NEUN




Ich habe sie wirklich noch nie gesehen. Da bin ich mir ganz sicher. Und trotzdem riecht sie irgendwie vertraut. Seltsam. Wie kann das sein? Nina scheint es interessanterweise ähnlich zu gehen. Kommt ihr die Frau auch bekannt vor? Sie schaut hin, schaut kurz wieder weg, überlegt, schaut nochmal hin. Dann öffnet sie die Tür ein Stück weiter.

»Ja, bitte?«

Die fremde Frau macht einen Schritt nach vorne. Der vertraute Geruch weht mir nun direkt in die Nase. Es riecht ein bisschen nach … hm … nach … Luisa!

»Hallo. Ich bin Sabine. Sie müssen Carolin sein. Darf ich reinkommen?«

»Marc ist nicht da«, beeilt sich Nina zu sagen.

»Schade.« Die Frau denkt kurz nach. »Wobei – vielleicht ist es auch gar nicht schlecht, wenn wir beide uns mal unterhalten.«

Hey, Nina, vergiss es! Du bist doch gar nicht Carolin. Und das ist auch gar nicht deine Wohnung – willst du diese Fremde wirklich reinlassen? Ich merke, wie sich jede Muskelfaser in meinem Körper anspannt. Lass! Sie! Nicht! Rein!, würde ich am liebsten laut rufen. Stattdessen muss ich mich aufs Knurren beschränken. Dackel sind zwar eigentlich Jagdhunde, aber vielleicht sorgt der Terrieranteil in mir auch für gewisse Wachhundqualitäten.

Die fehlen Nina leider völlig. Sie zögert nur kurz, dann öffnet sie die Tür ganz. Die Frau betritt unseren Flur und schaut sich fragend um. Ich bleibe bei der Tür stehen und mustere sie aus den Augenwinkeln. Sie ist groß und schlank und hat dunkle, gelockte Haare, genau wie Luisa. Warum sagt Nina dieser Sabine nicht einfach, dass sie heute Abend nur der Babysitter ist, und schmeißt sie dann raus?

»Kommen Sie doch bitte mit ins Wohnzimmer. Hier entlang.«

»Ich weiß. Meine Schwiegereltern haben hier früher gelebt. « Der letzte Satz kommt schnell und scharf. Sehr scharf. Meine Nackenhaare beginnen, sich zu sträuben. Diese Frau ist gefährlich, das ist eindeutig. Hoffentlich ist sie nicht bewaffnet, immerhin hat sie eine sehr große Handtasche dabei. Ich halte mich jetzt dicht an Nina, bereit, sie sofort zu verteidigen.

Noch allerdings geht die Frau nicht in eine Angriffshaltung über. Sie mustert Nina.

»Komisch. Ich hatte Sie mir ganz anders vorgestellt.«

Kein Wunder. Das ist ja auch gar nicht Carolin. Nina, was ist los mit dir? Klär das auf, und zwar bevor sie dich anfällt und niederschlägt. Riechst du die Gefahr etwa nicht?

Natürlich nicht. Stattdessen geht sie ins Wohnzimmer vor und bietet der Frau mit einer Handbewegung einen Platz auf dem Sofa an. Wozu haben Menschen eigentlich eine Nase im Gesicht? Die ist komplett überflüssig. Ich habe mir das schon öfter gedacht. Meistens stört es mich nicht – jeder hat eben seine Schwächen. Aber gerade im Moment regt es mich schon auf, dass Nina diesen stechend aggressiven Duft, der die Frau umweht, so gar nicht wahrnimmt.

Wer allerdings auch nichts wahrnimmt, ist Herr Beck. Der liegt nach wie vor auf dem Sofa. Ist anscheinend eingeschlafen. Himmel, bin ich hier denn der Einzige, der den Ernst der Lage erkannt hat? Nur zwei Türen weiter schläft Luisa friedlich in ihrem Bett. Was, wenn die Fremde, die behauptet, Sabine zu sein, unser Kind rauben will?

Nina setzt sich neben Herrn Beck, der tatsächlich angefangen hat zu schnarchen. Ich lege mich vor ihre Füße. Von hier aus habe ich die potentielle Angreiferin genau im Blick, sie hat sich nämlich in den Sessel gegenüber vom Sofa gesetzt.

»Womit kann ich Ihnen denn helfen?«, beginnt Nina das Gespräch betont freundlich.

»Sie haben keine eigenen Kinder, oder?«

Ha! Ich hab’s gewusst! Es geht um Luisa! Nina schaut schwer irritiert. Klar, die Frage nach eigenen Kindern würde auch die Dackelin krummnehmen. Klingt glatt so, als ob man ihr unterstellt, nicht für die Zucht geeignet zu sein.

»Äh, nein, noch nicht.«

»Dann können Sie auch nicht wissen, wie sich das anfühlt.«

»Was denn?«

»Wenn das eigene Kind zu einer fremden Frau zieht. Das kann sich niemand vorstellen, der es noch nicht erlebt hat.«

Nina legt den Kopf schief.

»Na ja, ich habe zwar keine Kinder, aber ich bin Psychologin, also da …«

»Ach? Ich dachte, Sie seien Geigenbauerin. Hat Marc jedenfalls behauptet.«

»Natürlich … äh … richtig. Ich meinte damit nur, dass ich auch mal ein paar Semester Psychologie studiert habe. Nach meiner Ausbildung, weil es mich so interessiert hat.«

Sabine zieht die Augenbrauen hoch, und Ninas Gesichtsfarbe wird deutlich dunkler. Lügen ist eben gar nicht so einfach. Als Hund sowieso nicht, aber auch als Mensch muss man so einiges beachten, damit man nicht auffliegt. Trotzdem machen sie es sehr oft. Also, ich meine: lügen. Der alte von Eschersbach wurde seinerzeit nicht müde, die Schlechtigkeit von lügenden Menschen hervorzuheben, und anfangs hat es mich auch schwer irritiert, wenn ich einen Menschen dabei erwischt habe. Aber mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es ein wichtiger Bestandteil menschlicher Kommunikation ist und die meisten Menschen die ein oder andere Lüge in ihrem Alltag fest einkalkulieren. Mit einer kleinen Lüge hier und da schummeln sie sich so durch, es macht ihr Leben einfacher.

Ninas Lüge scheint mir aber ein ganz anderes Kaliber zu sein. Nicht die Sorte Ich war schon mit dem Hund draußen oder Natürlich habe ich beim Zahnarzt angerufen. Immerhin tut sie einfach so, als sei sie ein anderer Mensch. Ich frage mich nur, warum? Sie könnte doch auch einfach zugeben, der Babysitter zu sein, und dann wären wir vermutlich auch schnell diese unangenehme Frau los.

»Auf alle Fälle muss ich mit Marc sprechen, wie es nun weitergeht. Denn so geht es nicht weiter, das steht schon mal fest. Ich habe neulich versucht, mit ihm am Telefon darüber zu sprechen, aber da hat er mir einfach den Hörer aufgelegt. Hat er Ihnen das erzählt?«

Aha, das Telefonat im Park. Nun bin ich auf einmal doch ganz Ohr.

»Nein, das wusste ich nicht.«

»Das wundert mich nicht. Marc ist so ein konfliktscheuer Idiot. Deswegen bin ich jetzt nach Hamburg geflogen. Ich habe mir extra zwei Tage freigenommen.«

»Was ich nicht ganz verstehe – es war doch eigentlich auch Ihre Idee, dass Luisa zu uns zieht. Wo ist denn jetzt das Problem?«

Sabine schnappt hörbar nach Luft. »Wo das Problem ist? Es war eben nicht meine Idee, dass Luisa zu Ihnen zieht. Als ich das mit Marc besprochen habe, war er noch Single. Es war überhaupt keine Rede davon, dass er mit einer Frau zusammenziehen würde. Es gab Sie noch gar nicht.« Wütend funkelt sie Nina an, die verschränkt die Hände vor der Brust.

»Sie können Marc doch nicht verbieten, mit einer Frau zusammenzuziehen. Oder erwarten Sie, dass er im Zölibat lebt?«

Zöli-was?!

»Natürlich nicht. Ich erwarte nur, dass er mir erzählt, wenn so etwas Wichtiges in seinem Leben passiert. Vor allem, wenn es auch mein Kind betrifft.«

Nina lässt die Arme sinken.

»Hat er Ihnen das denn nicht erzählt?«

»Nein.«

»Oh.«

»Ja. Oh. Ich habe es erst von Luisa bei ihrem letzten Besuch erfahren.«

Nina schüttelt den Kopf. »Gut, Männer gehen einem Streit in der Tat gerne mal durch das klassische Aussitzen aus dem Weg. Aber in diesem Fall war das vielleicht nicht so geschickt.«

Sabine springt von dem Sessel auf. »Nicht so geschickt? Es hat mich extrem gekränkt! Mein Kind wohnt nun mit einer fremden Frau zusammen, und ich erfahre es nur durch Zufall. So geht das nicht. Ich kann wohl zu Recht erwarten, dass Marc in diesem Punkt auch auf meine Gefühle Rücksicht nimmt.«

»Okay, wahrscheinlich hat er sich gedacht, da Sie doch auch mit einem neuen Partner …« Weiter kommt Nina nicht, denn Sabine schießt auf sie zu und bleibt erst ganz kurz vor ihr stehen. Dabei tritt sie mir fast auf den Schwanz, so dass ich erschreckt aufheule. Das ignoriert die Furie komplett, sie wettert einfach drauflos.

»Ja, ja, damit kommt Marc auch am liebsten um die Ecke: Dass ich diejenige war, die ihn verlassen hat und dass ich ihn Knall auf Fall für Jesko habe sitzen lassen. Und dafür lässt er mich jetzt büßen, oder wie? Meinen Sie, mein lieber Exmann hat sich schon ein einziges Mal gefragt, warum ich ihn verlassen habe? Zu einer Trennung gehören immer zwei. Jesko war vielleicht der Anlass, aber er war mit Sicherheit nicht der Grund.«

Tollwut. Ein ganz klarer Fall von Tollwut. Ich kann es jetzt nicht so genau sehen, weil Sabine direkt über mir steht, aber ich bin mir sicher, dass sie Schaum vor dem Mund hat. Tragisch, denn eigentlich muss man die Frau bei dieser Diagnose sofort erschießen. Ich weiß allerdings nicht, ob Marc ein Gewehr im Haus hat. Er ist da sehr schlecht sortiert, fürchte ich.

»Ja, also«, stottert Nina, »ich weiß gar nicht …«

»Richten Sie Marc einen schönen Gruß aus«, unterbricht Sabine sie erneut, »er soll mich anrufen. Wir müssen reden. Und wir werden reden.«

Dann macht sie auf dem Absatz kehrt, schnappt sich ihre große Tasche und rauscht aus der Wohnung. Als die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fällt, schreckt Herr Beck hoch.

»Was? Wie? Sprichst du mit mir? Also was war denn nun, als du mit Carolin an der Alster spazieren warst?«



In dieser Nacht schlafe ich sehr schlecht. Ständig träume ich von Sabine, die versucht, Luisa aus ihrem Bett zu zerren. Und wenn ich zwischen zwei Alpträumen kurz hochschrecke, horche ich angestrengt, ob irgendjemand durch die Wohnung schleicht. Dabei ist der Abend ganz friedlich zu Ende gegangen. Kurz nachdem die Verrückte abgehauen war, kamen auch schon Marc und Carolin. Sie waren gut gelaunt, hatten offenbar einen tollen Abend zu zweit. Marc hat eine Flasche Wein geöffnet, gemeinsam mit Nina haben sie noch eine Zeitlang im Wohnzimmer gesessen und gequatscht. Nina hat allerdings kein Wort über unsere unheimliche Besucherin verloren, sondern nur erzählt, dass sich Luisa schon auf Carolins Überraschung freut. Dann hat sie sich Herrn Beck unter den Arm geklemmt und ist gegangen. Sehr seltsam, das Ganze.

Jetzt ist es Morgen, und ich fühle mich wie gerädert. Dieser Menschenkram fängt an, sehr anstrengend zu werden. Wie hatte Herr Beck gesagt? Ein Happy End gibt es bei Menschen nicht? Langsam ziehe ich wenigstens vage in Betracht, dass er Recht gehabt haben könnte. Ich sollte mich aus der Angelegenheit raushalten und mich auf mein eigenes Leben konzentrieren. Das allerdings ist leichter gesagt als getan. Denn das Leben eines treuen Dackels ist untrennbar verbunden mit dem seines Herrchens. Und das gilt mit Sicherheit auch, wenn der Dackel ein Dackelmix und das Herrchen ein Frauchen ist.

Zumindest könnte ich aber versuchen, mich verstärkt auf hundgerechte Tätigkeiten wie durch den Park stromern und Kaninchen jagen zu verlegen. Oder ich bleibe einfach mal einen Tag faul im Körbchen liegen. Wir Dackel sind ohnehin nicht die großen Langstreckenläufer. Ein Tag Ruhe wird mir gewiss guttun. Uah, bin ich müde!

Carolin steht auf einmal neben mir. »Alles okay bei dir, Herkules? Du warst so unruhig heute Nacht. Ich habe dich ab und zu heulen hören. Oder musst du nur ganz dringend raus? Vielleicht sollten wir für diese Fälle mal ein Katzenklo besorgen. Nina hat ja nun eines in ihrer Wohnung stehen, ich frage sie mal, wo sie das besorgt hat.«

Katzenklo? Kein Hund mit einem Funken Ehre im Leib würde sich auf so ein Teil hocken. Das wäre ja noch schöner ! Aber typisch Mensch: immer schön bequem. Was ich in solchen Fälle brauche, ist ein Baum, keine Plastikwanne. Jawollja! Ich lege den Kopf auf die Vorderläufe und knurre ein bisschen. Carolin lacht.

»Na gut, also kein Katzenklo. Kannst ja gleich auf dem Weg in die Werkstatt den nächsten Baum aufsuchen. Wir gehen heute mal zu Fuß, ich glaube, das kriege ich wieder hin.«

Hm, das klingt nicht schlecht. Wobei ich mir doch gerade überlegt hatte, einfach hierzubleiben. Ach, was soll’s – ausruhen kann ich mich auch noch in der Werkstatt. Ich komme mit!

Schnell hüpfe ich aus meinem Körbchen und schüttele mich, dann laufe ich in die Küche. Marc und Luisa sitzen auch schon dort, Luisa kritzelt in einem Heft herum, Marc liest Zeitung und trinkt Kaffee. Es sieht ziemlich idyllisch aus – eben doch nach Happy End. Wahrscheinlich habe ich mir völlig umsonst Sorgen gemacht. Liegt bestimmt an meiner Übermüdung.

Carolin geht zum Kühlschrank, holt mein Fresschen und verfrachtet es in die Mikrowelle. Pling! Sie stellt mir ein Schälchen vor die Füße. Ich schnuppere daran. Hm, Herz. Lecker! Okay, die Nacht war schlimm. Aber der Tag lässt sich dafür umso besser an.

Es klingelt. Erst kurz. Dann länger. Dann durchgehend. Marc und Carolin schauen sich fragend an.

»Erwartest du irgendjemanden?«, will Carolin wissen.

»Um halb acht? Natürlich nicht. Keine Ahnung, wer das ist.«

Aber ich weiß es: die Verrückte. Sie ist zurück, ich bin mir ganz sicher. Sie wird versuchen, Luisa zu holen. Genau wie in meinem Traum. Sofort lasse ich mein Fressen Fressen sein und rase zur Tür. Diese Frau wird keinen Fuß über unsere Schwelle tun, ich werde persönlich dafür sorgen.

»Hoppla, Herkules! Fast wäre ich über dich gestolpert – was ist denn los mit dir?« Marc muss mich zur Seite schieben, um überhaupt die Tür öffnen zu können. Das wollte ich eigentlich verhindern, aber auf dem Parkettboden kann ich mich leider nicht festkrallen, und so schiebt mich Marc mitsamt der Tür zur Seite. Jetzt kann ich noch nicht einmal sehen, wer geklingelt hat, geschweige denn verhindern, dass dieser Jemand in die Wohnung kommt.

»Guten Morgen! Sie kenne ich doch, oder?«

»Ja, ich bin Claudia Serwe. Meine Hündin hat neulich Ihren Dackel aus der Alster gefischt. Entschuldigen Sie diese frühe Störung, aber Cherie ist eben von einem Auto angefahren worden. Ich wusste nicht, wo ich mit ihr hinsoll, und dann fiel mir wieder ein, dass Ihre Praxis gleich um die Ecke ist. Ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht schon da sind. Ja, und dann habe ich auf dem Klingelschild gesehen, dass Sie auch hier wohnen.«

Mir wird heiß und kalt. Cherie! Ihr ist etwas zugestoßen! Die Frau klingt atemlos und verzweifelt. Ich drücke mich an Marcs Beinen vorbei, um sie mir genauer anzuschauen. Sie hat geweint, ihre Augen sind ganz rot. Marc legt ihr eine Hand auf die Schulter.

»Gut, dass Sie gleich gekommen sind. Wo ist das Tier denn?«

»Sie liegt bei mir auf dem Rücksitz, mein Auto steht direkt vor der Tür. Ich habe solche Angst um sie!«

»Frau Serwe, ich sehe sie mir sofort an.«

Und ich komme mit! Ich lasse dich nicht allein, Cherie! Auf keinen Fall.

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