»Und jetzt, Marie«, sagte St. Clare, »werden goldene Tage für dich anbrechen. Jetzt ist unsere praktische, geschäftstüchtige Kusine aus New England da und wird dir alle Sorgen abnehmen. Da kannst du dich erholen und jung und schön bleiben.«
Es war wenige Tage nach Miß Ophelias Ankunft, als St. Clare am Frühstückstisch diese Ankündigung machte.
»Das soll mir nur recht sein«, erwiderte Marie und stützte leidend den Kopf auf die Hand. »Vermutlich wird sie als erstes feststellen, daß hierzulande die Hausfrauen wahre Sklaven sind.«
»Oh, gewiß wird sie das feststellen und zweifellos noch manche andere treffende Wahrheit obendrein«, antwortete St. Clare.
»Da reden sie, daß wir Sklaven halten, als täten wir das zu unserer eigenen Bequemlichkeit«, sagte Marie. »Wenn es danach ginge, könnten wir sie alle sofort freilassen.«
Evangeline heftete ihre großen, ernsten Augen mit einem forschenden und erstaunten Ausdruck auf das Gesicht der Mutter und fragte kindlich: »Warum hältst du sie denn, Mama?«
»Das weiß ich auch nicht, wahrscheinlich zur eigenen Plage; sie sind die Plage meines Lebens. Wahrscheinlich geht mein ganzes Leiden nur auf sie zurück. Und unsere Leute sind die schlimmsten, mit denen man gestraft sein kann.«
»Oh, nicht doch, Marie, du bist verstimmt heute morgen«, sagte St. Clare. »Du weißt, das trifft nicht zu. Nimm zum Beispiel Mam–my, die beste Seele der Welt — was wolltest du ohne sie anfangen?«
»Mammy ist bestimmt die beste, und doch auch Mammy ist selbstsüchtig — entsetzlich selbstsüchtig; das ist ein Fehler der ganzen Rasse.«
»Selbstsucht ist ein schrecklicher Fehler«, sagte St. Clare ernsthaft.
»Bleiben wir bei Mammy«, sagte Marie, »es ist doch selbstsüchtig von ihr, so fest des Nachts zu schlafen; sie weiß doch, daß ich ihrer Dienste beinahe stündlich bedarf, wenn es mir sehr schlimm geht. Sie ist aber kaum wachzukriegen. Heute morgen geht es mir deshalb so schlecht, weil ich solche Mühe hatte, sie in der Nacht wachzurütteln.«
»Hat sie nicht kürzlich mehrere Nächte bei dir gewacht, Mama?« frage Eva.
»Woher willst du das wissen?« fragte Marie scharf. »Wahrscheinlich hat sie sich beklagt.«
»Sie hat sich nicht beklagt; sie hat mir nur erzählt, was du für unruhige Nächte hattest.«
»Warum läßt du nicht Jane oder Rosa einmal an ihre Stelle treten«, sagte St. Clare, »damit sie sich ausruhen kann?«
»Wie kannst du mir das zumuten? St. Clare, du bist wirklich zu rücksichtslos. Ich bin so nervös, der kleinste Atemzug stört mich; und eine fremde Hand in meiner Nähe würde mich unbedingt rasend machen. Wenn Mammy das richtige Interesse an mir hätte, würde sie leichter aufwachen — ganz bestimmt. Ich habe mir von anderen Leuten sagen lassen, welches Glück sie mit ihren Dienstboten haben; das war mir nie beschert«, und Marie seufzte.
Miß Ophelia hatte sich diese Unterhaltung mit einem Ausdruck angespannter und kluger Aufmerksamkeit angehört; ihre Lippen waren fest zusammengepreßt, als sei sie entschlossen, ihre Stellung erst genau kennenzulernen, ehe sie sich einmischte.
»Gewiß hat Mammy auch ihre guten Seiten«, fuhr Marie fort. »Sie ist leise und respektvoll, aber in ihrem Herzen ist sie selbstsüchtig. So wird sie doch nie aufhören, sich über ihren Mann zu sorgen und zu grämen. Verstehen Sie, als ich heiratete und hierherzog, mußte sie mich natürlich begleiten, und ihren Mann konnte mein Vater nicht entbehren. Er war ein Schmied und wurde natürlich gebraucht, und ich sagte damals gleich, es sei das beste, er und Mammy würden sich für immer trennen, denn es würde sich kaum wieder fügen, daß sie noch einmal zusammenkämen. Jetzt wünschte ich, ich hätte damals darauf bestanden und Mammy an jemand anders verheiratet, aber damals war ich noch töricht und nachgiebig und wollte sie nicht drängen. Ich habe ihr freilich gleich gesagt, sie könnte nicht erwarten, ihren Mann noch öfter als ein-, zweimal im Leben wiederzusehen, denn die Luft in meiner Heimat bekommt mir nicht, und ich kann dort nicht wieder hin, daher riet ich ihr sehr, sich nach jemand anderm umzusehen, aber sie wollte nicht. In gewissen Dingen ist Mammy eben halsstarrig, das weiß keiner so wie ich.«
»Hat sie Kinder?« fragte Miß Ophelia.
»Ja, zwei.«
»Wahrscheinlich leidet sie unter der Trennung?«
»Ich konnte sie natürlich nicht mitbringen. Kleine, schmutzige Bälge — die könnte ich nicht um mich haben. Außerdem belegten sie ihre Mutter zu sehr mit Beschlag. Aber ich habe den Eindruck, Mammy hegt seitdem einen geheimen Groll. Sie will niemand anders heiraten, und ich bin überzeugt, obgleich sie weiß, wie unentbehrlich sie mir bei meiner schwachen Gesundheit ist, wenn sie nur könnte, ginge sie heute noch zu ihrem Mann zurück. Ja, so selbstsüchtig sind sie, selbst die Besten von ihnen.«
»Schrecklich, wenn man es überlegt«, sagte St. Clare trocken. Miß Ophelia blickte ihn gespannt an und sah, wie ihm die Röte des Ärgers und Verdrusses in die Wangen stieg, seine Lippen kräuselten sich sarkastisch.
»Dabei habe ich Mammy immer verwöhnt«, fuhr Marie fort. »Ich wollte nur, eure Dienstboten könnten einmal einen Blick in ihren Kleiderschrank werfen — Kleider aus Seide und Musselin, ja einen echten Batistunterrock hat sie darin hängen. Ich habe schon ganze Nachmittage damit zugebracht, ihre Hauben aufzuputzen und sie für ein Fest zu schmücken. Was Schelte ist, weiß sie gar nicht, und nur ein–oder zweimal in ihrem Leben hat sie die Peitsche gekriegt. Jeden Tag bekommt sie ihren Tee oder Kaffee mit weißem Zucker darin. Eigentlich ist es himmelschreiend. Aber St. Clare will nun einmal, daß seine Leute in Saus und Braus leben, sie tun hier alles, was sie wollen. Unsere Dienstboten sind alle verzogen, soviel steht fest. Wahrscheinlich liegt es an uns, daß sie so selbstsüchtig sind und sich wie verwöhnte Kinder aufführen; aber ich habe es St. Clare schon so oft gesagt, jetzt gebe ich es auf.«
»Ich auch«, sagte St. Clare und griff nach der Morgenzeitung.
Eva hatte ihrer Mutter mit dem ihr eigentümlichen Ausdruck tiefen und geheimnisvollen Ernstes zugehört. Jetzt stellte sie sich leise hinter den Stuhl ihrer Mutter und umschlang sie mit beiden Ärmchen.
»Nun, Eva, was willst du?« fragte Marie.
»Mama, könnte ich nicht einmal bei dir wachen — nur eine Nacht? Ich weiß, ich rege dich nicht auf, und ich werde auch nicht einschlafen, ich liege oft wach in der Nacht und denke nach.«
»Ach, Unsinn, Kind! Unsinn. Du bist doch ein seltsames Mädchen!«
»Aber darf ich nicht, Mama? Ich glaube«, sagte das Kind zaghaft, »Mammy geht es nicht gut. Sie hat mir gesagt, seit kurzem tut ihr der Kopf so weh.«
»Ach, das bildet sich Mammy nur ein! Mammy ist kein bißchen besser als die anderen — von ein bißchen Kopf–oder Fingerweh so viel Aufhebens zu machen! Das soll man nie unterstützen — nie! Darin habe ich meine Grundsätze«, wandte Marie sich an Miß Ophelia, »Sie werden es mir bestätigen. Wenn man die Dienstboten in ihren Wehwehchen bestärkt, dann bekommt man alle Hände voll zu tun. Ich selber beklage mich nie — niemand weiß, was ich leide. Ich halte es für meine Pflicht, in der Stille meine Schmerzen zu tragen, und danach handle ich.«
Miß Ophelias runde Augen drückten bei diesem Erguß eine solche unverhohlene Verblüffung aus, daß St. Clare in lautes Lachen ausbrach.
»St. Clare lacht immer, wenn ich nur eine kleine Anspielung auf meine schwache Gesundheit mache«, klagte Marie mit der Stimme eines leidenden Märtyrers. »Ich hoffe nur, daß er dies nicht eines Tages bereuen muß!« Und Marie preßte ihr Taschentuch an die Augen.
Natürlich trat jetzt ein betretenes Schweigen ein. Schließlich stand St. Clare auf, sah nach der Uhr und sagte, er hätte eine Verabredung. Eva trippelte hinter ihm her, und Miß Ophelia blieb mit Marie allein am Tisch zurück.
»Das sieht St. Clare wieder ähnlich«, sagte Marie und nahm entschlossen das Tuch von den Augen, als der Übeltäter, für den es berechnet war, sich entfernt hatte. »Er kann und will es nun einmal nicht einsehen und hat es niemals eingesehen, daß ich leide, seit Jahren leide. Wenn ich zu den klagenden Frauen gehörte oder viel Aufhebens von meinen Schmerzen machte, ließe es sich noch verstehen. Männer werden es natürlich müde, wenn die Frau ihnen die Ohren vollklagt. Aber ich habe stets alles für mich behalten und im stillen mein Kreuz getragen, so daß St. Clare sich einbildet, ich könnte alles ertragen.«
Miß Ophelia war unsicher, welche Antwort man von ihr erwartete.
Während sie noch überlegte, was sie sagen sollte, trocknete Marie langsam ihre Tränen und glättete — allgemein gesprochen — ihr Gefieder, nicht anders wie eine Taube, die nach einem Regenschauer Toilette macht, und hub nun mit Miß Ophelia ein hausfrauliches Gespräch über Schränke und Schubladen, über Wäscheschränke und Vorratskammern und andere Dinge an, über welche die letztere nun die Herrschaft antreten sollte, wobei sie ihr so viel Maßnahmen einschärfte und Winke und Ratschläge gab, daß eine weniger tüchtige und praktische Person einfach den Kopf verloren hätte.
»Damit also«, sagte Marie, »hätte ich Ihnen wohl alles gesagt. Wenn meine nächsten Anfälle mich heimsuchen, werden Sie dann imstande sein, auch ohne meinen Ratschlag auszukommen; - nur noch ein Wort über Eva, bei ihr muß man aufpassen.«
»Sie scheint ein sehr liebes Kind zu sein«, sagte Miß Ophelia. »Ich habe nie ein so fügsames Kind gesehen.«
»Eva ist merkwürdig«, sagte ihre Mutter, »sehr merkwürdig. In manchen Dingen ist sie einfach seltsam. Sie ist mir ja nicht die Spur ähnlich«, und Marie seufzte, als sei dies eine tragische Feststellung.
Miß Ophelia dachte im stillen: »Welch ein Glück!« Aber sie war klug genug, das nicht zu äußern.
»Eva hat immer einen Hang zu den Dienstboten gehabt; manchen Kindern macht das nichts. Ich habe immer mit Vaters kleinen Negern gespielt, und es hat mir nie geschadet. Aber Eva steht mit jedem Geschöpf, das in ihre Nähe kommt, irgendwie auf gleichem Fuße. Es ist merkwürdig mit dem Kind. Ich habe ihr das nie austreiben können. Ich glaube, St. Clare bestätigt sie darin. Tatsächlich übt St. Clare mit jedem Wesen unter seinem Dach die größte Nachsicht, nur seine Frau ist ausgenommen.«
Wieder saß Miß Ophelia in starrem Schweigen.
»Bei Dienstboten empfiehlt sich nur eins«, fuhr Marie fort, »man muß sie nach unten drücken und unten halten. Das ist mir seit meiner Kindheit geläufig. Eva ist imstande und verdirbt mir das ganze Haus. Ich weiß nicht, was werden soll, wenn sie einmal selber einen Haushalt leitet. Ich bin auch für Freundlichkeit Dienstboten gegenüber — dafür war ich immer, aber sie müssen wissen, wo sie hingehören. Das kann ich Eva nicht beibringen. Sie begreift es einfach nicht. Sie haben ja gehört, wie sie sich erbot, nachts bei mir zu wachen, damit Mammy schlafen sollte! Das ist nur ein Beispiel, wie das Kind handeln würde, wenn man nicht aufpaßte.«
»Nun«, sagte Miß Ophelia geradeheraus, »auch Sie halten wahrscheinlich Dienstboten für lebendige Menschen, die der Ruhe bedürfen, wenn sie müde sind?«
»Aber natürlich. Ich habe immer darauf gesehen, daß sie alles bekommen, was keine Umstände macht — alles, was uns nicht in der Ordnung stört, verstehen Sie. Mammy kann ihren Schlaf bei Gelegenheit gut nachholen, das hält nicht schwer. Sie hat ja die reine Schlafsucht. Im Stehen, im Sitzen, beim Nähen, andauernd schläft die Person. Keine Angst, Mammy bekommt genug Schlaf. Aber Dienstboten zu behandeln, als seien sie kostbare Blumen oder Porzellanvasen, das ist einfach lächerlich«, sprach Marie, während sie sich nachlässig in die tiefen Kissen ihres üppigen und umfangreichen Diwans gleiten ließ und ein elegant geschnittenes Riechfläschchen heranzog.
»Verstehen Sie mich recht«, hauchte sie mit einer Stimme, die so zart war wie der vergehende Hauch des arabischen Jasmin. »Sie verstehen, Kusine Ophelia, daß ich häufig von mir selber spreche. Es ist nicht meine Gewohnheit, es liegt mir nicht. Tatsächlich fehlt mir die Kraft dazu. Aber es gibt Dinge, wo ich mit St. Clare nicht übereinstimme. St. Clare hat mich nie verstanden, nie meinen wahren Wert erkannt. Ich glaube, daran kranke ich im Grunde. St. Clare meint es gut, das muß ich ihm zu Ehren annehmen; aber Männer sind nun einmal eigennützig und rücksichtslos den Frauen gegenüber. Wenigstens ist das mein Eindruck.«
Miß Ophelia war auf der Hut, das war ein gutes neu–englisches Erbteil, und sie verabscheute es, in Familienstreitigkeiten eingeweiht zu werden. Ihr schwante nichts Gutes. Daher legte sie ihr Gesicht in grimmige Falten der Neutralität und zog einen ellenlangen Strumpf aus der Tasche, den sie als Abwehrmittel immer bei sich führte, denn Dr. Watts hatte sie gelehrt, daß Satan stets nach müßigen Händen auf der Lauer liegt; so begann sie energisch zu stricken; ihre Lippen waren fest geschlossen, als ob sie deutlich zu erkennen geben wollte: »Mich bringst du nicht zum Reden. Ich will mit deinen Geschichten nichts zu tun haben.« Tatsächlich, sie sah so teilnehmend aus wie ein steinerner Löwe. Aber darum kümmerte sich Marie nicht. Endlich hatte sie jemand, mit dem sie reden konnte, da hielt sie es für ihre Pflicht zu reden. Kaum hatte sie sich an ihrem Riechfläschchen erquickt, hub sie aufs neue an.
»Sehen Sie, ich brachte mein Vermögen und meine Dienerschaft mit in die Ehe, als ich St. Clare heiratete, und bin gesetzlich befugt, ganz nach Gutdünken damit zu verfahren. St. Clare hat natürlich auch sein Vermögen und seine Dienerschaft, und mir ist es völlig recht, wie er damit umgeht, er aber erlaubt sich Übergriffe. Er hat wilde, ausschweifende Vorstellungen besonders über die Behandlung der Dienstboten. Er handelt wahrhaftig so, als ob ihm seine Leute wichtiger seien als ich oder auch seine eigene Person, er läßt sie in jeder Weise gewähren und rührt nie einen Finger. In einer Sache ist St. Clare nun wirklich schrecklich — da erschreckt er mich -, wenn er auch gemeinhin so gutartig aussieht. Also er hat ein für allemal bestimmt, daß in diesem Hause keine Schläge ausgeteilt werden, es sei denn, von uns beiden, und darin ist er so unerbittlich, daß ich ihm nicht zu widersprechen wage. Sie können ermessen, wohin das führt, denn St. Clare würde keine Hand rühren, und wenn sie alle einzeln ihn mit Füßen träten und ich — Sie sehen selbst, wie grausam es wäre, mich dazu zu veranlassen. Die Leute aber sind hier nun nichts weiter als erwachsene Kinder.«
»Davon verstehe ich nichts, und ich danke Gott dafür«, entgeg–nete Miß Ophelia kurz.
»Aber Sie werden es lernen müssen, und auf eigene Kosten, wenn Sie hier bleiben. Sie haben ja keine Ahnung, was für ein aufreizendes, dummes, nachlässiges, unvernünftiges, kindisches und undankbares Volk das ist.«
Marie war immer wunderbar in Form, wenn sie auf dieses Thema kam. Jetzt öffnete sie die Augen und schien ihr Leiden ganz vergessen zu haben.
»Sie können es sich nicht vorstellen, welchen Ärger man im Haushalt hat, wie sie einen auf Schritt und Tritt schikanieren. Aber es hat keinen Zweck, sich bei St. Clare zu beschweren. Er redet da ganz verworrenes Zeug. Er sagt, wir haben sie erst dazu gebracht und müssen es nun tragen. Er sagt, sie verdanken uns ihre Fehler, und daß es grausam wäre, sie dann für diese Fehler zu bestrafen. Er sagt, wir würden es an ihrer Stelle genauso machen, als ob man von diesen Leuten auf uns schließen könnte, finden Sie nicht auch?«
»Glauben Sie nicht, daß Gott sie genauso aus Fleisch und Blut geschaffen hat?« fragte Miß Ophelia nur.
»Aber nein, kein Gedanke! Das wäre ja eine schöne Geschichte! Sie sind die niedere Rasse.«
»Glauben Sie nicht, daß auch diese Menschen eine unsterbliche Seele haben?« fragte Miß Ophelia in wachsender Empörung.
»Nun ja«, sagte Marie und gähnte, »das natürlich — das bezweifelt ja niemand. Aber sie mit mir auch nur in gleichem Atem zu nennen, das ist ganz unmöglich. Aber St. Clare hat tatsächlich geredet, als sei die Trennung von Mammy und ihrem Mann die gleiche wie zwischen uns beiden. Dabei kann man das nicht vergleichen. Mam–my kann nicht dieselben Gefühle haben wie ich. Das ist ein großer Unterschied — natürlich, ganz offenkundig -, aber das will St. Clare nicht einsehen, und er meint auch, daß Mammy ihre dreckigen kleinen Bälger ebenso liebhaben könnte wie ich meine Eva! Trotzdem hat St. Clare mir ganz nüchtern vorgestellt — wo ich so kränklich bin und so leiden muß -, ich müßte Mammy zurückschicken und statt dessen jemand anders nehmen. Das war selbst mir zuviel. Ich zeige ja meine Gefühle nicht häufig. Es ist nun einmal mein Grundsatz, in der Stille zu leiden; das gehört zu dem harten Los eines Weibes, und ich trage es. Aber diesmal gab es einen Sturm, so daß er das Thema nie wieder berührt hat. Aber an seinen Blicken und kleinen Bemerkungen ersehe ich, daß seine Einstellung noch dieselbe ist, und das geht mir so entsetzlich auf die Nerven.«
Miß Ophelia sah ganz so aus, als fürchte sie, eine Antwort geben zu müssen; sie klapperte in einer Weise mit ihren Stricknadeln, die Bände sprach, wenn Marie es nur verstanden hätte.
»Da sehen Sie also«, fuhr sie fort, »was Ihrer wartet. Ein Haushalt ohne alle Regeln, in dem die Dienstboten tun, was ihnen beliebt, und sich aneignen, was ihnen in die Augen sticht, soweit ich es nicht bei meiner schwachen Gesundheit verhindern kann. Ich habe meinen Lederriemen stets bei mir und benutze ihn auch zuweilen. Wenn St. Clare es nur machen wollte, wie die anderen.«
»Und das wäre?«
»Nun, man schickt sie ins Gefängnis oder an einen anderen Ort und läßt sie da auspeitschen, das ist die einzige Möglichkeit. Wäre ich nicht ein so armes und schwaches Geschöpf, so würde ich mit doppelt soviel Energie wie St. Clare dafür sorgen.«
»Und wie wird St. Clare mit ihnen fertig?« fragte Miß Ophelia. »Sie sagen, er schlägt sie nie?«
»Ach, wissen Sie, Männer haben doch mehr Autorität; sie haben es leichter. Außerdem wenn man ihm ins Auge blickt — das ist seltsam, diese Augen — und wenn er die Stimme hebt, dann kann er richtig blitzen. Dann bekomme ich selber Angst; und die Leute wissen, daß sie dann gehorchen müssen. Ich erreiche mit Schelten und Krachschlagen nicht halb soviel wie St. Clare mit einem einzigen Blick seiner Augen, wenn er einmal Ernst macht. Bei St. Clare gibt es keine Schwierigkeit. Daran liegt es auch, daß er kein Mitleid mit mir hat, aber Sie werden es erfahren, ohne Strenge kann man nicht durchgreifen — sie sind zu verdorben, zu aufgeblasen und zu faul.«
»Das alte Lied«, sagte St. Clare und schlenderte herein. »Was für ein Schuldkonto legt dieses böse Volk sich an, wenn man nur ihre Faulheit bedenkt! Sie sehen, Kusine«, sagte er, während er sich der Länge nach auf ein Ruhelager Marie gegenüber ausstreckte, »bei den Leuten ist es unverzeihlich, zumal bei dem Beispiel, das Marie und ich ihnen geben — diese Faulheit.«
»Aber, St. Clare, das geht zu weit!« sagte Marie.
»Wieso? Ich dachte, ich hätte mich diesmal ausnehmend richtig ausgedrückt? Ich wollte deine Ansicht nur unterstreichen, Marie.«
»Du weißt genau, daß du das nicht wolltest, St. Clare.«
»Oh, dann hast du mich mißverstanden. Ich danke dir, mein Schatz, daß du mich zurechtgewiesen hast.«
»Du willst mich nur in Harnisch bringen«, sagte Marie.
»Ach, laß sein, Marie, es wird schon heiß, und ich hatte einen ziemlichen Streit mit Dolf, der hat mich ganz erschöpft; also sei gnädig, und laß deinen Gemahl ruhen im Licht deines Lächelns.«
»Was ist denn los mit Dolf?« fragte Marie. »Die Unverschämtheit dieses Burschen hat einen Grad erreicht, der mir allmählich unerträglich wird. Ich wollte, ich bekäme ihn unter meine Fuchtel; ich würde ihn schon kleinkriegen.«
»Was du sagst, mein Herz, kennzeichnet deinen bekannten Scharfsinn und Verstand«, sagte St. Clare. »Was nun Dolf angeht, so hat er sich so lange bemüht, meine Vorzüge und Tugenden nachzuahmen, bis er sich schließlich mit seinem Herrn verwechselt hat; da fühlte ich mich genötigt, ihn ein wenig über seinen Irrtum aufzuklären.«
»Inwiefern?« fragte Marie.
»Nun ja, ich mußte ihm nachdrücklich klarmachen, daß ich Wert darauf lege, einige Kleider zu meinem eigenen Gebrauch zu behalten, weiter beschränkte ich seine Gnaden auf eine bestimmte Menge Kölnisch Wasser und war schließlich so grausam, ihm nur ein Dutzend meiner Batisttaschentücher abzutreten. Dolf war sehr erbost darüber, und ich mußte ihm väterlich zureden, bis er es einsah.«
»Oh! St. Clare! Wann wirst du es lernen, deine Dienstboten richtig zu behandeln? Es schreit zum Himmel, wie du ihnen nachgibst!« sagte Marie.
»Na, was ist groß dabei, wenn der arme Kerl durchaus seinen Herrn nachahmt? Wenn ich ihn nicht besser erzogen habe, als daß er sein Heil in Kölnisch Wasser und Batisttaschentüchern zu finden glaubt, warum sollte ich ihm diese Dinge dann nicht geben?«
»Und warum hast du ihn nicht besser erzogen?« fragte Miß Ophelia unumwunden.
»Das wäre zu anstrengend gewesen — aus Faulheit, Kusine, aus Faulheit, damit verdirbt man mehr Seelen, als man schimpfen kann. Wenn die Faulheit nicht wäre, dann wäre ich selber der reine Engel. Ich neige nämlich allmählich der Ansicht zu, daß Faulheit das ist, was euer alter Dr. Botherem, oben in Vermont, mit der Wurzel allen Übels zu bezeichnen pflegte, gewiß ein entsetzlicher Gedanke.«
»Ich finde, ihr Sklavenhalter habt eine furchtbare Verantwortung übernommen. Ich möchte sie nicht haben, um keinen Preis der Welt. Ihr solltet eure Sklaven erziehen und wie vernünftige Menschen behandeln — wie Menschen mit einer unsterblichen Seele, mit denen zusammen wir vor die Schranken Gottes treten. Das ist meine Ansicht«, sagte Miß Ophelia und hatte damit ihrem Herzen Luft gemacht.
»Ach, ich bitte dich«, rief St. Clare, »was verstehst du von unseren Verhältnissen?« Und er setzte sich ans Klavier und spielte ein lebhaftes Stück. St. Clare hatte eine ausgesprochene musikalische Begabung. Er hatte einen glänzenden, festen Anschlag, und seine Finger glitten geschwind und vogelleicht über die Tasten, zart und doch bestimmt. Er spielte Stück um Stück, wie ein Mann, der sich bemüht, im Spiel seine Heiterkeit wiederzugewinnen. Dann schob er die Noten zur Seite, stand auf und sagte fröhlich: »Kusine, du hast uns ja tüchtig die Meinung gesagt, und deine Pflicht getan; du bist dadurch nur in meiner Achtung gestiegen. Ich will dir nicht verhehlen, daß du mir eine diamantene Wahrheit an den Kopf geworfen hast. Sie hat mich getroffen, deshalb habe ich ihren Wert nicht gleich erkannt.«
»Für meine Person kann ich den Nutzen eines solchen Gesprächs nicht recht einsehen«, sagte Marie. »Ich möchte nur wissen, wer mehr tut für seine Leute als wir. Dabei hat es gar keinen Zweck–nicht die Spur -, sie treiben es nur immer schlimmer. Was das Zureden anlangt, so habe ich ihnen gut zugeredet, bis ich heiser war, über ihre Pflichten und so weiter. Sie können bei mir zur Kirche gehen, wenn sie Lust haben. Zwar verstehen sie nicht ein Wort von der Predigt, so wenig, wie ein Schwein davon versteht — daher kann ich eigentlich den Sinn nicht einsehen. Aber sie gehen trotzdem und haben also jede Gelegenheit — aber wie ich schon sagte, sie sind eine niedere Rasse, und das werden sie bleiben; ihnen ist nicht zu helfen, soviel man auch versucht, da kann man gar nichts machen. Sehen Sie, Kusine Ophelia, ich habe es versucht und Sie noch nicht; ich bin unter ihnen geboren und erzogen worden, ich muß es wissen.«
Miß Ophelia fand, sie habe bereits genug gesagt und schwieg. St. Clare pfiff eine Melodie.
»St. Clare, ich wollte, du ließest das Pfeifen sein«, sagte Marie, »es steigert meine Kopfschmerzen.«
»Dann will ich es unterlassen«, antwortete St. Clare. »Kann ich sonst noch etwas unterlassen?«
»Ich wünschte, du hättest etwas Mitgefühl mit meinen Leiden; jedes Gefühl für mich geht dir ab.«
»Mein lieber Klageengel!«
»Du reizest mich mit diesen Reden.«
»Wie soll ich denn reden? Ich werde mich ganz deinem Willen beugen. Sag es nur, damit ich dich in jeder Hinsicht zufriedenstellen kann.«
Da drang vom Hof her ein heiteres Lachen durch die seidenen Vorhänge der Veranda. St. Clare trat hinaus, hob den Vorhang und stimmte in das Lachen ein.
»Was gibt's denn?« fragte Miß Ophelia und trat an die Brüstung.
Auf einer kleinen Moosbank im Hof saß Tom, in jedem Knopfloch ein Jasminsträußchen, und Eva hing ihm mit fröhlichem Lachen einen Rosenkranz um den Hals, und dann setzte sie sich wie ein kleiner Vogel auf seine Knie und lachte immer noch.
»Ach, Tom, wie lustig du aussiehst!«
Tom lächelte gutmütig und schien auf seine ruhige Art ebensoviel Spaß an der Sache zu haben wie seine kleine Herrin. Als er seinen Herrn erblickte, sah er mit halber Entschuldigung zu ihm hinauf.
»Wie kannst du das nur zulassen?« sagte Miß Ophelia.
»Warum denn nicht.«
»Ich weiß auch nicht, es stößt mich irgendwie ab.«
»Du fändest nichts dabei, wenn das Kind einen großen Hund liebkoste, selbst wenn er schwarz wäre. Aber weil er ein Mensch ist mit Verstand und Gefühl und einer unsterblichen Seele, da schaudert dir. Gesteh es nur, Kusine. Ich weiß genau, was ihr im Norden denkt, es ist keine Tugend, daß wir das Gefühl nicht haben, bei uns hat die Gewohnheit das bewirkt, was Sache des Christentums wäre, nämlich jedes persönliche Vorurteil wegzuwischen. Auf meinen Reisen in den Norden habe ich oft bemerkt, wieviel stärker dieses Vorurteil bei euch besteht. Ihr haßt die Schwarzen wie Schlangen oder Kröten. Aber ihr entrüstet euch, wenn ihnen ein Unrecht geschieht. Ihr wollt nicht, daß man sie mißhandelt, aber ihr selber wollt nichts mit ihnen zu tun haben. Am liebsten schicktet ihr sie nach Afrika, damit ihr sie nicht mehr zu sehen und zu riechen braucht, und zwei Missionare hinterher, die dann ihre Bekehrung besorgten. Stimmt es nicht?«
»Ja, Vetter«, antwortete Miß Ophelia nachdenklich, »da mag wohl etwas Wahres daran sein.«
»Was sollen diese Armen und Niedrigen anfangen ohne die Kinder,« sprach St. Clare, als er sich über das Geländer beugte und zusah, wie Eva davon trippelte und Tom hinter sich herzog. »Die Kinder sind die wahren Demokraten. Tom zum Beispiel ist für Eva ein Held; seine Geschichten sind Wunder in ihren Augen, seine Lieder und Gesänge besser als jede Oper, und die Kleinigkeiten und Spielereien in seiner Tasche sind für sie eine Goldgrube. Er ist einfach der herrlichste Tom, der je in einer schwarzen Haut steckte. Damit hat Gott eine Rose für die Armen und Niedrigen aus seinem Garten Eden fallen lassen, die gewiß nur wenig andere erhalten.«
»Wie merkwürdig, Vetter«, sagte Miß Ophelia, »man könnte beinahe denken, du wärst ein Professor, wenn man dich so reden hört.«
»Ein Professor?« rief St. Clare.
»Ja, ein Religionsprofessor.«
»Ach, woher. Nicht ein Professor wie ihr Stadtleute ihn habt. Was aber schlimmer ist, ich fürchte, ich bin nicht einmal ein Praktiker.«
»Warum redest du dann so?«
»Nichts ist leichter als reden«, sagte St. Clare. »Ich glaube, Shakespeare läßt jemand sagen: >Ich könnte eher zwanzig Leuten zeigen, was sie Gutes tun sollen, als einer von den zwanzig sein und das Gute tun.< Es geht nichts über Arbeitsteilung. Meine Stärke liegt im Reden, und deine, Kusine, liegt im Tun.«
Über seine äußere Lage hatte Tom zu dieser Zeit — wie man zu sagen pflegt — nicht zu klagen. Die kleine Eva hatte ihn ins Herz geschlossen — in der instinktiven Dankbarkeit und Lieblichkeit ihres kleinen Herzens — und ihren Vater gebeten, Tom doch zu ihrem ständigen Begleiter zu bestimmen, wenn sie immer auf Spaziergängen und Ausritten eines Dieners bedurfte; also hatte Tom die genaue Anweisung, alles liegenzulassen und Fräulein Eva zu folgen, sobald sie ihn brauchte — eine Anweisung, die ihm, wie unser Leser sich vorstellen kann, durchaus nicht unangenehm war. Man hielt ihm gute Kleider, denn in diesem Punkt war St. Clare sehr eigen. Sein Stalldienst war ein sehr leichtes Amt und bestand lediglich in einer täglichen Aufsicht und Unterweisung eines Stallburschen, denn Mrs. St. Clare hatte erklärt, daß sie einen Pferdegeruch an ihm nicht ertragen könnte, falls er in ihre Nähe käme. Sollte er ihr nicht lästig werden, dürfe er keine niedrigen Dienste verrichten, das hielt ihr zartes Nervensystem nicht aus. Nach ihrer Darstellung genügte eine Nase voll üblen Duftes, und alle ihre Leiden würden für immer ein jähes Ende nehmen. Daher sah Tom in seinem gutgebürsteten Rock von feinem Tuch, in dem runden Hut und glänzenden Stiefeln mit den tadellosen Manschetten und der Halskrause so ehrwürdig aus, wie ein Bischof in Karthago, was in anderen Jahrhunderten Männer seiner Farbe gewesen waren.
Außerdem befand er sich in einer schönen Umgebung, ein Vorzug, gegen den diese Rasse nie unempfindlich ist. Mit stiller Freude genoß er die Vögel, die Blumen, den Springbrunnen, die Wohlgerüche, das Licht und die Schönheit des Hofes, die seidenen Vorhänge und Bilder, die Leuchter und Standfiguren, die Vergoldung, wonach ihm die Wohnräume drinnen wie Aladins Palast vorkamen.
Eines Sonntags stand Marie St. Clare, prächtig gekleidet, auf der Veranda und befestigte ein kostbares Brillanten–Armband um ihr schlankes Handgelenk. Sie war jetzt im Begriff, im höchsten Staat — Brillanten, Seide und Spitzen — in eine bekannte Kirche zu gehen und sich dort der Frömmigkeit zu ergeben. Marie machte es sich stets zur Regel, am Sonntag recht fromm zu sein. Da stand sie, schlank und elegant und voller Anmut, ihr Spitzenschal umhüllte sie wie eine leichte Wolke. Sie sah bezaubernd aus und kam sich selbst höchst tugendhaft und elegant vor. Miß Ophelia stand neben ihr als vollkommener Gegensatz. Es lag nicht daran, daß ihr Seidenkleid und ihr Schal nicht ebenso kostbar und ihr Taschentuch nicht ebenso zierlich gewesen wäre, aber Steifheit und Gedrungenheit, die Gradheit einer Bohnenstange waren für sie so kennzeichnend wie Anmut für die andere, freilich nicht die himmlische Anmut, die ist ganz etwas anderes.
»Wo ist Eva?« frage Marie.
»Das Kind machte auf der Treppe halt, um Mammy noch etwas zu sagen.«
Und was sagt sie zu Mammy auf der Treppe? Spitze die Ohren, lieber Leser, du magst es hören, was Marie nicht erfährt.
»Liebe Mammy, ich weiß, dein Kopf tut furchtbar weh.«
»Der Herrgott segne dich, Fräulein Eva, mein Kopf tut jetzt immer weh. Mach dir keine Sorgen.«
»Es ist gut, daß du ausgehst; sieh her« - und das Kind umschlang sie mit beiden Ärmchen. — »Mammy, du sollst mein Riechfläschchen haben.«
»Was! Das goldene Stück da, mit den Diamanten! Um Himmels willen, Fräulein Eva, das geht auf keinen Fall.«
»Warum nicht? Du brauchst es und ich nicht. Mama benutzt es immer bei Kopfschmerzen, dir wird es gut tun. Nein, du sollst es haben, nur mir zuliebe, bitte.«
»Hör einer nur das Herzblatt!« sagte Mammy, als Eva ihr das Riechfläschchen in den Busen schob, sie küßte und der Mutter nacheilte.
»Wo bist du so lange geblieben?«
»Ich habe nur Mammy mein Riechfläschchen geschenkt für den Kirchgang.«
»Eva!« rief Marie und stampfte ungeduldig auf - »dein goldenes Riechfläschchen an Mammy! Weißt du nicht, daß sich das nicht schickt! Geh sofort, und hol es zurück!«
Eva sah niedergeschlagen und bekümmert aus, langsam kehrte sie sich um.
»Hör, Marie, laß das Kind in Ruh. Sie soll tun, was sie für richtig hält« sagte St. Clare.
»St. Clare, wie soll sie jemals weiterkommen in der Welt?«
»Das weiß der Herrgott; aber im Himmel wird sie weiterkommen als du oder ich.«
»Ach, Papa, nicht doch«, sagte Eva und zupfte ihn sanft am Ellbogen, »das bekümmert Mama.«
»Nun, Vetter, bist du zum Gottesdienst gerüstet?« fragte Miß Ophelia und wandte sich direkt an St. Clare.
»Nein, danke, ich gehe nicht mit.«
»Ich wollte, St. Clare würde auch einmal zur Kirche gehen«, sagte Marie. »Aber er hat nicht die leiseste religiöse Empfindung. Das gehört sich einfach nicht.«
»Das weiß ich«, sagte St. Clare, »ihr Damen geht vermutlich zur Kirche, um dort zu erfahren, wie man in der Welt vorankommt, und eure Frömmigkeit gibt unserem Haus den ehrbaren Anstrich. Wenn ich jemals in die Kirche ginge, würde ich mit Mammy gehen, da ist wenigstens Betrieb.«
»Was, zu den Methodisten? Wie entsetzlich!« sagte Marie.
»Alles lieber als die tödliche Langeweile in eurer wohlanständigen Kirche, Marie. Tatsächlich, das ist von einem Mann zuviel verlangt. Eva, gehst du gern dahin? Komm, bleib hier, dann spielen wir zusammen.« »Danke vielmals, Papa; aber ich gehe doch lieber in die Kirche.«
»Ist das nicht entsetzlich langweilig?« fragte St. Clare.
»Manches ist langweilig«, gab Eva zu, »und manchmal schlafe ich ein, versuche aber immer wieder wachzubleiben.«
»Warum gehst du dann hin?«
»Ach, weißt du, Papa«, sagte sie flüsternd, »die Tante hat gesagt, der liebe Gott wünscht es; und er schenkt uns doch alles, weißt du; und wenn er es gern möchte, dann ist es doch nicht viel verlangt. Dann ist es gar nicht so langweilig.«
»Du bist eine fügsame kleine Seele«, sagte St. Clare und küßte sie; »geh nur hin, sei ein liebes Kind, und bete für mich.«
»Gewiß, das tu ich immer«, antwortete das Kind und sprang seiner Mutter nach in den Wagen.
St. Clare stand auf den Stufen und warf ihr eine Kußhand nach, als der Wagen davonfuhr; große Tränen standen ihm in den Augen.
»O Evangeline, wie treffend ist dein Name! Hat Gott dich mir nicht als frohe Botschaft gesandt?«
Einen Augenblick bewegten ihn diese Gefühle, dann rauchte er eine Zigarre und las seine Zeitung. Seine kleine Evangeline hatte er vergessen. War er nicht wie andere Leute?
»Siehst du, Evangeline«, sagte die Mutter zu ihr, »es ist durchaus richtig, wenn man freundlich zu den Dienstboten ist, aber es gehört sich nicht, daß man sie genauso behandelt wie Verwandte oder wie Menschen unseresgleichen. Wenn Mammy zum Beispiel krank wäre, möchtest du sie doch auch nicht in dein Bett legen?«
»Aber ja, Mama«, sagte Eva »da könnte ich sie viel besser pflegen, und weißt du, mein Bett ist auch viel weicher als ihres.«
Marie geriet in Verzweiflung.
»Was kann ich nur tun, um mich dem Kinde begreiflich zu machen«, sagte sie.
»Gar nichts«, erwiderte Miß Ophelia bedeutsam.
Eva machte einen Augenblick ein betrübtes und betroffenes Ge–sichtchen; aber zum Glück wechseln bei Kindern die Eindrücke rasch; nach wenigen Minuten schon lachte sie wieder fröhlich über alles, was draußen an den ratternden Wagenfenstern vorüberglitt.