FÜNFUNDZWANZIG




Herkules, was machst du denn hier? Und was hast du da im Maul?«

Marc beugt sich zu mir hinunter und zieht vorsichtig an dem Buch, das ich immer noch im Fang halte. Langsam lasse ich los und hoffe, dass es meine Flucht aus der Werkstatt heil überstanden hat. Na ja, es ist ein bisschen vollgesabbert, aber insgesamt sieht es doch noch anständig aus. Marc wischt mit seinem Ärmel über den Buchdeckel und betrachtet ihn eingehend.

»Die zweite Chance. Hm.« Dann schlägt er das Buch auf und liest. »Lieber Marc … auweia!« Irritiert starrt er mich an. »Woher hast du das, Herkules?« Er steht auf und geht kurz aus dem Behandlungszimmer. Ich höre ihn mit seiner Mutter sprechen.

»Sag mal, und sonst war niemand vor der Haustür?«

»Nein. Nur Herkules mit dem Teil im Maul. Wollte er mir übrigens nicht geben, hat gleich geknurrt. Ich habe mich auch gewundert. Aber er wird ausgebüxt sein. Typisch Jagdhund. Erinnerst du dich noch an unseren Terrier Trudi? Die ist doch auch immer …«

»Ja, Mutti«, unterbricht Marc sie, »ich weiß. Ich dachte nur, dass Carolin vielleicht mit ihm unterwegs war, und er schon mal vorgelaufen ist.«

»Aber Junge, Carolin hat doch einen Schlüssel. Die würde einfach reinkommen. Und falls sie ihn vergessen hätte, hätte sie längst geklingelt. Nein, als ich eben zur Post wollte, saß nur Herkules vor dem Hauseingang. Sonst niemand.«

»Hm.«

»Sag mal, wo steckt Carolin denn? Ich habe sie heute Morgen gar nicht gesehen.«

»Äh … sie hat doch gerade diesen Riesenauftrag. Musste zu einem Auswärtstermin.«

»Na, und lässt dich hier einfach allein? Ja, ja, diese berufstätigen Frauen.« Sie lacht.

»Ach, Mutter, wo du gerade davon sprichst – wenn du mit der Post fertig bist, würde ich mich gerne mal in Ruhe mit dir unterhalten.«

»Worüber denn?«

»Wie wir hier weitermachen. Sag einfach Bescheid, wenn du wieder da bist.« Er kommt zurück zu mir ins Behandlungszimmer.

»Herkules, ich wünschte, du könntest sprechen. Wie bist du nur an dieses Buch gekommen? Und was ist gestern passiert? Weißt du, ich mache mir wirklich Sorgen.«

Da sagt er was! Auch ich würde ihm zu gerne erzählen, was es mit dem Buch auf sich hat und warum Carolin sich so schrecklich verhält. Aber stattdessen kann ich nur die Ohren hängen lassen und ihn traurig angucken. Marc seufzt.

»Tja, Kumpel. Hoffen wir einfach mal, dass sich alles wieder einrenkt. Ich schlage vor, du vergnügst dich ein bisschen im Garten. Und wenn ich das unangenehme Gespräch mit meiner Mutter hinter mich gebracht habe, machen wir beide etwas Schönes: Wir holen Luisa vom Hort ab und gehen gemeinsam ein Eis essen. Was hältst du davon? Ich finde, das haben wir uns als kleinen Lichtblick verdient.«

Ich wedele mit dem Schwanz. Solche positiven Ansätze müssen unbedingt verstärkt werden! Bis es so weit ist, werde ich mich ein bisschen in der Sonne entspannen. Schließlich waren die letzten Tage auch für mich sehr anstrengend – da muss ein kleines Schläfchen drin sein.



Als wir vor der Schule ankommen, wartet Luisa schon auf uns.

»Mensch, Papa, du bist zu spät!«

»Tut mir leid, mein Schatz. Ich musste noch etwas mit der Oma besprechen, und das hat länger gedauert. Aber dafür habe ich Herkules mitgebracht.«

»Oh, klasse! Ist Carolin denn auch wieder da?«

»Äh, nein, die ist noch unterwegs. Kommt aber bestimmt bald nach Hause. Ich finde, wir gehen jetzt mal ein Eis essen.«

»Superidee!«

»Wie war es denn sonst so?«

»Och, ganz gut. Greta vom Tussi-Club feiert Geburtstag, und ich bin auch eingeladen. Sie macht eine Rollschuh-Rallye, und du, Herkules, sollst auch mitkommen. Toll, nicht? Ich gehöre jetzt richtig dazu. Und alles wegen Herkules!«

Stolz recke ich mich und mache Männchen. Genau, alles wegen mir! Endlich mal eine Frau, die das erkennt und zu würdigen weiß. Luisa nimmt Marc die Leine aus der Hand und läuft mit mir los.

»Kommt, wer als Erster an der Eisdiele ist!«

»Auch das noch! Dein armer, alter Vater!«

Auch Marc beginnt zu laufen, und schon kurz darauf biegen wir um die Ecke zur Eisdiele.

»Erster!«, ruft Luisa und stellt sich mit mir an die lange Schlange vor dem Eingang.

»Ja, aber du hast geschummelt. Herkules hat dich gezogen. Das zählt nicht.«

»Nee, Papa, du bist einfach zu langsam.«

Sie gibt Marc einen Kuss, und ich merke, wie mir wohlig warm wird. Nicht vom Rennen, sondern von dem schönen Gefühl, dass hier endlich mal zwei Menschen miteinander glücklich sind. Hach, wenn Carolin nicht mehr auftaucht, bleibe ich einfach bei Marc und Luisa. Die kann mich gernhaben.

Offenbar kann Marc meine Gedanken lesen.

»Na, wir machen uns das auch ohne dein Frauchen nett, was?«

Luisa guckt Marc streng an. »Aber Papa! Wir können Caro doch ein Eis mitbringen! Oder ist sie heute Abend immer noch nicht da? Wo ist sie denn bloß?«

Marc streicht sich durch die Haare, er scheint zu überlegen, was er Luisa antworten soll.

»Sag mal, Schatz, du hast mir gesagt, dass Caro noch mal wegwollte?«

»Genau. Du hast mir doch erklärt, dass sie momentan viel um die Ohren hat.«

»Richtig. Aber habt ihr euch noch über irgendetwas anderes unterhalten?«

Luisa denkt nach. »Nein, eigentlich nicht … obwohl: doch! Ich habe ihr erzählt, dass du neulich mit Mama im Violetta warst.«

»Was? Woher weißt du das?«

»Von Mama. Mama hat mir ein Buch für dich mitgegeben. Sie sagt, darüber habt ihr im Violetta gesprochen. Und dann wollte Caro das Buch mal sehen. Aber ich habe mich gar nicht mehr mit ihr darüber unterhalten, denn dann musste sie ja schon weg.«

Marc schlägt sich mit der Hand vor die Stirn. »Verdammte Scheiße!«

»Papa! So was darf man nicht sagen, das ist doch ein Klo-Wort!«

»Du hast Recht, entschuldige. Ist mir so rausgerutscht.«

»Bist du irgendwie böse auf mich?«

»Nein, nein! Ich bin froh, dass du mir das erzählt hast.«

Und ich erst! Vielleicht wird doch wieder alles gut. Auch, wenn ich noch ziemlich sauer auf Carolin bin: Ich hätte sie sehr, sehr gerne wieder zurück.



Auf dem Rückweg erzählt Luisa jede Menge Geschichten aus dem Tussi-Club. Offenbar sind Lena und sie nun ein Herz und eine Seele, und ich bin froh, dass sich Luisa an der Schule endlich wohl zu fühlen scheint. Und okay – stolz bin ich natürlich auch. Immerhin bin ich der Held in dieser Geschichte. Der Gedanke daran gibt meinem Herzen allerdings einen Stich: Eigentlich wollte ich doch auch für Cherie ein Held sein. Und dieser Plan ist wohl trotz aller Anstrengung grandios gescheitert. Ich glaube nicht, dass Herr Beck daran noch etwas ändern kann. So werde ich für Cherie immer der kleine, lustige Dackel bleiben.

Ich atme schwer. Irgendwie tue ich mir heute selbst leid. Der Ärger mit Carolin, kein Glück in der Liebe – das Dackelleben ist schwer. Ich lasse die Öhrchen hängen und laufe mit gesenktem Kopf hinter Marc und Luisa her. Vielleicht ist es auch besser, wenn ich Cherie nie, nie wiedersehe. Genau: Ich muss sie mir aus dem Herzen reißen! Besser einmal leiden, als immer das Gefühl zu haben, ihr nicht gut genug zu sein. Wenn ich sie also in Zukunft sehe, werde ich einfach die Straßenseite wechseln. Ich werde mich in Büschen verstecken und werde in Zukunft …

»Hallo, Herkules.«

Ha! Eine Wahnvorstellung! Wir sind vor der Praxis angekommen, und direkt neben dem Hauseingang sitzt Cherie. Das ist doch nicht möglich!

»Guten Tag, Herr Doktor Wagner!«

»Hallo, Frau Serwe! Alles in Ordnung? Ich habe heute ein bisschen früher Schluss gemacht, um meine Tochter abzuholen. Meine Mutter sollte mich allerdings anrufen, wenn etwas Dringendes passiert.«

»Nein, nein, alles in Ordnung. Es klingt verrückt, aber Cherie wollte unbedingt in diese Richtung. Wir drehen um diese Uhrzeit immer unsere Runde, und sie hat so gezogen und gezerrt, bis ich diesen Weg eingeschlagen habe. Seltsam, nicht? Wahrscheinlich kehrt sie immer gerne zu ihrem Lebensretter zurück.«

Marc zuckt mit den Schultern. »Tja, man hört die unglaublichsten Dinge über Hunde. Sie sind eben schon sehr intelligente Tiere. Na, Cherie, wolltest du mich besuchen?« Er streichelt ihr über den Kopf. Sie dreht sich zu mir.

»Nee, wollte ich eigentlich nicht. Ich wollte zu dir, Herkules. «

»Zu mir?«

»Dein Freund, der fette Kater, hat mich heute auf der Hundeauslaufwiese an der Alster besucht. Das war vielleicht ein Hallo unter den Hunden – er musste sich schnell auf einen Baum in Sicherheit bringen. Jedenfalls hat er mir erzählt, dass ihr diesen Verkehrsrowdy gefunden und ihm sogar seine Tasche geklaut habt.«

Ich nicke. »Ja, stimmt. Wir dachten, dass dein Frauchen ihn vielleicht mit der Tasche finden kann. Aber der zweite Teil des Plans hat nicht mehr geklappt – irgendjemand hat die Tasche aus unserem Versteck geklaut.«

»Herkules, du bist wirklich süß.«

Bilde ich es mir ein, oder strahlt mich Cherie an. »Aber … aber … jetzt bin ich doch kein Held. Weißt du, so wie der blöde Alonzo. Ich meine, ich hab’s echt versucht. Und bin gescheitert.«

»Ist mir doch egal. Noch nie hat sich jemand so viele Gedanken um mich gemacht und so etwas Wagemutiges für mich getan. Das ist, was zählt. Wieso glaubst du denn, dass du ein Held sein musst?«

»Weil ich doch so gerne mal mit dir zusammen wäre. Nur wir zwei, weißt du?«

Es ist keine Einbildung: Cherie schenkt mir einen sehr warmen, liebevollen Blick.

»Ach, Herkules, warum hast du mich das denn nicht einfach mal gefragt?«

Gute Frage. Warum eigentlich nicht?

»Hm. Also, ich habe mich das nicht getraut. Du bist doch so eine tolle Frau. Und ich nur ein kleiner Mischling. Ich dachte, du lachst dich schlapp. Immerhin musstest du mich aus der Alster retten und nennst mich immer Kleiner. Da dachte ich, ich muss erst etwas Besonderes schaffen.«

»Aber du bist doch selbst etwas Besonderes! Welcher Dackel kommt schon auf so viele verrückte Ideen wie du?«

Ich lasse wieder die Ohren hängen. Verrückte Ideen – das ist nun nicht gerade ein Kompliment. Aber Cherie stupst mich mit der Schnauze an und leckt mir über das Maul. Ein tolles Gefühl – mein ganzer Körper fängt an zu kribbeln.

»He, das meine ich nett! Die meisten anderen wollen mich durch Kraft und Größe beeindrucken. Das hast du gar nicht nötig. Ich mag dich. Ehrlich!«

Wirklich? Ich gucke sie erstaunt an und werde verlegen.

»Ui, guck mal, Papi – ich glaube, Cherie und Herkules mögen sich. Die haben sich eben abgeschleckt.«

Marc räuspert sich, dann grinst er. »Tja, tatsächlich ein untrügliches Zeichen für Zuneigung zwischen Männern und Frauen.«

»Sag mal, Luisa«, macht nun Claudia Serwe einen Vorschlag, »wo sich unsere beiden hier doch so gut verstehen, wollen wir da nicht mal mit ihnen zusammen spazieren gehen? Ich muss jetzt leider los, aber ich finde, wir sollten uns bald verabreden, damit Herkules und Cherie sich wiedersehen können.«

»Au ja!«, ruft Luisa. »Das ist eine Superidee. Vielleicht werden die beiden dann richtige Freunde. Und neue Freunde finden ist toll, das weiß ich von mir selbst.«

»Gut, ich rufe deinen Vater an, und dann machen wir etwas aus. Ich wünsche noch einen schönen Abend!«

Bevor sich auch Cherie umdreht, um weiterzulaufen, zwinkert sie mir zu. Glaube ich jedenfalls. Ach was, ich bin mir sicher. Und mein kleines Herz schlägt ganz schnell. Ich habe eine Verabredung!

Sehr beschwingt hüpfe ich hinter Marc und Luisa die Stufen zur Wohnung hoch. Dort empfängt uns Oma Wagner mit einer Miene wie mindestens drei Tage Regenwetter.

»Hat dich deine Freundin schon erreicht? Die Gute wirkte etwas aufgelöst.« So, wie Marcs Mutter die Gute sagt, klingt es nicht eben freundlich. Sie hat schon den Abendbrottisch gedeckt und mir ein sehr leckeres Fresschen in den Napf gefüllt. Schön, so umsorgt zu werden – obwohl Oma Wagner momentan keinen besonders liebevollen Eindruck macht. Im Gegenteil. Sie scheint irgendwie sauer zu sein. Aber warum bloß?

»Nein. Warum? Was war denn los?«

»Sie vermisst ihren Hund. Ich habe dir gleich gesagt, dass der wohl ausgebüxt war. Aber auf mich hört ja keiner.«

»Hast du ihr denn nicht gesagt, dass Herkules bei uns ist?«

»Nein.«

»Bitte?! Du hast es ihr nicht gesagt?«

»Weißt du, ich hatte nun wirklich keine Veranlassung, mit dieser Frau zu plaudern. Und außerdem wollte sie ja unbedingt dich sprechen.«

»Also wirklich, Mutter!« Marc haut mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Was soll denn das? Wenn du jetzt beleidigt bist, weil ich eine neue Sprechstundenhilfe suche, beschwer dich bei mir. Aber hör auf, Carolin so zu behandeln.«

In diesem Moment kommt Luisa ins Esszimmer. »Was ist mit Carolin? Kommt sie heute Abend immer noch nicht?«

»Doch, doch. Mach dir keine Sorgen. Ich rufe sie mal an.« Marc holt das Telefon, das auf der Anrichte liegt, und wählt eine Nummer, horcht kurz, wählt nochmal. »Mist. Festnetz besetzt und Handy ausgeschaltet. Komm, Herkules, du alter Fahnenflüchtling. Wir fahren zu Frauchen.«



Carolin öffnet uns die Tür, sieht mich – und nimmt mich sofort auf den Arm.

»Herkules, mein Schatz! Wo bist du denn gewesen? Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!«

»Er saß vor etwa einer Stunde auf einmal vor unserer Tür. Übrigens: Hallo, Carolin.« Huch. Marc klingt sehr, sehr streng.

»Entschuldige – hallo erst mal. Aber weißt du, ich bin noch ganz aufgelöst. Ich habe Herkules überall gesucht. Und ich habe auch mit deiner Mutter telefoniert. Sie hat mir nicht gesagt, dass Herkules bei euch ist.«

»Ich weiß. Sie ist etwas indisponiert.«

»Bist du etwa abgehauen, Herkules?«

Ich wedele mit dem Schwanz. Schließlich habe ich kein schlechtes Gewissen. Caro hat sich das selbst zuzuschreiben.

»Du böser, böser Hund! Frauchen hatte solche Angst. Warum machst du denn solche Sachen?«

»Na, wenn du diesen jungen Mann so schlecht behandelt hast wie mich, ist es offen gestanden kein Wunder.«

Carolin zieht die Augenbrauen nach oben, was von meiner Position auf ihrem Arm aus sehr lustig aussieht. »Ich dich schlecht behandelt? Was fällt dir ein? Ich habe eher den Eindruck, dass du mir einiges zu erzählen hast.«

»Richtig, meine Liebe. Zuallererst nämlich eines: Wer fremde Post liest, muss mit dem Inhalt auch selbst fertig werden.«

Carolin schnappt nach Luft. »Bitte? Wie meinst du das denn?«

Marc grinst. »Das Buch und die Widmung. Eindeutig für mich bestimmt.«

»Aber … aber … woher weißt du? Hat Luisa …?«

»Nein. Luisa hat das Gott sei Dank alles gar nicht mitbekommen. Aber mein Kumpel Herkules, der weiß noch, was Eigentum bedeutet. Er kam nämlich nicht allein, sondern hatte das Buch in der Schnauze.«

Carolin starrt mich mit offenem Mund an. »Er hatte … was?!«

»Genau. Er hatte das Buch dabei. Ein Blick auf die Widmung, und ich wusste sofort, was los ist. Das hätte mich allerdings nicht dazu gebracht, hier aufzulaufen. Denn ich bin mir keiner Schuld bewusst. Ja – ich habe mich mit Sabine getroffen. Weil sie mit mir über unseren Streit sprechen wollte, und ich mit der Mutter meiner Tochter nicht in einer Dauerfehde leben will. Sie hat sich entschuldigt für die Tatsache, dass sie mich damals ohne jede Vorwarnung verlassen hat, und hat mich gebeten, die Entschuldigung anzunehmen. Ich habe gesagt, dass ich drüber nachdenke. Nicht mehr und nicht weniger ist passiert.«

Carolin vergräbt ihr Gesicht in meinem Nacken. Das scheint ihr doch einigermaßen unangenehm zu sein. Mit Recht! Dann guckt sie wieder hoch.

»Aber warum hast du mir denn nicht gesagt, dass du dich mit ihr triffst?«

»Ganz einfach: Weil du auf das Thema Sabine schon so gereizt reagiert hast, dass ich einfach keine Lust auf einen weiteren Streit mit dir hatte. Das war wahrscheinlich ein Fehler – aber keine Todsünde. Finde ich jedenfalls.«

Caro setzt mich wieder runter und macht einen Schritt auf Marc zu.

»Es tut mir leid. Das war nicht richtig von mir.«

Marc nickt. »Aber jetzt habe ich auch eine Frage. Wo warst du gestern Nacht? Bei Nina?«

Caro schüttelt den Kopf. Marc atmet tief durch.

»Etwa bei Daniel?«

»Ja. Aber da habe ich gleich mal einen Vorschlag: Ich glaube dir – und du glaubst mir. Es ist nichts passiert, ich brauchte nur ein Bett.«

Marc zögert, dann nickt er. »Okay. Vertrauen gegen Vertrauen.«

Endlich! Das klingt doch schon ganz gut, und ich persönlich finde, das wäre nun eine gute Gelegenheit für die beiden, sich zu küssen. Leider kommt in diesem Moment Nina die Treppe herunter und ruft schon von oben: »Mensch, Caro, wo bleibst du denn? Du wolltest doch jetzt … oh, hallo, Marc. Eigentlich dachte ich, wir steuern hier auf einen Frauenabend zu.«

»Nimm’s mir nicht übel – aber ich würde meine Süße jetzt gerne mitnehmen. Bitte!«

»Marc, du kannst fast so herzerweichend wie Herkules gucken. Na gut. Ich habe zwar schon eine Flasche Rotwein aufgemacht, aber dann muss ich mir wohl Ersatz besorgen.«

»Du könntest dich doch zum Beispiel mit deinem Mitarbeiter treffen«, schlägt Caro kurzerhand vor, »der wohnt ja nicht so weit von hier.« Sie kichert.

»Das ist nicht mehr mein Mitarbeiter. Ich habe ihn rausgeschmissen. «

»Echt? Wie gemein. Ich finde, du solltest da Privates und Berufliches trennen.«

Nina grinst. »Das tue ich auch. Genau deswegen hat Alex heute die Gruppe gewechselt. Ich kann Liebe im Job nämlich nicht gebrauchen. Und er auch nicht. Das lenkt uns zu sehr ab. So, und jetzt werde ich ihm mal schnell Bescheid sagen, dass sich mein Frauenabend erledigt hat. Tschüss, ihr beiden. « Kurz bevor sie wieder nach oben verschwindet, dreht sie sich noch einmal um. »Ach, was wolltest du mir eigentlich so Dringendes erzählen?«

Caro guckt sie mit großen Augen an. »Ich? Nichts. Ich wollte nur ein bisschen klönen.«



Ich liege in meinem Körbchen und bin eigentlich glücklich und zufrieden. Aber nur eigentlich. Denn leider kündet ein dumpfes Grollen von draußen ein heftiges Gewitter an. Auch das noch! Dabei bin ich doch so müde und würde gerne schlafen. Das Donnern wird lauter und kommt immer näher. Ich versuche mich ganz tief in meine Kuscheldecke zu vergraben. Vielleicht ist es dann nicht mehr ganz so laut.

Aber es nutzt nichts: Obwohl die Decke nun schon meine Ohren bedeckt, jagt mir jeder Donnerschlag neue Schauer über den Rücken. Der nächste Blitz erleuchtet die Wohnung fast taghell. Und jetzt kracht es so laut, dass ich das Gefühl habe, das ganz Haus wackelt. Mama! Angst!

Carolin hat es mir zwar streng verboten, aber es führt kein Weg daran vorbei: Ich muss zu ihr ins Bett. Sonst kriege ich heute Nacht kein Auge mehr zu. Ich schleiche Richtung Schlafzimmer und drücke vorsichtig, aber feste mit der Schnauze gegen die Tür. Mit einem leisen Klack öffnet sie sich, und ich husche hinein. Es ist zwar sehr dunkel, aber die Umrisse des Betts kann ich einigermaßen erkennen. Schwupp! Schon habe ich es mir am Fußende bequem gemacht. So ist es eindeutig besser!

Zwei helle Blitze, direkt hintereinander, dann ein fürchterlicher Donnerschlag! Ein ohrenbetäubender Lärm – trotzdem fühle ich mich jetzt sicher. Das Getöse scheint auch Marc und Carolin geweckt zu haben.

»Kannst du auch nicht schlafen?«

»Nee. Bei dem Lärm schwierig.«

»Ich bin froh, wieder hier zu sein. An wen sollte ich mich sonst kuscheln?«

»Hm, das klingt gut. Dann komm mal her, ich beschütze dich.« Es kommt Bewegung unter die Bettdecke, und ich höre, wie die beiden sich küssen. Na endlich! Darauf warte ich doch schon den ganzen Tag.

»Sag mal, bist du noch böse wegen des Buchs?«

»Nein. Schwamm drüber. Bist du noch böse wegen Sabine?«

Caro kichert. »Nein. Vergeben und vergessen. Und ich bin sehr, sehr froh, dass du dir eine neue Hilfe in der Praxis suchst.«

»Ja. Ich auch. Aber weißt du, was mich trotz des ganzen Streits heute sehr glücklich gemacht hat?«

»Nein, keine Ahnung.«

»Dass sich Luisa wirklich gefreut hat, dass du wiedergekommen bist. Sie hat dich ehrlich vermisst. Das finde ich schön. Ich bin nämlich gerne eine Familie mit dir.«

Sie küssen sich wieder.

»Hm, das ist schön. Ich auch.«

»Weißt du, ich könnte mir sogar vorstellen, sie noch ein bisschen zu vergrößern.«

Wieder ein Kuss.

»Echt?«

»Ja, denn ich liebe dich. Sehr, sehr sogar.«

»Ich liebe dich auch.«

»Hmmhm. Das klingt gut. Dann könnten wir doch gleich mal … Ah! Was ist das? Irgendetwas Komisches liegt im Bett!«

Marc schaltet seine Nachttischlampe an.

»Herkules! Was fällt dir ein? Was machst du hier?«

Carolin fängt an zu lachen. »Na, das Gewitter. Wahrscheinlich hat er Angst. Dann lass ihn halt hier schlafen.«

»Och nö! Nicht in unserem Bett. Okay, Herkules. Du kannst im Zimmer bleiben. Aber du schläfst neben dem Bett!«

Wie hartherzig! Aber Marc klingt so entschlossen, dass ich brav von der warmen Decke hüpfe und mich neben das Bett lege. Wenigstens legt mir Carolin noch ein Kissen auf den Boden, in das ich mich kuscheln kann.

Ein paar Minuten vergehen, das Gewitter wird wieder heftiger. Ich bemühe mich, ruhig zu bleiben. Leicht ist es nicht.

»Süße, kannst du schlafen?«

»Ja, in deinen Armen geht es.«

»Komm noch näher ran, ich beschütze dich.« Marc scheint sie jetzt an einer heiklen Stelle zu küssen. Jedenfalls kichert Caro. Toll. Und an mich denkt keiner.

Klack. Die Tür geht auf, und Luisa steht im Schlafzimmer.

»Papa, ich hab Angst. Ich kann nicht schlafen.«

Marc seufzt, und Carolin lacht.

»Na, dann komm zu uns ins Bett.«

Sofort schlüpft Luisa zu den beiden. Ein weiterer Donnerschlag. Nee, so geht es wirklich nicht. Ich will nicht der Einzige sein, der in so einer Nacht draußen schläft. Alle Verbote ignorierend, hüpfe ich wieder zu den dreien ins Bett.

»Oh, hallo, Herkules!«, freut sich Luisa. »Das ist ja toll! Jetzt sind wir alle in einem Bett. Komm zu mir, ich streichle dich, dann hast du bestimmt keine Angst mehr.« Das lasse ich mir natürlich nicht zweimal sagen und krieche weiter hoch.

»Na, bist du immer noch sicher, dass du eine größere Familie willst?«, zieht Caro Marc auf.

Über Luisas und meinen Kopf hinweg gibt Marc ihr einen Kuss.

»Kurz und bündig: ja!«



Da ist es also endlich, mein Happy End. Schon seltsam, diese Menschen. Anstrengend ist es mit ihnen. Aber manchmal auch ganz schön schön.

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