Gleichmäßig glitten die Wochen in St. Clares Haushalt dahin; denn wie gebieterisch, gefühllos, ungeachtet unserer Schmerzen nimmt doch das Leben seinen Lauf! Wir essen, trinken, schlafen und erwachen wieder — wir handeln, kaufen, verkaufen, stellen Fragen und geben Antwort, kurzum, wir jagen tausend Schatten nach, mag auch unser Interesse erloschen sein, das Interesse am Leben; was bleibt, ist der bloße Mechanismus des Lebens.
St. Clare hatte ganz unbewußt alle seine Hoffnungen und Lebensinteressen auf sein Kind gerichtet. Für Eva hatte er sein Besitztum verwaltet, nach Eva seine Zeit eingerichtet, dies und das für sie zu tun, war ihm so sehr zur Gewohnheit geworden, daß ihm nun nach ihrem Hinscheiden nichts mehr zu tun und nichts mehr zu denken übriggeblieben war.
Er hatte niemals vorgegeben, unter irgendwelcher religiösen Verpflichtung zu stehen; seine edle Natur erkannte instinktiv, wie weit die christlichen Gebote gingen, seine Handlungsweise stimmte mit ihnen überein, ohne daß er sich bewußt nach ihnen richtete. Denn davon schreckte er immer noch zurück.
Doch hatte er sich in mancher Hinsicht gewandelt. Er las gewissenhaft und andächtig in Evas Bibel; er überprüfte die Beziehungen zu seinen Leuten und war wenig mit seinem bisherigen und gegenwärtigen Verhalten zufrieden; eine Sache aber nahm er sogleich nach seiner Rückkehr nach New Orleans in Angriff, und das waren die ersten Formalitäten zu Toms Freilassung. Inzwischen schloß er sich Tom mit jedem Tag näher an. In der ganzen Welt schien ihn niemand so sehr an Eva zu erinnern, er ließ ihn nicht von seiner Seite; und so sorgfältig er sonst seine Gefühle verbarg, Tom gegenüber schien er beinahe laut zu denken. Tom aber lohnte die Anhänglichkeit seines Herrn mit doppelter Treue und Verehrung.
»Also, Tom«, sagte St. Clare am Tage, als er den ersten legalen Schritt zu seiner Freilassung unternommen hatte, »ich werde dich nun zum freien Mann machen; halte also deine Koffer bereit und rüste dich zur Heimreise nach Kentucky.«
Doch das jähe Freudenlicht in Toms Augen, als er seine Hände zum Himmel hob, sein inbrünstiges »Dem Herrn sei gedankt!« brachten St. Clare ein wenig außer Fassung, es gefiel ihm nicht, daß Tom ihn so bereitwillig verlassen wollte.
»So schlecht ist es dir schließlich nicht ergangen. Tom, so übermäßig brauchtest du dich nicht zu freuen«, sagte er trocken.
»Nein, nein, gnädiger Herr, nicht deswegen — aber frei zu werden! Darüber frohlocke ich!«
»Aber, Tom, denkst du nicht, daß du es hier persönlich besser hattest als in der Freiheit?«
»Nein, gewiß nicht, gnädiger Herr«, sagte Tom in ausbrechender Energie, »gewiß nicht!«
»Aber, Tom, du hättest dir doch durch deine Arbeit unmöglich solche Kleider und Lebensweise leisten können, wie ich sie dir bot.«
»Das weiß ich gut, gnädiger Herr, Ihr wart sehr gütig; aber lieber will ich schlechte Kleider, ein schlechtes Haus und alles schlecht haben, wenn es nur mein ist. Das ist so, so will es die Natur, Herr.«
»Wahrscheinlich. Und in ein, zwei Monaten wirst du aufbrechen und mich verlassen«, setzte er unzufrieden hinzu. »Was dir gewiß auch keiner verdenken kann«, sagte er sodann in fröhlicherem Ton, und aufstehend schritt er im Zimmer auf und ab.
»Nicht, solange der gnädige Herr Kummer hat«, sagte Tom. »Solange der gnädige Herr mich haben will, bleibe ich da — wenn ich von Nutzen sein kann.« »Solange ich Kummer habe, Tom?« sagte St. Clare und sah traurig aus dem Fenster… »Und wann wird mein Kummer vorüber sein?«
»Wenn der gnädige Herr bekehrt ist«, sagte Tom.
»Und bis zu dem Tage willst du bei mir bleiben?« sagte St. Clare und lächelt ein wenig, als er sich vom Fenster abwandte und Tom die Hand auf die Schulter legte. »Ach, Tom, du dummer Kerl! Bis zu dem Tage will ich dich nicht behalten. Geh du heim zu Weib und Kindern und grüße sie von mir!«
»Ich glaube fest, daß der Tag kommt«, sagte Tom ernst, mit Tränen in den Augen; »der Herrgott hat eine Aufgabe für den gnädigen Herrn.«
»Wie? Eine Aufgabe? Was?« sagte St. Clare; »na, Tom, laß hören, was ist das für eine Aufgabe?«
»Nun, selbst ein armer Kerl wie ich hat ja eine Aufgabe von un–serm Herrgott, und Ihr, gnädiger Herr, habt doch Bildung und Reichtum und Freunde, Ihr könnt da noch viel mehr tun!«
»Tom, du scheinst der Ansicht zu sein, Gott könnte uns alle anstellen«, sagte St. Clare lächelnd.
»Was wir unserm Nächsten tun, tun wir für den lieben Gott«, sagte Tom.
»Gute Theologie, Tom; besser als bei manchem Pfarrer«, sagte St. Clare.
An dieser Stelle wurde die Unterhaltung durch die Ankunft eines Besuchers unterbrochen.
Marie St. Clare empfand Evas Verlust so schmerzlich, wie es ihr überhaupt möglich war; und da sie eine Frau war, der es nicht schwerfiel, andere ihr Unglück fühlen zu lassen, hatte ihre Umgebung Grund genug, den Verlust der jungen Herrin zu beklagen, deren gewinnendes Wesen und sanfte Vermittlung ihnen so oft als Schild gedient hatte gegen die tyrannischen Launen ihrer Mutter. Besonders die arme alte Mammy, deren Herz, aller zarten Bande beraubt, sich an das schöne Kind geklammert hatte, war ganz gebrochen. Sie weinte Tag und Nacht und war in dem Übermaß ihres Schmerzes in ihren Handreichungen weniger flink und geschickt als sonst, so daß beständig ein Sturm der Entrüstung über ihr schutzloses Haupt herniederging.
Auch Miß Ophelia trug schwer an dem Verlust; aber in ihrem guten, ehrlichen Herzen trug er Frucht bis in die Ewigkeit. Sie waren sanfter und milder, sie ging ihren Pflichten in alter Treue nach, aber auf eine leisere Art, mit stillerer Miene, wie jemand, der nicht umsonst mit seinem Herzen Zwiesprache hält. Sie zeigte mehr Sorgfalt in der Unterweisung Topsys — sie unterrichtete sie vornehmlich an Hand der Bibel, schrak auch nicht mehr vor jeder Berührung zurück oder zeigte einen schlecht verhehlten Abscheu, denn sie empfand keinen mehr. Sie betrachtete ihren Zögling jetzt ein wenig mit Evas Augen und sah in ihr vor allem die unsterbliche Seele, die Gott ihr gesandt hatte, damit sie sie zu Tugend und Sittlichkeit führe. Topsy wurde gewiß nicht mit einemmal zur Heiligen; aber Evas Leben und Sterben hatte eine deutliche Wandlung in ihr verursacht; die kalte Gleichgültigkeit hatte sie abgelegt und statt dessen einen Hang zum Guten entwickelt, der noch häufig abbrach, stockte, aber stets von neuem wieder ansetzte.
Eines Tages, als Miß Ophelia nach Topsy schickte, kam diese und steckte im Laufen rasch etwas in ihren Kleidausschnitt.
»Was machst du da, du Hexe? Hast du wieder etwas gemaust, da wette ich«, sagte die kleine Rosa, die gern kommandierte und Topsy geholt hatte. Unwirsch ergriff sie sie am Arm.
»Gehen Sie weiter, Fräulein Rosa!« sagte Topsy und zerrte an ihrem Arm; »das geht Sie gar nichts an!«
»Warte, kleines Luder«, sagte Rosa. »Ich sah, wie du etwas versteckst — ich kenne deine Schliche«, und Rosa drängte ihre Hand in Topsys Kleidausschnitt, während Topsy außer sich geriet und mit Fußtritten und Ellbogenstößen ihr Recht verteidigte. Das Kampfgetöse rief Miß Ophelia und St. Clare auf den Plan.
»Sie hat gemaust«, sagte Rosa.
»Hab ich gar nicht!« ereiferte sich Topsy, schluchzend vor Empörung.
»Ganz egal, gib es her!« sagte Miß Ophelia bestimmt.
Topsy zögerte; aber auf ein zweites Geheiß zog sie ein kleines Päckchen hervor, das in einen alten Füßling eingewickelt war.
Miß Ophelia öffnete es. Da kam ein Büchlein zum Vorschein, das Eva Topsy geschenkt hatte und das für jeden einzelnen Tag einen Bibelspruch enthielt und außerdem, in Papier geschlagen, die Haarlocke, die sie an dem denkwürdigen Tag erhalten, als Eva allen Lebewohl gesagt hatte.
St. Clare war gerührt von dem Anblick, das Büchlein war mit einem schwarzen Kreppstreifen umwunden, den Topsy sich von einem Kranz abgerissen hatte.
»Warum hast du das darumgewickelt?« fragte St. Clare und hielt den Streifen in die Höhe.
»Weil — weil — weil es Fräulein Eva gehörte. Bitte, nicht wegnehmen!« flehte sie, und sich platt auf den Boden setzend, warf sie sich die Schürze über den Kopf und brach in lautes Schluchzen aus.
Lächerlich und rührend zugleich — der kleine alte Füßling — der schwarze Krepp — das Spruchbüchlein — die blonde, weiche Locke–und Topsys völlige Verzweiflung.
St. Clare lächelte; aber ihm standen die Tränen in den Augen, als er sagte:
»Komm, hör auf — weine nicht mehr; du sollst es wieder haben!«, und er legte ihr alles in den Schoß und zog Miß Ophelia mit sich ins Wohnzimmer.
»Ich bin überzeugt, aus soviel Treue läßt sich etwas herausholen«, sagte er, mit dem Daumen rückwärts über die Schulter deutend. »Ein Gemüt, das soviel Trauer empfindet, hat auch ein Organ für das Gute.«
»Das Kind hat gute Fortschritte gemacht«, erwiderte Miß Ophelia. »Ich habe jetzt große Hoffnung; aber, Augustin«, sagte sie und legte ihm die Hand auf den Arm, »eines möchte ich dich fragen: wessen Kind soll es eigentlich sein — deines oder meines?«
»Nun, ich hab sie dir geschenkt«, sagte Augustin.
»Aber nicht gesetzlich; ich möchte, daß sie mir dem Gesetz nach gehört«, sagte Miß Ophelia.
»Hoho, Kusine«, rief Augustin. »Was werden sie dann zu Hause denken? Sie werden einen Fastentag veranstalten, wenn du zum Sklavenhalter wirst.«
»Ach, Unsinn. Ich möchte sie haben, damit ich sie von Rechts wegen in die freien Staaten bringen und ihr die Freiheit geben kann, es soll doch nicht alles umsonst sein, was ich an ihr tue.«
»Ach, Kusine, wie entsetzlich, Böses zu tun, damit Gutes entsteht! Das darf ich nicht unterstützen.«
»Mach keine Späße, sei einmal vernünftig«, sagte Miß Ophelia. »Es hat keinen Zweck, wenn ich mich bemühe, eine Christin aus ihr zu machen, wenn ich sie nicht vor allen Zufällen und Nachteilen der Sklaverei bewahre. Wenn du sie mir wirklich überlassen willst, mußt du mir eine Erklärung oder irgendein Dokument ausstellen.«
»Na, gut«, antwortete St. Clare, »ich will es tun«, und er ließ sich nieder und faltete seine Zeitung auseinander.
»Ich möchte das jetzt gleich erledigt haben«, bestand Miß Ophelia.
»Warum so eilig?«
»Weil man eine Sache immer nur >jetzt< erledigen kann«, sagte Miß Ophelia. »Komm, hier ist Papier, Feder und Tinte, stell mir so ein Papier aus.«
Wie alle Männer seiner Gemütsart haßte St. Clare ganz allgemein jedes sofortige Handeln; er war daher sichtlich erbost über Miß Ophelias prompte Entschlossenheit.
»Was ist denn los?« fragte er; »genügt dir mein Wort nicht?« »Ich möchte gern sicher gehen«, erwiderte Miß Ophelia. »Du könntest sterben oder bankrott machen, und dann müßte Topsy zur Versteigerung, und ich könnte nichts dagegen tun.«
»Du bist wahrhaftig vorausschauend. Na, in den Händen eines Yankees gibt man besser nach«, und St. Clare schrieb geschwind eine Schenkungsurkunde aus, was ihm nicht schwerfiel, da er in allen Rechtssachen gut beschlagen war, und unterschrieb sie mit zügiger Hand und schwunghaftem Schnörkel.
»Also, hier, schwarz auf weiß, genügt das, Miß Vermont?« fragte er, als er sie ihr überreichte.
»Guter Junge«, antwortete Miß Ophelia lächelnd. »Aber muß sie nicht gegengezeichnet werden?«
»Ach, verflixt! — Natürlich. Hier«, sagte er, die Tür zu Maries Zimmer öffnend.
»Marie, die Kusine wünscht deine Unterschrift; setz doch hier eben deinen Namen hin.«
»Was ist das?« fragte Marie, als sie das Papier überflog. »Wie lächerlich! Ich dachte, die Kusine wäre für solch schreckliche Dinge zu fromm«, sagte sie hinzu, als sie nachlässig ihren Namen hinschrieb; »aber wenn sie diesen Artikel haben möchte, geben wir ihn gern.«
»Also, nun ist sie dein auf Gedeih und Verderb«, sagte St. Clare und händigte ihr das Papier ein!
»Nicht mehr als vorher«, entgegnete Miß Ophelia. »Niemand als der liebe Gott ist berechtigt, sie mir zu schenken, aber jetzt kann ich sie beschützen.«
»Dann ist sie also dein nach dem Gesetz«, meinte St. Clare, als er ins Wohnzimmer zurückkehrte und seine Zeitung wieder aufnahm.
Miß Ophelia, die möglichst wenig in Maries Gesellschaft verweilte, folgte ihm nach drüben, nachdem sie vorher das Dokument sorgfältig verschlossen hatte.
»Augustin«, fragte sie plötzlich und ließ ihr Strickzeug sinken, »hast du eigentlich für den Fall deines Todes irgendwelche Vorkehrungen für deine Leute getroffen?«
»Nein«, sagte St. Clare, während er weiterlas.
»Dann kann deine Nachsicht sich am Ende noch als große Grausamkeit erweisen.«
St. Clare hatte schon oft dasselbe gedacht, aber er antwortete nachlässig:
»Ich werde schon Vorkehrungen treffen.«
»Wann?« fragte Miß Ophelia.
»Oh, eines Tages.«
»Und wenn du vorher stirbst?«
»Kusine, was ist denn los?« sagte St. Clare, seine Zeitung sinken lassend, und sah sie an. »Zeig ich denn schon Symptome des gelben Fiebers oder der Cholera, daß du mit solchem Eifer meine letztwilligen Verfügungen betreibst?«
»Mitten im Leben stehen wir im Tode«, antwortete Miß Ophelia.
St. Clare stand auf und legte die Zeitung hin, achtlos trat er unter die offene Verandatür, um die Unterhaltung abzubrechen, die ihm nicht angenehm war. Mechanisch wiederholte er das letzte Wort -»im Tode!« -, und als er sich gegen das Geländer lehnte und das Funkeln der Wasser des Springbrunnens sah und wie hinter Schleiern die Blumen, Bäume und Vasen im Hof wahrnahm, wiederholte er das geheimnisvolle Wort abermals, das jedem Munde so geläufig und doch von so furchtbarer Gewalt ist - »im Tode!«
»Merkwürdig, daß es solch ein Wort gibt«, sagte er, »und solch ein Ding, und es wird immer vergessen, daß man an einem Tag noch lebendig, warm und schön, voller Hoffnungen, Wünsche und Verlangen und schon am nächsten Tag für immer dahin ist!«
Es war ein warmer schöner Abend; als er hinüberschritt zum an–dern Ende der Veranda, sah er dort Tom andächtig in der Bibel lesen, sein Finger rutschte mühelos von einem Wort zum andern, während seine Lippen jedes einzelne ernsthaft nachsprachen.
»Soll ich dir vorlesen, Tom?« fragte St. Clare und nahm neben ihm Platz.
»Wenn der gnädige Herr so gütig ist«, sagte Tom dankbar. »Dann wird es mir viel klarer.«
St. Clare nahm das Buch, überflog die Stelle, und begann mit einem Absatz, den Tom mit dicken Strichen umrandet hatte. Er lautete:
»Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet.« St. Clare las mit interessierter Stimme weiter, bis er an den letzten Vers kam:
»Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich nicht gespeist, ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt; ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt; ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet; ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht. Da werden sie ihm auch antworten und sagen, Herr, wann haben wir dich gesehen, hungrig oder durstig oder als einen Gast oder nackt oder krank oder gefangen und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.«
St. Clare schien vom letzten Satz sehr betroffen zu sein, denn er las ihn zweimal langsam, als ob er die Worte innerlich überlegte.
»Tom«, sagte er, »diese Leute, die da so schwer gestraft werden, scheinen sich nicht anders als ich verhalten zu haben — sie führten ein gutes, ehrsames Leben und kümmerten sich nicht darum, wie viele ihrer Brüder hungrig oder durstig, krank oder gefangen waren.«
Tom antwortete nicht.
St. Clare erhob sich und ging nachdenklich auf der Veranda auf und ab, alles andere über seinen eignen Gedanken vergessend; er war so geistesabwesend, daß Tom ihn zweimal auf den Gong zum Tee aufmerksam machen mußte, bevor er hörte.
Während des Tees war St. Clare zerstreut und gedankenvoll. Nach dem Tee setzte er sich wortlos zu den beiden Damen ins Wohnzimmer.
Marie zog sich auf ihre Ruhestatt hinter seidene Moskitoschleier zurück und war bald fest eingeschlafen. Miß Ophelia griff schweigend zu ihrem Strickzeug. St. Clare setzte sich ans Klavier und spielte eine sanfte, melancholische Weise. Er schien seinen Träumen nachzuhängen und sich in Musik zu verströmen. Kurz danach öffnete er eine Schublade, zog ein altes Notenheft mit vergilbten Blättern hervor und begann darin zu blättern.
»Hier«, sagte er zu Miß Ophelia, »dies ist noch ein Heft von meiner Mutter, hier ist ihre Handschrift — komm, sieh es dir einmal an. Dies hat sie nach Mozarts Requiem zusammengestellt.« Miß Ophelia folgte seiner Aufforderung.
»Das hat sie oft gesungen«, sagte St. Clare. »Mir ist, als hörte ich sie noch.«
Er schlug einige mächtige Akkorde an und hub an zu singen, es war das große, alte lateinische >Dies Irae<.
Tom hatte auf der Veranda gelauscht und wurde jetzt unwiderstehlich von dem Klang der Musik zur Tür gezogen, wo er ergriffen stehenblieb. Er verstand natürlich die Worte nicht, aber Musik und Gesang schienen großen Eindruck auf ihn zu machen, besonders als St. Clare die ergreifenden Stellen sang. Tom hätte sich noch tiefer rühren lassen, wenn er die Bedeutung der schönen Worte verstanden hätte:
»Recordare, Jesu pie,
Quod sum causa tuae viae
Ne me perdas ilia die:
Quaerens me, sedisti lassus,
Redemisti crucem passus,
Tantus labor non sit casus.«
St. Clare gab den Worten einen tiefgefühlten Ausdruck; der schattenhafte Schleier der Jahre schien zurückgeschlagen, und wieder schien er die Stimme der Mutter zu hören. Stimme und Instrument schienen Leben zu gewinnen und gaben voller Mitgefühl jene Stellen wieder, die der unsterbliche Mozart als eigenes Sterbelied niedergeschrieben.
Als St. Clare geendet hatte, stützte er einen Augenblick seinen Kopf auf die Hände und begann dann wieder, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Welch göttliche Vorstellung des Jüngsten Gerichts!« rief er aus; »wie wird da alles Unrecht geradegerückt — wie werden alle moralischen Probleme durch eine unerforschliche Weisheit gelöst. Es ist tatsächlich ein wunderbares Bild.«
»Für uns ist es erschreckend«, meinte Miß Ophelia.
»Wahrscheinlich müßte es mich erschrecken«, sagte St. Clare, nachdenklich innehaltend. »Ich habe Tom nach Tisch das Kapitel aus dem Matthäusevangelium vorgelesen, das davon berichtet, und ich stehe noch ganz unter diesem Eindruck. Man sollte meinen, daß alle diejenigen, die aus dem Himmel ausgeschlossen sind, eines furchtbaren Unrechts angeklagt werden! Aber nein — sie werden verdammt, weil sie nichts Gutes taten, als ob daraus schon alles Unheil entstünde.«
»Vielleicht ist es für Menschen unmöglich«, sagte Miß Ophelia, »das Unheil zu verhüten, wenn sie nichts Gutes stiften.«
»Und was«, fragte St. Clare geistesabwesend, voll tiefer Empfindung, »was aber sagt man von dem, der kraft seines Herzens und kraft seiner Erziehung durch die Nöte der Gesellschaft vergeblich zu hohen Zielen berufen war? Der nicht Hand anlegte, sondern nur ein Zuschauer der Kämpfe, Nöte und Verbrechen war?«
»Ich würde sagen«, entgegnete Miß Ophelia, »er sollte bereuen und frisch von neuem beginnen.«
»Immer praktisch, immer den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte St. Clare, und ein Lächeln breitete sich über seine Züge. »Du läßt mir nie Zeit zu allgemeinen Betrachtungen, Kusine, du bringst mich immer kurz entschlossen in die Gegenwart zurück; in deinem Kopf regiert das ewige >Jetzt<.«
»>Jetzt< ist alles, was ich an Zeit zum Handeln habe«, entgegnete Miß Ophelia.
»Liebe kleine Eva — armes Kind!« sagte St. Clare. »Ihr ganzes Herz hing daran, daß ich diese eine gute Tat vollbrächte!«
Zum erstenmal seit Evas Tod hatte er wieder von ihr gesprochen; er fuhr fort und suchte seiner tiefen Bewegung Herr zu werden.
»Meine Ansicht vom Christentum ist diese, daß niemand sich auf die Dauer dazu bekennen kann, der sich nicht mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit gegen diese fürchterliche Ungerechtigkeit auflehnt, die unserer Gesellschaft zugrunde liegt, und wenn es sein muß, sich in diesem Kampf aufopfert. Damit will ich sagen, ich könnte nur auf diese Weise Christ sein, obwohl ich vielfach mit aufgeklärten und christlichen Männern zusammenkam, die nichts dergleichen unternahmen. Ich gestehe, daß die Trägheit religiöser Menschen dieser Sache gegenüber, ihre mangelnde Wahrnehmung jenes Unrechts, das mich mit Entsetzen erfüllt, mehr als alles andere meine Skepsis erregten.«
»Wenn du dies alles erkannt hast«, fragte Miß Ophelia, »warum hast du dann nichts unternommen?«
»Oh, weil mein Tatendrang nicht weiter reicht, als auf dem Sofa liegend Kirche und Geistlichkeit zu verfluchen, daß sie keine Lust haben, Märtyrer und Bekenner zu werden. Das erkennt man nicht, weißt du, daß andere Märtyrer sein müßten.«
»So, so, und willst du jetzt anders vorgehen?«
»Gott allein kennt die Zukunft«, erwiderte St. Clare. »Ich bin jetzt tapferer als früher, seitdem ich alles verlor; wer nichts mehr zu verlieren hat, kann leichter ein Risiko auf sich nehmen.«
»Was also wirst du tun?«
»Hoffentlich meine Pflicht gegenüber den Armen und Niedrigen, sobald ich nur Klarheit habe, angefangen bei meinem eigenen Personal, für das ich noch nichts getan habe; vielleicht stellt sich dann später heraus, daß ich für eine ganze Klasse etwas tun kann, um damit mein Land von der Schande zu befreien, vor allen anderen zivilisierten Nationen in diesem falschen Licht zu stehen.«
»Hältst du es nicht für möglich, daß eine Nation freiwillig die Gleichstellung der Rassen gewährt?«
»Ich weiß nicht«, antwortete St. Clare, »wir leben in Zeiten großer Taten. Heldenmut und Uneigennützigkeit haben schon trotz riesiger Verluste Millionen Leibeigener freigesetzt. Auch bei uns könnten sich großmütige Geister finden, die Ehre und Gerechtigkeit nicht nach Dollar und Cent berechnen.«
»Das glaub ich kaum«, sagte Miß Ophelia.
»Aber angenommen, wir erheben uns morgen und befreien die Sklaven, wer will die Millionen erziehen und sie den Gebrauch ihrer Freiheit lehren? Bei uns wüßten sie damit nicht viel anzufangen. Tatsächlich sind wir selbst zu faul und zu unpraktisch, um ihnen den richtigen Begriff von Fleiß und Energie beizubringen, damit sie zu Männern werden. Daher werden sie sich nach Norden wenden müssen, wo Arbeit Mode — und allgemeiner Brauch ist. Was meinst du, Kusine, werden eure Nordstaaten genug christliche Nächstenliebe aufbringen, um diesen Prozeß der Erziehung und Aufklärung zu vollziehen? Ihr schickt Tausende von Dollar an die Äußere Mission, aber würdet ihr es ertragen, wenn man die Heiden in eure Dörfer und Städte schickte und euch genügend Zeit, Überlegung und Geld ließe, um sie auf den christlichen Standard zu bringen?
Das hätte ich gern gewußt. Wenn wir die Sklaven freilassen, seid ihr bereit, sie zu erziehen? Wie viele Familien deiner Heimatstadt würden einen Neger, Mann oder Frau, aufnehmen, unterrichten, täglich ertragen und versuchen, einen anständigen Christen aus ihm zu machen? Wie viele Kaufleute oder welcher Mechaniker, falls er ein Handwerk erlernen möchte, würden Adolf als Lehrling einstellen? Wenn ich Jane und Rosa zur Schule schicken möchte, welche Schulen der Nordstaaten würden sie aufnehmen? In welchen Familien könnten sie wohnen? Dabei sind sie so weiß wie manches Mädchen im Norden oder Süden. Siehst du, Kusine, mir ist es um Gerechtigkeit zu tun. Wir sind hier in einer schlechten Lage. Wir sind die sichtbaren Unterdrücker der Neger; aber das unchristliche Vorurteil des Nordens ist ein Unterdrücker, dessen Faust mindestens ebenso schwer auf ihnen lastet.«
»Ach ja, Vetter, ich weiß das«, erwiderte Miß Ophelia.
»Mir erging es genauso, bis ich es als meine Pflicht erkannte, daß ich mich zu überwinden hatte, und das ist mir jetzt wohl gelungen. So wird es im Norden viele Menschen geben, die nur erfahren müssen, welche Pflichten sie haben. Es gehört sicher mehr Selbstverleugnung dazu, Heiden in unserer Mitte aufzunehmen, als Missionare auszusenden; aber ich denke, wir müßten es schaffen.«
»Du sicher, das weiß ich«, sagte St. Clare. »Ich möchte nur wissen, was du nicht schafftest.«
»Na, ich bin gewiß keine Ausnahme. Da würden andere ganz anders handeln. Ich werde Topsy mitnehmen, wenn ich heimgehe. Wahrscheinlich wird sich meine Familie anfangs ein bißchen aufregen, aber dann werden sie sich gewinnen lassen. Außerdem weiß ich, daß viele Menschen im Norden genau das in die Tat umsetzen, was du sagtest.«
»Ja, aber sie sind in der Minderheit, und wenn wir die Freilassung in etwas größerem Umfang betrieben, würden wir bald etwas zu hören kriegen.«
Miß Ophelia antwortete nicht. Es entstand eine kurze Pause, und wieder flog ein schmerzlicher, verträumter Ausdruck über St. Clares Züge.
»Ich weiß nicht, warum ich heute so viel an meine Mutter denken muß«, fing er wieder an. »Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl, als ob sie mir nahe sei. Mir fallen Dinge ein, die sie früher sagte. Seltsam, wie einen die vergangenen Dinge zuweilen heimsuchen!«
St. Clare ging noch einigemal im Zimmer auf und ab und sagte dann:
»Ich denke, ich werde noch ein Weilchen auf die Straße gehen und hören, was es Neues gibt.«
Er griff nach seinem Hut und schritt hinaus.
Tom folgte ihm und fragte, ob er ihn begleiten solle.
»Nein, mein Junge«, antwortete ihm St. Clare; »ich werde in einer Stunde wieder zurück sein.«
Tom setzte sich auf die Veranda. Es war ein schöner, mondheller Abend; er saß ganz ruhig und sah dem Steigen und Fallen des Springbrunnens zu und lauschte auf sein Geplätscher. Tom dachte an zu Hause, daß er bald ein freier Mann sein und nach Hause zurückkehren würde. Er überlegte, wie er arbeiten wollte, um Weib und Kinder auszulösen. Mit Freuden fühlte er die Muskeln seiner kräftigen Arme, als er daran dachte, daß diese Kräfte bald ihm gehören und wie er sie anspannen würde für die Freiheit seiner Familie. Dann dachte er an seinen edlen Herrn, und im Zusammenhang damit folgte das Gebet, das er stets für ihn sprach. Weiter wander–ten seine Gedanken zu der kleinen Eva, die er nun unter den Engeln wußte. Lautes Klopfen weckte ihn plötzlich auf, und viele Stimmen ertönten am Tor.
Er eilte hin, um zu öffnen; da traten mit schwerem Schritt und unterdrückten Stimmen mehrere Männer ein, die auf einer Bahre, zugedeckt mit einem Mantel, einen Mann hereintrugen. Das Lampenlicht fiel voll auf sein Antlitz, und Tom stieß einen wilden Schrei tödlich erschrockener Verzweiflung aus, der in allen Galerien widerhallte, während die Männer mit ihrer Last zur offenen Wohnzimmertür schritten, wo Miß Ophelia noch mit ihrem Strickzeug saß.
St. Clare war in ein Cafe eingekehrt, um die Abendblätter zu durchfliegen. Während er noch las, erhob sich ein Streit im Saal zwischen zwei Herren, die beide angetrunken waren. St. Clare mit ein oder zwei anderen Gästen versuchte die Streitenden zu trennen; und während er noch bestrebt war, dem einen den Dolch zu entreißen, empfing er selbst einen schweren Stich in die Seite.
Das Haus scholl laut von Schreien und Klagen, Kreischen und Heulen, die Diener rauften sich die Haare, warfen sich zu Boden und liefen laut klagend sinnlos hin und her. Tom und Miß Ophelia waren die einzigen, die ihre Geistesgegenwart behielten, denn Marie lag in schweren hysterischen Krämpfen. Auf Miß Ophelias Geheiß wurde eilig eine Liegestatt im Wohnzimmer hergerichtet und der blutende Körper darauf niedergelegt. Durch Schmerz und Blutverlust war St. Clare bewußtlos, aber als Miß Ophelia Wiederbelebungsversuche anstellte, kam er wieder zu sich, schlug die Augen auf, blickte starr von einem zum andern und überflog dann das Zimmer, bis sein Blick wehmütig auf dem Bilde seiner Mutter haftenblieb.
Inzwischen war der Arzt gekommen und untersuchte den Verletzten. Der Ausdruck seines Gesichts ließ auf keine Hoffnung schließen; aber er machte sich daran, die Wunde zu verbinden; unter dem Wehklagen der aufgescheuchten Dienerschaft, die sich um Türen und Fenster der Veranda drängte, machte er sich mit Toms und Ophelias Beistand ans Werk.
»Und nun«, sagte der Arzt, »müssen die Leute verschwinden; jetzt hängt alles davon ab, daß er Ruhe erhält.«
St. Clare öffnete die Augen und blickte starr auf die traurigen Gestalten, die Miß Ophelia und der Doktor hinauszudrängen suchten.
»Arme Menschen«, sagte er, und ein Ausdruck bitterer Selbstanklage glitt über sein Gesicht. Adolf weigerte sich strikt hinauszugehen. Das Entsetzen hatte ihn um alle Selbstbeherrschung gebracht. Er warf sich der Länge nach auf den Fußboden, und nichts konnte ihn bewegen aufzustehen. Die übrigen gaben Miß Ophelias Vorstellung nach, daß das Leben ihres Herrn jetzt von ihrer Ruhe und ihrem Gehorsam abhinge.
St. Clare konnte nur wenig sprechen; er lag mit geschlossenen Augen da, aber es war offensichtlich, daß bittere Gedanken ihn verfolgten. Nach einer Weile legte er seine Hand auf Tom, der neben ihm kniete und flüsterte: »Tom! Armer Bursche!«
»Was ist, gnädiger Herr?« fragte Tom inständig.
»Ich sterbe!« antwortete St. Clare, seine Hand drückend; »bete!«
»Wenn Ihnen ein Geistlicher lieb wäre« - sagte der Arzt.
Hastig schüttelte St. Clare den Kopf und sagte noch dringlicher zu Tom: »Bete!«
Und Tom betete mit aller Kraft für die sterbende Seele. Es war ein echtes Gebet, dargebracht unter heißen Tränen. Als Tom geendet hatte, ergriff St. Clare seine Hand, sah ihn unverwandt an, sagte aber nichts. Er schloß die Augen, aber noch ließ sein Griff nicht nach — denn vor den Toren der Ewigkeit halten sich die schwarze und die weiße Hand mit gleicher Kraft umschlungen. In abgerissenen Pausen sprach er leise vor sich hin:
»Recordare, Jesu pie…
Ne me perdas — illa die
Quaerens me — sedisti lassus.«
Es war deutlich, daß die Worte, die er nachmittags gesungen, ihm durch den Kopf gingen — inständige Worte an das unendliche Erbarmen gerichtet. Seine Lippen bewegten sich und formten mühsam in Abständen die Worte der Hymne.
»Sein Geist wandert«, sagte der Doktor.
»Nein! Er kehrt endlich heim!« sprach St. Clare energisch; »endlich, endlich!«
Diese Anstrengung erschöpfte ihn. Die Blässe des Todes befiel ihn; aber zugleich legte sich, wie herabgleitend von den Flügeln eines mitleidigen Engels, ein Ausdruck des Friedens über seine gequälten Züge, wie bei einem verirrten Kind, das einschläft. So verschied er.