schlimmeres. Ständig bist du unter dem Tisch hervorgeschossen und hast gebellt. Und dann hast du mir erklärt, dass du das nur machst, damit sich dein Frauchen in den richtigen Kerl verliebt. Das war wirklich die verrückteste Geschichte, die ich je gehört habe. Bellen für die Liebe – wie bescheuert ist das denn?«

Sie lacht. Und ich schäme mich in Grund und Boden. Stimmt, so war das damals. Peinlich. Wie soll ich diesen verheerenden Eindruck wieder wettmachen? Denn dass ich ihn wettmachen muss, steht fest. Cherie ist möglicherweise die Frau meines Lebens. Ach was, ganz sicher ist sie das. Ich überlege fieberhaft, was ich nun Schlaues sagen könnte. Leider fällt mir überhaupt nichts ein.

»Nun schau mal nicht so bedröppelt, Kleiner. Ich meine, die Idee war bescheuert, aber auch irgendwie ganz romantisch. Und außerdem warst du doch noch ein halbes Kind. Da kann man schon mal auf solche Gedanken kommen.«

Gut, tröstlich, dass Cherie mich anscheinend nicht für einen Vollidioten hält. Nicht ganz so tröstlich ist, dass sie mich Kleiner nennt. Ich bin zwar neu im Flirt-Geschäft, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die mehrfache Verwendung dieser Anrede ein Zeichen für die abgrundtiefe Bewunderung des so Angesprochenen ist. Großer wäre da vermutlich besser. Mir ist natürlich klar, dass ich gemessen an einem Golden Retriever tatsächlich klein bin, aber es muss doch möglich sein, diese fehlenden Zentimeter irgendwie auszugleichen.

In diesem Moment schießt etwas an unserem Tisch vorbei. Groß, schwarz und schnell. Ehe ich noch sehen kann, um wen oder was es sich dabei handelt, ist es auch schon verschwunden. Und zwar in der Alster. Mit einem riesigen Satz. Sensationell! Ich springe unter unserem Tisch hervor. Das muss ich mir genauer ansehen. Auf die gleiche Idee kommt auch Cherie, gemeinsam laufen wir zu dem kleinen Bootssteg, der dem Gartenlokal vorgelagert ist.

Vorne angekommen, starren wir beide neugierig auf die Stelle, wo das Ding eben verschwunden ist. Die vielen Luftblasen verraten, dass sich unter der Wasseroberfläche mehr befinden muss als ein paar kleine Fische. Und richtig – in diesem Moment taucht Es auf: ein riesiger schwarzer Labrador, der in der Schnauze eine Art großen Ring hält. Ein paar kräftige Schwimmzüge, schon ist er am Steg angelangt, springt aus dem See und schüttelt sich kräftig. Wasser spritzt nach allen Seiten, wir werden richtig nass, aber zumindest Cherie scheint das nicht zu stören.

»Wahnsinn, was für ein toller Typ!«

Ein junger Mann läuft auf den Wahnsinnstypen zu und nimmt ihm den Ring ab.

»Gut gemacht, Alonzo!«

Alonzo. Was für ein beknackter Name.

»Alonzo! Was für ein toller Name!«

Die letzten Worte sind fast nur ein Hauchen. Cherie ist offensichtlich hin und weg. Verdammt. Wenn der Cheries Vorstellung vom Traummann nahe kommt, bin ich weiter als weit davon entfernt, ihr zu gefallen. Alonzos Herrchen holt jetzt noch einmal aus und wirft den Ring wieder in die Alster. Der Labrador springt sofort hinterher. Cherie hält den Atem an. Wenig später taucht Alonzo mit dem Ring in der Schnauze wieder auf. Ich muss zugeben, dass ich auch ein klein bisschen beeindruckt bin. Wie hat er den Ring im See bloß noch gesehen? Das Wasser der Alster ist nicht gerade das, was man glasklar nennen würde.

»Hast du das gesehen, Kleiner? Toll, oder? Wie hat er den Ring so schnell gefunden? Und was für ein guter Schwimmer er ist. Wir Golden Retriever sind ja auch nicht schlecht im Wasser, aber dieser Alonzo ist wirklich unglaublich! So sportlich, super!«

Na ja, also sportlich bin ich auch. Vielleicht könnte ich auch einen Ring aus dem Wasser fischen? Ob Cherie dann beeindruckt wäre? Und ich in ihren Augen gleich ein Stück größer? Alonzo hat in der Zwischenzeit den Ring noch zwei weitere Male apportiert. Und immer, wenn er an Land kommt, wirft er Cherie heiße Blicke zu. Der Angeber! Aber der wird sich noch wundern! Als sein Herrchen das nächste Mal den Ring wirft, zögere ich keine Sekunde.

Das Wasser ist nicht so kalt, wie ich dachte. Allerdings ist es tatsächlich sehr trüb. Ich sehe noch kurz, in welche Richtung der Ring sinkt, dann muss ich mich auf meine Intuition verlassen. Schnell tauche ich tiefer und paddle in die Richtung, in der ich den Ring vermute. Meine Schnauze stößt gegen etwas – das muss er sein! Entschlossen packe ich zu und habe tatsächlich den Ring erwischt. Bravo, Carl-Leopold! Du bist eben doch ein Großer.

Ich tauche wieder auf und will Richtung Steg schwimmen. Aber das geht auf einmal gar nicht mehr so leicht. Irgendetwas scheint mich zurückzuziehen, jeder Schwimmzug fällt mir schwer. Mit Mühe kann ich meinen Kopf noch über Wasser halten, immer wieder drückt es mich unter die Wasseroberfläche. Wahrscheinlich wäre es besser, den Ring einfach wieder loszulassen, aber das will ich auf keinen Fall. Ich kann Opilis Stimme hören: Ein von Eschersbach gibt niemals auf! Verdammt, was ist bloß los? Je mehr ich mich anstrenge, desto schwerer fällt es mir, Richtung Steg zu paddeln. Das Wasser, das eben noch ruhig und glatt war, hat auf einmal regelrechte Strudel bekommen, die mich immer wieder hinunterziehen.

Ich werfe einen Blick nach hinten – und bekomme Panik: Ein riesiges Schiff fährt direkt hinter mir vorbei, und riesige Wellen kommen direkt auf mich zu. Schnell will ich mich wegducken, aber das ist aussichtslos, denn langsam geht mir die Luft aus, und ich werde Richtung Schiff gezogen. Ich paddle noch einmal nach Kräften, dann wird mir schwarz vor Augen, und ich merke, wie ich immer tiefer sinke.

In diesem Moment fährt mir ein stechender Schmerz in den Nacken, irgendetwas packt mich und reißt mich wieder nach oben. Ich will mich umdrehen, bin aber zu schwach. Alles, was ich sehen kann, sind Sternchen vor meinen Augen. Ich lasse den Kopf wieder sinken und bewege mich nicht mehr. Dann werde ich aus dem Wasser gehoben. Einen Moment bleibe ich regungslos liegen, nach einer Weile öffne ich die Augen. Wie auch immer ich wieder hier hingekommen bin: Ich liege auf dem Steg und lebe noch.

»Mensch, Kleiner, was machst du denn für Sachen?«

Ich blinzle nach oben ins Licht und sehe direkt in Cheries Augen. Sie ist klitschnass und grinst mich an.

»Also, wenn du das nächste Mal ins Wasser springst und Hilfe brauchst, sag doch bitte vorher Bescheid. Dann achte ich nämlich darauf, dass ich keine Leine mehr am Halsband habe. Das war doch sehr lästig.«

Oh! Mein! Gott! Cherie hat mich gerettet. Okay, die Sache ist durch. Selbst wenn ich doppelt so groß wäre – nach dieser Aktion stehe ich garantiert nicht als Held da. Ich schließe die Augen wieder und wünschte, ich wäre einfach auf den Grund der Alster gesunken. Da stupst mich Cherie in die Seite.

»Was mich allerdings wirklich beeindruckt: Du hast immer noch den Ring in der Schnauze.«

Sag ich ja: Ein von Eschersbach ist ein echter Kämpfer! Auch wenn ich mich gerade überhaupt nicht so fühle.

»Herkules! Bist du von allen guten Geistern verlassen?!«

Jetzt sind auch Marc und Luisa am Steg angelangt, und insbesondere Marc scheint irgendwie sauer zu sein.

»Du kannst doch nicht einfach in die Alster springen! Um ein Haar wärst du abgesoffen! Wenn der Retriever dich nicht im letzten Moment rausgezogen hätte, wärst du jetzt tot. Du bist direkt vor den Ausflugsdampfer gesprungen – wie kann man nur so blöd sein?«

Okay, Marc ist sauer. Unter normalen Umständen würde ich mich jetzt möglichst schuldbewusst geben, aber ich bin zu erschöpft und bleibe einfach so liegen, wie mich Cherie auf den Steg geschleppt hat. Wenigstens Luisa scheint Mitleid zu haben, sie kniet sich neben mich und streichelt mich.

»Nicht so schimpfen, Papi. Du siehst doch, wie schlecht es Herkules geht.«

»So eine Dummheit aber auch! Wie ist er bloß auf die Idee gekommen?«

»Schimpfen Sie nicht mit ihm – das war eigentlich nicht seine Schuld.«

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Cheries Frauchen vom Tisch aufgestanden und auch auf den Steg gekommen ist.

»Hier hat eben jemand seinen Labrador ständig diesen Ring apportieren lassen. Offensichtlich wollte Ihr Kleiner es auch einmal versuchen. Dass das Schiff so nah an den Steg kommen würde, konnte er sicher nicht ahnen. Der Herr mit dem Labrador ist dann ganz fix verschwunden. Wahrscheinlich das schlechte Gewissen. Ist ja auch eine doofe Idee, eine Hundesportstunde im Gartenlokal abzuhalten.«

Genau! So gesehen bin ich gar nicht schuld.

»Da haben Sie Recht. Wenn der Retriever nicht gewesen wäre, hätte Herkules vielleicht das Zeitliche gesegnet.«

»Ja, unsere Cherie hat eine sehr zupackende Art.«

»Ach, ist das Ihr Hund? Vielen Dank! Da muss ich ja wohl mal eine Fleischwurst springen lassen für die Dame! Wissen Sie, unser Herkules neigt ab und zu zur Selbstüberschätzung. Ist halt noch ein Teenager.«

Pah! Ist das etwa Solidarität mit den eigenen Familienmitgliedern? Und was heißt hier Selbstüberschätzung? Immerhin habe ich den Ring sofort erwischt. Wenn das doofe Schiff nicht gekommen wäre, wäre das ein Ia-Auftritt meinerseits gewesen. Ich hebe den Kopf und versuche, Marc möglichst böse anzugucken, was der natürlich ignoriert. Stattdessen plaudert er auch gleich noch meine finstersten Geheimnisse aus.

»Bestimmt wollte er auch den größeren Hunden imponieren. Wissen Sie, Herkules ist ein Dackelmix, zu einer Hälfte Terrier. Und die fühlen sich doch gerne mal größer, als sie eigentlich sind. Mutige Hunde, aber manchmal etwas unvorsichtig.«

Vielen Dank, Marc. Jetzt weiß wenigstens auch Cherie, dass ich nicht reinrassig bin. Heute bleibt mir auch nichts erspart. Es mag Einbildung sein – aber ich glaube, Cherie guckt mich bereits abschätzig an. Ich lege den Kopf wieder auf den Steg. Was für ein furchtbarer Tag.

»Hm, er sieht aber noch ganz schön schlapp aus. Meinen Sie, er ist okay? Vielleicht gehen Sie besser mit ihm zum Tierarzt.«

Jetzt mischt sich Luisa ein.

»Das brauchen wir nicht. Papa ist selbst Tierarzt.«

»Ach so? Das ist natürlich praktisch. Hier in der Nähe?«

»Ja, ich habe meine Praxis gleich hinter dem Helvetia-Park. «

»Das ist gut zu wissen – unser Tierarzt ist nämlich gerade in den Ruhestand gegangen und hat die Praxis aufgelöst. Jetzt suche ich einen neuen, falls mal was mit Cherie sein sollte.«

»Na, das wäre mir natürlich eine Ehre, die tapfere Lebensretterin zu behandeln. Warten Sie, ich glaube, ich habe eine Karte dabei.«

Er greift in die Hosentasche und zieht ein Stück Karton heraus.

»Bitte sehr – Marc Wagner. Ich würde mich freuen, Sie beide zu sehen.«

»Danke, ich heiße Claudia Serwe. Ich komme bestimmt bald mal mit Cherie vorbei. Spätestens bei der nächsten Wurmkur.«

Hm, das ist nun eine unerwartete, aber ausgezeichnete Wendung. Wenn Cherie erst mal in Marcs Praxis aufkreuzt, kann ich die Scharte von eben vielleicht auswetzen. Als Hund des Tierarztes genießt man doch ein gewisses Ansehen bei den Patienten. Das ist meine Chance, und ich werde sie nutzen!

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