40. Kapitel Der junge Herr

Zwei Tage später fuhr ein junger Mann in einem leichten Wagen LA durch die Allee von Chinabäumen; den Pferden hastig die Zügel überwerfend, sprang er herab und erkundigte sich nach dem Besitzer.

Es war Georg Shelby; um zu erklären, wieso er hierherkam, müssen wir in unserer Geschichte zurückgreifen.

Der Brief, den damals Miß Ophelia an Mrs. Shelby geschrieben, war durch einen unglücklichen Zufall ein bis zwei Monate auf einem entlegenen Postamt liegengeblieben, ehe er seinen Bestimmungsort erreichte; und natürlich war Tom, bevor der Brief noch an Ort und Stelle ankam, längst in den fernen Sümpfen am Red River verschwunden.

Mrs. Shelby las die Nachricht mit tiefer Anteilnahme; aber daraufhin sofort Schritte zu unternehmen war ein Ding der Unmöglichkeit. Sie war damals als Pflegerin an das Krankenbett ihres Mannes gefesselt, der bewußtlos in schwerem Fieber lag. Georg Shelby, der sich in der Zwischenzeit von einem Jungen zu einem großen jungen Mann entwickelt hatte, stand ihr dabei getreulich zur Seite; er war ihr einziger Rückhalt bei der Durchführung aller Geschäfte. Miß Ophelia hatte ihnen in weiser Voraussicht den Namen des Anwalts genannt, der St. Clares Haushalt auflöste; an diesen einen Brief mit Erkundigungen zu schicken war alles, was sich in der Eile ermöglichen ließ. Als Mr. Shelby wenige Tage später plötzlich starb, traten natürlich andere Dinge gebieterisch in den Vordergrund.

Mr. Shelby bewies sein Vertrauen in die Fähigkeiten seiner Frau, indem er sie zum Vollstrecker seines letzten Willens eingesetzt hatte; daher hatte sie mit den dringendsten und schwierigsten Geschäften sogleich alle Hände voll zu tun.

Mit ihrer charakteristischen Energie machte sich Mrs. Shelby unverzüglich daran, Ordnung zu schaffen, und für einige Zeit war sie mit Georg vollauf beschäftigt, Rechnungen zu sichten und zu sammeln, Teile des Grundbesitzes zu verkaufen und die Schulden zu begleichen; denn Mrs. Shelby hatte beschlossen, reinen Tisch zu machen, gleichgültig, was dann übrigblieb. Inzwischen bekamen sie einen Brief von dem Anwalt, an den Miß Ophelia sie verwiesen hatte, der ihnen mitteilte, daß er nichts Näheres von der Angelegenheit wüßte; der Mann sei bei einer öffentlichen Auktion versteigert worden, er hätte das Geld für ihn bekommen, über seinen Verbleib wüßte er nichts.

Weder Georg noch Mrs. Shelby waren mit diesem Ergebnis zufrieden; als daher Georg ein halbes Jahr später in Geschäften seiner Mutter stromabwärts reiste, beschloß er, persönlich in New Orleans vorzusprechen und Erkundigungen über Tom einzuziehen und ihn zurückzukaufen.

Nach monatelanger, erfolgloser Suche stieß Georg durch einen Zufall auf einen Mann in New Orleans, der ihm Auskunft geben konnte. Mit seinem Geld in der Tasche bestieg unser Held den Dampfer auf dem Red River, fest entschlossen, seinen alten Freund ausfindig zu machen und zurückzubringen.

Er wurde alsbald ins Haus geführt, wo er Legree im Wohnzimmer traf.

Legree begrüßte den Fremden mit etwas säuerlicher Gastfreundschaft.

»Ich habe in Erfahrung gebracht«, sagte der junge Mann, »daß Sie in New Orleans vor längerer Zeit einen Sklaven mit Namen Tom kauften. Er war früher auf dem Hof meines Vaters, und ich möchte gern versuchen, ihn zurückzukaufen.«

Legrees Stirn verfinsterte sich, als er leidenschaftlich losbrach: »Ja, den Burschen habe ich gekauft und damit einen verdammten Fang gemacht! Der aufsässigste, unverschämteste, frechste Hund! Verleitet meine Nigger zum Weglaufen, hat zwei Frauensleuten zur Flucht verholfen, jedes Stück achthundert bis tausend Dollar wert. Er hat es selbst zugegeben, und als ich ihn hieß, mir zu sagen, wo sie wären, ging er hoch und sagte, er wüßte es wohl, aber er würde es nicht sagen; und dabei blieb er, obgleich ich ihn auspeitschen ließ, wie noch nie einen Nigger vorher. Jetzt will er anscheinend sterben, aber ich weiß nicht, ob es ihm gelingt.«

»Wo ist er?« fragte Georg heftig. »Lassen Sie mich zu ihm.« Die Wangen des jungen Mannes brannten in heller Röte, und seine Augen sprühten Funken; aber klugerweise sagte er vorläufig nichts weiter.

»Er liegt im Schuppen«, sagte ein kleiner Bursche, der neben Georgs Pferd stand und es festhielt. Legree trat nach dem Jungen und verwünschte ihn. Aber Georg drehte sich um und begab sich zu dem angegebenen Ort, ohne noch ein Wort zu verlieren.

Tom lag seit zwei Tagen hier; er litt nicht mehr, denn jeder Nerv war ihm zerstört und abgestorben. Meistens dämmerte er in ruhigem Halbschlaf dahin, denn ein kräftiger, gut gebauter Körper entläßt den gefangenen Geist nicht auf der Stelle. Heimlich, in der Dunkelheit der Nacht, hatten sich arme Gestalten zu ihm geschlichen, die ihre karge Nachtruhe opferten, um ihm einen jener kleinen Liebesdienste zu erweisen, in denen er selbst so unerschöpflich gewesen. Gewiß, diese armen Schüler vermochten nur wenig zu geben — nur den Becher kalten Wassers; aber den reichten sie aus vollem Herzen.

Auch Cassy war aus ihrem Versteck geschlüpft und hatte, im Hause lauschend, von dem Opfer gehört, das Tom ihr und Emme–line gebracht; vergangene Nacht war sie, aller Gefahr zum Trotz, im Schuppen erschienen und hatte sich von den wenigen letzten Worten, die zu äußern Toms liebevolle Seele gerade noch Kraft genug besaß, so rühren lassen, daß der lange Winter der Verzweiflung, das jahrelange Eis auf ihrer Seele endlich nachgegeben hatte; die dunkle verzweifelte Frau hatte gebetet und geweint.

Als Georg den Schuppen betrat, fühlte er, wie ihm alles vor den Augen schwamm und sein Herz sich Zusammenkrampfte.

»Ist es denn möglich? — Ist es denn möglich?« sagte er und kniete neben Tom nieder. »Onkel Tom! Mein armer, armer, alter Freund!«

Etwas Vertrautes in der Stimme schlug an das Ohr des Sterbenden. Sanft bewegte er seinen Kopf, lächelte und sagte:

»Jesus läßt ein Totenbett zu sanften Kissen werden — «

Tränen, die seinem männlichen Herzen alle Ehre machten, rollten dem jungen Mann aus den Augen, als er sich über seinen armen Freund beugte.

»Oh, lieber Onkel Tom! Wach auf — wach noch einmal auf! Sieh her! Hier ist dein junger Herr — dein kleiner Herr Georg! Kennst du mich nicht mehr?«

»Herr Georg!« sagte Tom, die Augen aufschlagend, mit schwacher Stimme, »Herr Georg!«

Aber langsam trat die Erkenntnis in seine Seele; das starre Auge belebte sich und glänzte, das ganze Gesicht erhellte sich. Er faltete die Hände, und Tränen rannen ihm über die Wangen.

»Gott sei gepriesen! Das ist — das ist — alles, was ich mir wünschte! Sie haben mich nicht vergessen, das wärmt mir die Seele, das tut meinem alten Herzen wohl! Jetzt werde ich in Frieden sterben! Lobsinge dem Herrn, meine Seele!«

»Du wirst nicht sterben! Du mußt nicht sterben und darfst gar nicht daran denken! Ich bin doch gekommen, um dich zu kaufen und nach Hause zu holen«, sagte Georg mit ungeduldiger Heftigkeit.

»Oh, Herr Georg, da kommen Sie zu spät. Der Heiland hat mich gekauft und wird mich nach Hause holen — und mich verlangt danach. Der Himmel ist besser als Kentucky.«

»Ach, stirb nicht! Es bringt mich um — es bricht mir das Herz, wenn ich bedenke, was du gelitten hast — und wie du hier in dem alten Schuppen liegst! Armer, armer Kerl!«

»Sagt nicht, armer Kerl!« sprach Tom feierlich. »Ich bin ein armer Kerl gewesen, aber das ist jetzt vorbei und abgetan. Ich stehe schon an der Tür und werde eingehen in die Herrlichkeit; oh, Herr Georg! Der Himmel ist gekommen! Der Sieg ist mein! — Der Heiland hat ihn mir geschenkt! Ehre seinem Namen!«

Georg war von Ehrfurcht erfüllt über die Kraft, die Heftigkeit und Gewalt, mit welcher Tom diese abgerissenen Sätze hervorstieß. Er starrte schweigend vor sich hin.

Tom ergriff seine Hand und fuhr fort: »Ihr müßt es nicht Chloe erzählen, der armen Seele, wie Ihr mich gefunden habt. Das wäre ihr zu schrecklich. Sagt ihr nur, Ihr habt mich in die Herrlichkeit eingehen sehen; und daß ich nicht bleiben konnte. Und sagt ihr, daß mir der Heiland allenthalben beigestanden und mir alles erleichtert hat. Ach, und die armen Kinder, und das Kleine — immer wieder hat sich mein Herz nach ihnen gesehnt. Sagt ihnen allen, daß sie mir folgen sollen! Grüßt den gnädigen Herrn und die liebe gnädige Frau und alle andern daheim. Ihr wißt es nicht, wie lieb ich euch alle habe. Jedes Wesen, überall — alles ist voll Liebe! Oh, junger Herr, was ist das für eine große Sache, ein Christ zu sein!«

In diesem Augenblick schlenderte Legree an der offenen Tür des Schuppens vorbei, blickte mürrisch, mit gespielter Gleichgültigkeit herein und ging vorbei.

»Der alte Satan!« rief Georg in seiner Entrüstung. »Es ist nur ein Trost, wenn man bedenkt, daß der Teufel es ihm eines Tages heimzahlen wird!«

»Oh, nicht doch — so dürft Ihr nicht reden!« sagte Tom und tastete nach seiner Hand; »er ist ein armer, elender Mensch. Es ist schrecklich, wenn man daran denkt! Ach, wenn er nur bereuen würde, der Heiland würde ihm noch verzeihen; aber ich fürchte, das wird er nicht tun.«

»Hoffentlich nicht!« antwortete Georg. »Ich will ihm gewiß nicht im Himmel begegnen.«

»Pst, Herr Georg! Das bekümmert mich. So müssen Sie es nicht ansehen. Er hat mir keinen Schaden zugefügt — nur die Tore zu dem himmlischen Reich geöffnet; mehr nicht!«

In diesem Augenblick schwand der Anflug von Kraft, die, hervorgerufen durch die Freude des Wiedersehens mit seinem jungen Herrn, den Sterbenden vorübergehend belebt hatte. Plötzlich setzte der Verfall ein; er schloß die Augen, und über sein Gesicht glitt die geheimnisvolle, erhabene Veränderung, welche das Nahen einer anderen Welt ankündigt.

In langen, rasselnden Atemzügen holte er Luft, mühsam hob und senkte sich die breite Brust. Ein sieghafter Ausdruck trat auf seine Züge.

Georg war in feierlicher Ehrfurcht erstarrt. Es war ihm, als sei der Ort geheiligt; und als er die leblosen Augen des Toten schloß und sich erhob, war er nur von dem einen Gedanken beseelt, den sein einfacher, alter Freund in die Worte gekleidet hatte: »Was ist das für eine große Sache, ein Christ zu sein!«

Er wandte sich ab. Legree stand verdrossen hinter ihm.

Etwas an der Sterbeszene hatte die natürliche Hitze der jugendlichen Leidenschaft gedämpft. Die Gegenwart dieses Mannes war Georg in der Seele verhaßt, und er fühlte nur den einen Wunsch, mit so wenig Worten wie nur möglich von ihm fortzukommen.

Er blickte Legree aus seinen feurigen, dunklen Augen an und sagte nur, auf den Toten deutend: »Jetzt haben Sie alles bei ihm erreicht. Was soll ich Ihnen für den Leichnam zahlen? Ich will ihn mitnehmen und anständig begraben lassen.«

»Tote Niggers verkaufe ich nicht«, antwortete Legree mürrisch. »Meinetwegen können Sie ihn begraben, wo und wann Sie wollen.«

»Burschen«, sagte Georg jetzt mit befehlender Stimme zu zwei, drei Negern, die den Toten betrachteten, »helft mir, ihn aufzuheben und in meinen Wagen zu tragen; und besorgt mir einen Spaten.«

Einer von ihnen rannte nach dem Spaten; die beiden andern halfen Georg, den Leichnam im Wagen unterzubringen.

Georg breitete seinen Mantel im Wagen aus und ließ den Toten behutsam darauf niederlegen, den Sitz nahm er fort, um genügend Raum zu schaffen. Dann kehrte er sich um, blickte Legree an und sagte mit erzwungener Ruhe:

»Ich habe Ihnen bisher noch nicht gesagt, was ich von dieser schändlichen Geschichte halte; dies ist nicht die Zeit und der Ort dazu. Aber, mein Herr, dieses unschuldige Blut soll gesühnt werden. Ich werde diesen Mord anzeigen. Bei der ersten Magistratsperson werde ich Anklage gegen Sie erheben.«

»Bitte«, erwiderte Legree und schnippte höhnisch mit den Fingern. »Das möchte ich sehen. Wo wollen Sie die Zeugen hernehmen? — Wie wollen Sie es beweisen? Da sehen Sie!«

Georg konnte sich der Überzeugungskraft dieser Verteidigung nicht verschließen. Auf der ganzen Plantage gab es keinen weißen Zeugen, und vor allen südlichen Gerichten ist das Zeugnis der Farbigen gleich Null. In diesem Moment hätte er den Himmel mit dem empörten Schrei seines Herzens nach Gerechtigkeit stürmen können; aber vergebens.

»Wozu auch soviel Aufhebens um einen toten Nigger!« sagte Legree.

Diese wegwerfende Bemerkung fiel wie ein Funken in ein Pulverfaß. Klugheit gehört nicht zu den Haupttugenden der Jungen Kentuckys. Georg fuhr herum und schlug mit einem hitzigen Schlag zu, so daß Legree auf das Gesicht stürzte, und als Georg noch sprühend vor Zorn und Entrüstung über ihm stand, da gab er keine schlechte Personifizierung seines großen Namensvetters ab, der über den Drachen triumphiert hatte.

Manchen Menschen jedoch tut es entschieden gut, wenn sie einmal umgelegt werden. Wenn ein Mann sie glatt in den Staub wirft, scheinen sie sofort Respekt zu bekommen; zu dieser Sorte gehörte Legree. Als er daher aufstand und sich den Staub aus den Kleidern klopfte, sah er dem langsam verschwindenden Wagen mit einiger Betroffenheit nach und öffnete nicht eher den Mund, als bis er außer Sicht war.

Jenseits der Plantagengrenze hatte Georg eine sandige, trockene Stelle bemerkt, die im Schatten einiger Bäume lag; dort schaufelten sie das Grab.

»Sollen wir den Mantel abnehmen, gnädiger Herr?« fragten die Neger, als das Grab fertig war.

»Nein, nein; begrabt ihn darin. Es ist alles, was ich dir mitgeben kann, armer Tom, und das sollst du haben.«

Sie legten ihn hinein; und die Leute schichteten schweigend den Hügel auf. Sie klopften ihn fest und legten grünen Rasen darüber.

»Jetzt könnt ihr gehen, Burschen«, sagte Georg und drückte jedem ein Geldstück in die Hand. Sie aber zögerten noch.

»Wenn der junge Herr uns vielleicht kaufen würde«, sagte der eine.

»Wir würden ihm getreulich dienen!« setzte der andere hinzu.

»Hier sind harte Zeiten, Herr!« sagte der erste. »Ach, gnädiger Herr, bitte kauft uns doch!«

»Ich kann nicht! — Ich kann nicht!« erwiderte Georg gepreßt und winkte ihnen ab, »es ist unmöglich!« Niedergeschlagen blickten die armen Burschen zu Boden und gingen schweigend zurück.

»Du bist mein Zeuge, ewiger Gott«, betete Georg und kniete am Grabe seines armen Freundes nieder, »oh, sei mein Zeuge, daß ich von dieser Stunde an alles tun will, was ein Mann vermag, um mein Land vom Fluch der Sklaverei zu befreien!«

Загрузка...