An einem regnerischen, späten Nachmittag stieg ein Reisender vor der Tür eines kleinen Gasthauses im Dorf N. in Kentucky ab. In der Wirtsstube fand er eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft beisammen, die durch das schlechte Wetter in diesen Hafen verschlagen war und nun das übliche Bild einer solchen Versammlung bot. Große, hochgewachsene starkknochige Kentuckier in bunten Jagdhemden, ihre langen Glieder unbekümmert mit jener Schlaksigkeit ins Zimmer streckend, die diesem Schlage eigen ist. Die Jagdbüchsen in der Ecke, die Schrotbeutel, die Taschen fürs Wildbret, Jagdhunde und kleine Negerknaben in buntem Durcheinander in allen Winkeln, das war ein charakteristisches Bild. An jeder Seite des Kamins saß im Stuhl zurückgelehnt solch ein langbeiniger Herr; den Hut auf dem Kopf und die schmutzigen Stiefel seelenruhig auf den Kaminsims gelehnt.
In eine solche Gesellschaft der Freien und Franken geriet also unser Reisender. Er war ein kurzer, untersetzter Mann, sorgfältig gekleidet, mit einem runden, gutmütigen Gesicht, eine gewisse, etwas fahrige Umständlichkeit lag in seinem Wesen. Um seine Reisetasche und seinen Regenschirm zeigte er sich ziemlich besorgt, er brachte sie eigenhändig herein, alle Hilfeleistungen der verschiedenen Diener hartnäckig zurückweisend. Ängstlich blickte er sich in der Gaststube um und steuerte dann mit seiner Habe auf die wärmste Ecke zu, wo er sie unter seinem Stuhl verstaute, sich niederließ und sorgenvoll seinen Nachbarn betrachtete, dessen Stiefelabsätze auf dem Kaminsims prangten und der mit Ausdauer und Energie nach rechts und links ausspuckte, eine Betätigung, die auf schwächere Nerven und feinere Manieren etwas beunruhigend wirken mußte.
»Nun, Fremdling, wie geht's, wie steht's?« wandte sich besagter Nachbar an den neuen Ankömmling, einen Ehrengruß von Tabaksaft in seine Richtung spuckend.
»Danke, gut«, war die Antwort des anderen, der besorgt der drohenden Ehre auszuweichen suchte.
»Keine Neuigkeit?« fragte der erste, seiner Tasche eine Rolle Tabak und ein großes Jagdmesser entnehmend.
»Nicht, daß ich wüßte«, erwiderte der Fremde.
»Kaut Ihr?« fragte der erste Sprecher und schob dem alten Herrn mit brüderlicher Miene eine Probe seines Tabaks zu.
»Nein, danke — es bekommt mir nicht«, antwortete der kleine Mann und blickte zur Seite.
»Nein«, sagte der andere leichthin und ließ den Tabak im eigenen Mund verschwinden, um den Vorrat an Tabaksaft nicht ausgehen zu lassen, zum Besten der Allgemeinheit.
Der alte Herr fuhr auch jedesmal erschrocken zusammen, wenn sein langbeiniger Nachbar in seine Richtung spuckte; als dieser das gewahr wurde, gab er gutartig seinem Geschoß eine andere Richtung und nahm nun ein Schüreisen unter Feuer, wobei er ein militärisches Talent entfaltete, das zur Erstürmung einer ganzen Stadt gereicht hätte.
»Was gibt's da?« fragte der alte Herr, als sich in der Wirtsstube plötzlich eine Gruppe um einen Anschlagzettel scharte.
»Neger entlaufen«, antwortete einer aus der Menge.
Mr. Wilson, dies war der Name des alten Herrn, erhob sich, rückte vorsichtig Reisetasche und Regenschirm zurecht, nahm umständlich seine Brille heraus, setzte sie auf die Nase und, nachdem alle diese Vorbereitungen getroffen, las er folgendes:
»Unterzeichnetem entlaufen sein Mulattensklave Georg. Besagter Georg sechs Fuß hoch, sehr heller Mulatte, braunes lockiges Haar; sehr intelligent, spricht gewählt, kann schreiben und lesen; wird sich vermutlich als weißer Mann ausgeben. Hat auf Rücken und Schultern tiefe Narben. Rechte Handfläche mit dem Buchstaben H gebrandmarkt.
Gebe für ihn lebendig gefangen 400 Dollar, und dieselbe Summe für zuverlässigen Nachweis seines Todes.«
Der alte Herr las diese Anzeige halblaut von Anfang bis Ende, als wollte er sich alles genau einprägen.
Der langbeinige Krieger, der, wie vorhin erwähnt, das Schüreisen belagert hatte, zog jetzt sein riesiges Untergestell ein, richtete sich in voller Länge auf, ging hin zu dem Anschlag und spuckte genau eine volle Ladung Tabaksaft darauf.
»Das ist meine Meinung von der Sache«, sagte er kurz und bündig, bevor er wieder Platz nahm.
»Hallo, Fremder, was soll das heißen?« fragte der Wirt.
»Ich würde dem Schreiber genau so ins Gesicht spucken, wenn er hier wäre«, antwortete der lange Kerl ungerührt und schnitt sich den nächsten Tabak zurecht. »Ein Mann, der solch einen Burschen hat und ihn nicht besser behandelt, verdient, daß er ihn verliert. So ein Wisch ist eine Schande für Kentucky. Das ist meine ungeschminkte Meinung, falls es jemand interessiert.«
»Läßt sich hören«, sagte der Wirt und vertiefte sich wieder in seine Bücher.
»Ich habe daheim auch meine Leute«, fuhr der Lange fort, den Angriff auf das Schüreisen wieder aufnehmend, »und ich sage ihnen jedesmal: >Burschen<, sage ich, >haut ab, verzieht euch, macht was ihr wollt, ich werde euch niemals nachsetzen.< Auf diese Weise halte ich sie. Wenn die das Gefühl haben, daß sie jederzeit auf und davon gehen können, dann vergeht ihnen die Lust. Darüber hinaus habe ich aber ihre Freischeine beantragt, für den Fall, daß mir etwas geschieht, und das wissen sie. Und ich kann dir sagen, meine Burschen sind mit Pferden in Cincinnati gewesen, 500 Dollar wert, und haben mir das Geld abgezählt zurückgebracht, mehr als einmal. Es liegt ja auf der Hand: behandelt sie wie die Hunde, und sie reagieren und arbeiten wie die Hunde, behandelt sie wie Menschen, und sie benehmen sich entsprechend.« Und der brave Pferdehändler bekräftigte seine moralische Anständigkeit mit einem wahren Freudenfeuer von Spuckgeschossen gegen den Kamin.
»Da haben Sie sehr recht, mein Freund«, sagte Mr. Wilson; »und dieser Bursche, den sie hier beschreiben, ist zweifellos ein feiner Kerl. Er hat bei mir sechs Jahre in einer Sackleinwandfabrik gearbeitet und war meine erste Kraft. Ein begabter Bursche, er erfand eine Maschine zur Reinigung des Hanfs, ein wahres Meisterstück. Man hat es bereits in anderen Fabriken eingeführt, sein Herr hat das Patent.«
»Ich wette, er hat es und verdient daran eine Stange Geld, und dann geht er hin und brandmarkt den Jungen. Wenn ich nur könnte, würde ich ihm etwas zeigen, was er nicht so schnell vergißt.«
Hier wurde die Unterhaltung unterbrochen; ein einspänniger, kleiner Wagen, der gar vornehm aussah, hielt vor dem Hause, drinnen saßen ein wohlgekleideter, feiner Herr und ein farbiger Diener, der kutschierte.
Die ganze Gesellschaft betrachtete den Neuankömmling mit einem Interesse, wie es Müßiggänger und Tagediebe an regnerischen Tagen allen Ereignissen entgegenbringen. Er war von hoher Gestalt und dunklem, spanischem Teint, mit ausdrucksvollen, schwarzen Augen und dichtem, krausem Haar von der gleichen glänzenden Schwärze. Seine wohlgeformte Adlernase, seine schmalen Lippen und die herrlichen Umrisse seiner schön geformten Glieder verfehlten nicht, ihren Eindruck auf die Gesellschaft zu machen. Er war kein gewöhnlicher Reisender, er trat leicht und unbefangen unter die Gäste, wies seinem Diener mit einem Kopfnicken den Platz für seine Koffer an, verneigte sich vor der Gesellschaft und schritt mit dem Hut in der Hand gelassen auf den Schanktisch zu, wo er seinen Namen angab: »Henry Butler, Oaklands, Shelby Country.« Dann wandte er sich gleichgültig ab und schlenderte zu der Anzeige an der Wand, die er überflog.
»Jim«, sagte er zu seinem Diener, »mir scheint, wir haben so einen ähnlichen Burschen getroffen, unten in Bernan's.«
»Ja, gnädiger Herr«, erwiderte Jim, »aber mit der Hand, das weiß ich nicht genau.«
»Nein, darauf haben wir natürlich nicht geachtet«, sagte der Fremde und gähnte gelangweilt. Dann wandte er sich an den Wirt und bestellte ein gutes Zimmer, um sofort einige Briefe zu erledigen.
Der Wirt verbeugte sich dienstbeflissen, und eine Schar von sieben Negern, alt und jung, männlich und weiblich, groß und klein, schwirrten alsbald wie aufgescheuchte Rebhühner umher, geschäftig hin und her eilend, einander auf die Zehen tretend und übereinander purzelnd, alle voller Eifer, dem Herrn das Zimmer zu richten, der sich währenddessen unbefangen mitten in der Wirtsstube niedergelassen hatte und mit seinem Nachbarn plauderte.
Der Fabrikant, Mr. Wilson, hatte den Fremden von seinem Eintritt an mit einem Ausdruck ängstlicher und unruhiger Neugierde betrachtet. Es kam ihm vor, als habe er ihn schon einmal getroffen und kennengelernt, aber er konnte sich nicht genau entsinnen. Jeden Augenblick, wenn der andere sprach, sich bewegte oder lächelte, fuhr er auf, starrte ihn an, um seine Augen eilig abzuwenden, wenn die klugen, dunklen Augen des Fremden ihn mit achtloser Kälte musterten. Endlich schien dem alten Herrn die Erleuchtung zu kommen, denn er starrte in so sprachloser Verblüffung und so sichtbarer Betroffenheit auf den anderen, daß dieser auf ihn zuschritt.
»Mr. Wilson, nicht wahr?« fragte er und reichte ihm die Hand. »Verzeihen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannte. Aber ich sehe, Sie entsinnen sich meiner: Mr. Butler von Oaklands, Shelby Coun–try.«
»Ja, ganz recht«, erwiderte Mr. Wilson, wie einer, der im Traume spricht.
In diesem Augenblick erschien ein Negerknabe und meldete, das Zimmer des Herrn sei bereit.
»Jim, du besorgst die Koffer«, sagte der Herr nachlässig, dann sich wieder Mr. Wilson zuwendend, fügte er hinzu: »Ich möchte Sie bitten, mir fünf Minuten Gehör zu schenken, geschäftlich, auf meinem Zimmer, wenn ich bitten darf.«
Mr. Wilson folgte ihm wie ein Traumwandler. Sie gelangten nach oben in ein großes Zimmer, wo ein frisch entfachtes Feuer brannte und noch verschiedene Diener umhereilten und letzte Hand anlegten.
Nachdem alles wohlgelungen war und die Dienerschaft sich entfernt hatte, verschloß der junge Mann sorgfältig die Tür, und, den Schlüssel in die Tasche steckend, kehrte er sich um und blickte mit verschränkten Armen Mr. Wilson freimütig ins Gesicht.
»Georg!« sagte Mr. Wilson.
»Ja, Georg«, wiederholte der junge Mann.
»Das hätte ich nicht gedacht.«
»Ich bin anscheinend ganz gut verkleidet«, sagte der junge Mann lächelnd. »Ein wenig Walnußschale hat meiner gelben Haut ein vornehmes Braun gegeben, und mein Haar habe ich schwarz gefärbt. Sie sehen also, der Anschlagzettel paßt nicht mehr so recht.«
»O Georg, du spielst ein gefährliches Spiel. Ich hätte dir immer abgeraten.«
»Das tue ich auf meine eigene Verantwortung«, erwiderte Georg mit demselben stolzen Lächeln.
Wir bemerken beiläufig, daß Georg väterlicherseits weißen Ursprungs war. Seine Mutter war eine jener Unglücklichen ihrer Rasse, deren persönliche Schönheit sie von vornherein zur Sklavin der Leidenschaften ihres Besitzers und zur Mutter von Kindern machte, die ihren Vater niemals kennenlernen. Von einer der stolzesten Familien in Kentucky hatte er die schönsten europäischen Gesichtszüge und einen hochfliegenden, unbezähmbaren Geist geerbt. Von seiner Mutter hatte er eine leichte Mulattentönung mitbekommen, durch das glänzende, dunkle Auge reichlich wettgemacht. Eine kleine Veränderung in der Färbung seiner Haut und der Tönung seiner Haare hatte ihn in den Spanier verwandelt, als welcher er auftrat. Anmut der Bewegung und Feinheit der Manieren waren ihm so angeboren, daß es ihm keineswegs schwerfiel, die kühne Rolle, die er sich zugelegt hatte, die eines Herrn von Welt und Rang, der mit seinem Diener reist, glaubwürdig zu spielen.
Mr. Wilson, ein gutherziger, aber äußerst ängstlicher und vorsichtiger alter Herr, ging unruhig im Zimmer auf und ab und fühlte sich hin und her gerissen, einerseits Georg zu helfen, andererseits Ordnung und Gesetz aufrechtzuerhalten. Seinem verwirrten Herzen machte er mit den Worten Luft: »Also Georg, du bist ausgerissen–verlierst deinen gesetzmäßigen Herrn — kein Wunder — und doch tut es mir leid, Georg, ja entschieden, ich muß dir sagen, Georg, ich halte es für meine Pflicht.«
»Warum tut es Euch leid?« sagte Georg ruhig.
»Nun, weil du dich sozusagen gegen die Gesetze deines Landes auflehnst.«
»Meines Landes!« sagte Georg mit starker und bitterer Betonung. »Welches Land habe ich außer dem Grabe? Und ich wünschte bei Gott, ich läge dort!«
»O Georg, du bist in einer schrecklichen Gemütsverfassung. Das ist ja die reine Verzweiflung. Es geht mir wirklich nahe. Einfach die Gesetze deines Landes zu brechen!«
»Ihr habt ein Vaterland, aber welches habe ich und meinesgleichen, die wir von Sklavenmüttern geboren sind? Welche Gesetze gelten für uns? Wir erlassen sie nicht, wir stimmen nicht zu — wir haben nichts mit ihnen zu tun, und sie zermalmen uns nur und halten uns unten. Habe ich nicht Eure Reden gehört zum 4. Juli? Sagtet Ihr uns nicht einmal im Jahr, daß die Regierung ihre Macht von der Zustimmung des Volkes hat? Kann einer wie ich sich nicht einen Vers darauf machen, wenn er das hört? Kann er nicht zwei und zwei zusammensetzen und sagen, was daraus entsteht?«
Mr. Wilson hatte ein Gemüt, das man gar wohl mit einem Ballen Baumwolle vergleichen konnte. Es war luftig, weich, verheddert und versponnen. Er bedauerte Georg ganz aufrichtig und hatte auch eine verschwommene Vorstellung von den Gefühlen, die ihn bewegten. Aber er hielt es für seine Pflicht, ihm mit unermüdlicher Hartnäckigkeit gut zuzureden.
»Georg, dies ist schlimm. Ich muß es dir als Freund sagen, du weißt ja, daß du dich besser von solchen Gedanken fernhältst, sie sind gefährlich, Georg, für Männer in deiner Lage viel zu gefährlich«, und Mr. Wilson setzte sich am Tisch nieder und begann nervös an dem Griff seines Regenschirms zu nagen.
»Hört doch einmal, Mr. Wilson«, sagte Georg herzutretend und sich entschlossen dem alten Herrn gegenübersetzend. »Seht mich einmal an. Sitze ich nicht vor Euch, in jeder Beziehung ein Mann wie Ihr selber? Seht mein Gesicht — meine Hände — meinen Körper« - und der junge Mann richtete sich stolz in die Höhe. »Warum bin ich nicht ein Mann so gut wie jeder andere? Also, Mr. Wilson, jetzt hört mich an. Mein Vater war einer von den Herren in Kentucky, der sich nicht genug um mich gekümmert hatte, um mir das Los seiner Hunde und Pferde zu ersparen, die bei seinem Tode verkauft wurden, um die Schulden des Gutes zu decken. Ich sah, wie man meine Mutter auf der Versteigerung mit ihren lieben Kindern ausstellte. Vor ihren Augen wurden sie verkauft, eins nach dem anderen, jedes an einen anderen Herrn; und ich war das jüngste. Sie kam und ging in die Knie vor meinem ersten Herrn und flehte, er möge sie auch kaufen, damit sie wenigstens ein Kind behalten könnte. Er aber trat nach ihr mit seinem Stiefel. Ich sah es mit an, und das letzte, was ich von ihr hörte, war ihr Klagen und Schreien, als ich an den Hals des Pferdes gebunden wurde, das mich wegtrug auf das Gut.«
»Und dann?«
»Mein Herr verhandelte noch mit einem der Leute und kaufte auch meine älteste Schwester. Sie war ein frommes, gutes Mädchen, gehörte zur Baptistensekte — und war so schön wie meine arme Mutter. Sie hatte eine gute Erziehung genossen und hatte feine Manieren. Zunächst war ich sehr froh über ihren Kauf, daß ich einen Freund in der Nähe hatte, aber bald sollte ich es beklagen. Ach, ich habe an der Tür gestanden und gehört, wie man sie auspeitschte, und jeder Schlag zielte auf mein bloßes Herz, aber ich konnte nichts tun, um sie zu schützen. Man schlug sie für ihren christlichen Lebenswandel, den Eure Gesetze keinem Sklavenmädchen erlauben, und schließlich sah ich sie in Ketten in einem Sklavenschuh stehen, mit dem zusammen sie auf dem Markt in Orleans verkauft wurde, einzig aus diesem Grunde. Seitdem habe ich nie wieder etwas von ihr gehört. Ich selber wuchs heran — lange, lange Jahre ohne Vater, ohne Mutter, ohne Schwester, ohne eine einzige lebendige Seele, die sich mehr um mich kümmerte als um einen Hund, nichts als Schläge, Schimpfen und Hungern wurde mir zuteil. Ach, Mr. Wilson, so hungrig bin ich gewesen, daß ich froh war über die Knochen, die man den Hunden zuwarf. Und dennoch, als ich noch klein war und ganze Nächte wach lag, und weinte, geschah es nicht wegen des Hungers und wegen der Schläge. Nein, ich weinte nach meiner Mutter und nach meiner Schwester, ich weinte, weil ich auf der weiten Welt nicht einen Freund hatte; auch Frieden und Behagen kannte ich nicht. Ich hatte nie ein freundliches Wort gehört, bis ich zu Ihnen in die Fabrik kam, Mr. Wilson, Ihr habt mich gut behandelt. Ihr habt mich ermutigt, Lesen und Schreiben zu lernen und was aus mir zu machen. Gott allein weiß, wie dankbar ich Euch bin. Und dann traf ich mein Weib–Ihr wißt, wie schön sie ist. Als ich merkte, sie liebte mich, als ich sie heiratete, konnte ich kaum glauben, daß ich lebte, so glücklich war ich; dabei ist sie ebenso gut wie schön. Und was dann? Dann kommt mein Herr, reißt mich weg von meiner Arbeit, meinen Freunden, von allem, was mir teuer ist und stößt mich in den Schmutz. Und warum? Weil ich, wie er sagte, vergaß, was ich bin; er sagt, um mich zu lehren, daß ich nur ein Nigger bin. Schließlich stellt er sich zwischen mich und mein Weib und verlangt, ich solle sie aufgeben und eine andere nehmen. Zu alldem aber ermächtigt ihn Euer Gesetz, trotz Menschen–und Gottesrecht. Mr. Wilson, begreifen Sie doch! Was meiner Mutter und meiner Schwester und meinem Weibe und mir das Herz gebrochen hat, alle diese Ereignisse. Eure Gesetze gestatten sie und geben jedermann in Kentucky das Recht dazu, und keiner kann ihn hindern. Nennt Ihr das die Gesetze meines Landes? Mr. Wilson, ich habe kein Vaterland, ich habe auch keinen Vater. Aber ich werde mir eines verschaffen. Ich verlange nichts von Eurem Land als meine Ruhe, daß man mich in Frieden ziehen läßt; und wenn ich nach Kanada komme, wo die Gesetze mich anerkennen und beschützen, dann soll das mein Vaterland werden, und seinen Gesetzen will ich Untertan sein. Aber wenn einer mich hindern will, soll er sich hüten, denn ich bin ein Verzweifelter. Ich werde um meine Freiheit kämpfen bis zum letzten Atemzug. Ihr sagt ja, Eure Väter taten das damals auch; was ihnen recht war, soll auch mir recht sein!«
Diese Rede, die Georg, teils am Tische sitzend und teils im Zimmer auf und ab gehend, begleitet von Tränen, von sprühenden Blicken und Gebärden der Verzweiflung gehalten hatte, überwältigte den gutherzigen alten Mann, an den sie gerichtet war, derartig, daß er sein großes gelbseidenes Taschentuch hervorzog und sich energisch die Augen rieb.
»Der Teufel hole sie«, brach er plötzlich los. »Habe ich es nicht immer gesagt, diese elenden Schweinehunde! Hoffentlich gilt das nicht als Fluchen! Also, zieh weiter, Georg, zieh weiter. Aber sei vorsichtig, mein Junge. Nicht schießen! Es sei denn — ach, besser nicht schießen. Wenigstens niemand treffen, weißt du. Wo ist eigentlich dein Weib, Georg?« fügte er hinzu, als er aufstand und im Zimmer auf und ab ging.
»Verschwunden, Mr. Wilson, auf und davon mit dem Kind auf dem Arm, nach Norden. Der Himmel weiß, wohin. Wann wir uns wiedersehen, und ob wir uns wiedersehen, das vermag kein Mensch zu sagen.«
»Ist es möglich? Wie erstaunlich! Bei solch einer gütigen Familie!«
»Gütige Familien geraten in Schulden, und die Gesetze unseres Landes gestatten ihnen, der Mutter das Kind zu entreißen, um dem Herrn die Schulden zu decken«, sagte Georg bitter.
»So, so«, antwortete der ehrliche alte Mann und wühlte in seiner Tasche. »Vermutlich sollte ich meiner besseren Einsicht folgen–zum Teufel, ich mag ihr nicht folgen«, setzte er plötzlich hinzu. »Also hier, Georg«, und seiner Brieftasche ein Bündel Banknoten entnehmend, bot er sie Georg an.
»Nein, gnädiger Herr«, erwiderte Georg. »Ihr habt viel für mich getan. Ich möchte Euch nicht ins Unglück stürzen. Ich hoffe, ich habe Geld genug. Das wird mich ans Ziel bringen.«
»Nein, Georg, du mußt. Geld hilft dir überall. Man kann nie zuviel davon haben — solange man es auf ehrliche Weise erlangt. Nimm es, bitte, nimm es, steck es ein, mein Junge.« »Nur unter der Bedingung, daß ich es später einmal zurückzahlen kann«, sagte Georg und nahm das Geld an.
»Und nun, Georg, wie lange willst du reisen in dieser Gestalt? Es ist ja schlau gemacht, aber zu kühn. Und dieser Schwarze, wer ist denn das?«
»Ein treuer Bursche, der vor mehr als einem Jahr schon nach Kanada ging. Nachdem er dort war, erfuhr er, daß sein Herr so ergrimmt war über seine Flucht, daß er seine arme alte Mutter auspeitschen ließ. Da ist er den ganzen Weg zurückgekommen, um sie zu trösten und eine Gelegenheit zu suchen, um sie mitzunehmen.«
»Ist ihm denn das gelungen?«
»Noch nicht. Er ist um das Gut herumgestrichen und fand noch keine Möglichkeit. Inzwischen begleitet er mich nach Ohio zu Freunden, die ihm helfen, und dann kehrt er nochmals zurück.«
»Gefährlich, höchst gefährlich!« sagte der alte Herr.
Georg richtete sich auf und lächelte verächtlich.
Der alte Mann musterte ihn von Kopf bis Fuß und konnte ein unschuldiges Erstaunen nicht verbergen.
»Georg, du hast dich großartig verändert. Du trägst deinen Kopf hoch und sprichst und gehst wie ein anderer Mensch«, sagte er.
»Weil ich ein freier Mann bin«, erwiderte Georg stolz. »Ja, ich habe zum letztenmal in meinem Leben zu einem Menschen Gnädiger Herr< gesagt, jetzt bin ich frei.«
»Nimm dich in acht. Noch bist du nicht sicher. Noch können sie dich ergreifen.«
»Alle Menschen sind frei und gleich im Grabe, wenn es dazu kommt, Mr. Wilson.«
»Deine Kühnheit verschlägt mir tatsächlich den Atem. Geradewegs hier im ersten Gasthof abzusteigen!«
»Mr. Wilson, weil es so kühn ist und der Gasthof so nahe, werden sie nie darauf kommen. Sie suchen mich in weiter Ferne, und Ihr selbst hättet mich kaum erkannt. Jims Herr wohnt nicht in dieser Gegend, er ist hier völlig unbekannt. Außerdem hat man ihn aufgegeben, niemand sucht ihn mehr, und mich wird niemand nach dem Steckbrief entdecken.«
»Aber das Zeichen in deiner Hand?«
Georg streifte seinen Handschuh ab und zeigte eine frisch verheilte Narbe auf seiner Handfläche.
»Das ist ein Abschiedsgeschenk von Mr. Harris«, sagte er zornig. »Vor vierzehn Tagen ungefähr kam er auf den Gedanken, es mir zu verabreichen, es war ihm nicht geheuer mit mir. Sieht interessant aus, nicht wahr?« fügte er hinzu, den Handschuh wieder anziehend.
»Ich muß sagen, mir erstarrt das Blut in den Adern, wenn ich mir das ausmale, deine Lage und alle Gefahren!« entgegnete Mr. Wilson.
»Mir ist es viele Jahre in den Adern erstarrt, Mr. Wilson. Zur Zeit ist es beinahe am Kochen«, erwiderte Georg.
»Also, verehrter Mr. Wilson«, fuhr Georg nach kurzem Schweigen fort, »ich sah gleich, daß Ihr mich erkannt hattet. Da hielt ich es für das beste, Euch um diese Unterredung zu bitten, sonst hätten mich am Ende Eure erstaunten Blicke verraten. Ich werde morgen frühzeitig aufbrechen. Morgen abend gedenke ich sicher in Ohio zu schlafen. Ich werde bei Tageslicht reisen, in den besten Hotels einkehren und mit den Herren des Landes speisen. Lebt wohl, mein Herr. Solltet Ihr hören, daß man mich ergriffen hat, dann wißt Ihr, daß ich nicht mehr am Leben bin!«
Georg stand aufrecht wie ein Fels da und reichte dem alten Herrn die Hand mit der Gebärde eines Prinzen. Der freundliche, kleine alte Mann schüttelte sie herzlich, ergriff dann unter manchen Ermahnungen seinen Regenschirm und verließ umständlich das Zimmer.
Georg blickte nachdenklich auf die Tür, die sich hinter dem alten Mann geschlossen hatte. Plötzlich schien ihn ein Gedanke zu durchzucken. Eilig hastete er zur Tür, öffnete sie und rief:
»Mr. Wilson, bitte noch auf ein Wort.«
Der alte Herr kam zurück, und Georg verriegelte die Tür abermals. Dann stand er noch einen Augenblick unentschlossen da, ehe er mit plötzlicher Anstrengung den Kopf hob:
»Mr. Wilson, Ihr habt Euch gegen mich immer als ein Christ erwiesen, darf ich Euch noch um einen letzten Beweis Eurer Nächstenliebe bitten?«
»Gewiß, Georg.«
»Ach, Ihr habt ja recht. Ich begebe mich in große Gefahr. Keine Seele wird es kümmern, wenn ich sterbe«, sprach er und holte tief Atem. Dann fuhr er mit Anstrengung fort. »Sie werden mich wie einen Hund verscharren, und keiner wird mir noch einen Gedanken widmen — außer meiner armen Frau. Armes Herz! Sie wird trauern und sich grämen. Wenn Ihr es vermöchtet, ihr diese kleine Nadel zu senden. Sie schenkte sie mir zu Weihnachten, das arme Kind. Gebt sie ihr und sagt ihr, ich hätte sie geliebt bis an mein Ende. Wollt Ihr das, wollt Ihr das tun?« fragte er in tiefem Ernst.
»Aber natürlich, mein armer Freund!« antwortete der alte Herr, die Nadel nehmend, seine Augen waren feucht und seine Stimme bebte.
»Und sagt ihr das eine: Es sei mein letzter Wunsch, wenn sie die Möglichkeit hat, nach Kanada zu gehen, mag ihre Herrin noch so freundlich und ihre Heimat noch so traut sein, sie soll nicht bleiben. Sklaverei führt stets ins Elend. Sagt Ihr, sie möge unseren Sohn als freien Mann erziehen, damit er nicht so leidet wie wir. Ihr werdet ihr das ausrichten, nicht wahr, Mr. Wilson?«
»Ja, Georg, ich richte es aus. Aber ich bin überzeugt, du wirst nicht sterben. Faß Mut, du bist ein tapferer Mensch. Vertraue auf Gott. Ich wünschte, du hättest es schon geschafft, obgleich — ich wünschte es aufrichtig.«
»Gibt es einen Gott, dem man vertrauen kann?« fragte Georg im Tone so bitterer Verzweiflung, daß der alte Mann aufhorchte. »Oh, ich habe mein Leben lang Dinge gesehen, die mich an einem Gott verzweifeln ließen. Ihr Christen wißt nicht, wie uns die Dinge erscheinen. Für euch gibt es einen Gott, gibt es auch einen für uns?«
»O Georg, so darfst du nicht sprechen, nicht doch, nicht doch«, beschwor ihn der alte Herr fast schluchzend. »Natürlich gibt es einen Gott. Wolken und Finsternis umgeben ihn, aber Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit sind seine Wohnungen. Es gibt einen Gott, Georg, glaube an ihn. Vertraue auf ihn, und er wird's wohlmachen. Alles wird gut enden, wenn nicht in diesem, dann im ewigen Leben.«
Die echte Frömmigkeit und Güte des alten Mannes verliehen seinen Worten Würde und Gewicht, Georg unterbrach seine Wanderung im Zimmer und blieb gedankenvoll stehen, dann sprach er ruhig:
»Ich danke Euch für diese Worte, guter Freund, ich werde sie bewahren.«