Als Tom seinem Verfolger von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, seine Drohungen hörte und in tiefster Seele dachte, seine letzte Stunde habe geschlagen, schwoll sein Herz in heißer Tapferkeit. Aber als der andere gegangen und die Erregung verebbt war, kehrte der Schmerz seiner zerschlagenen Glieder und das Bewußtsein seines unwürdigen, trostlosen Zustandes zurück, und der Tag schlich kummervoll dahin.
Lange, ehe seine Wunden verheilt waren, bestand Legree darauf, daß er wieder an der Feldarbeit teilnahm, und nun folgte täglich Pein und Plage, erschwert durch jede Art von Ungerechtigkeit und Niedertracht, die ein bösartiges, heimtückiges Gemüt nur ersinnen konnte. Wer immer von uns in unsern Verhältnissen Schmerzen auszustehen hat, selbst mit allen Erleichterungen, die uns gewöhnlich erreichbar sind, kennt die Gereiztheit, die damit Hand in Hand geht. Tom wunderte sich nicht mehr über die beständige Verdrossenheit seiner Leidensgenossen; nein, er sah, wie selbst seine gelassene Heiterkeit, die ihm zur Lebensgewohnheit geworden war, gefährlich in die Brüche ging und unter der täglichen Mühsal dahinschwand. Er hatte sich getröstet, in seinen Mußestunden die Bibel lesen zu können, aber hier konnte von Mußestunden keine Rede sein. Auf der Höhe der Ernte zögerte Legree nicht, seine Leute sonntags und werktags gleichermaßen zu schinden. Warum sollte er nicht? Dadurch erntete er mehr Baumwolle und gewann seinen Einsatz. Anfangs hatte Tom nach der Plage des Tages noch ein oder zwei Verse aus der Bibel beim flackernden Schein des Feuers gelesen, aber nach der grausamen Behandlung, die er empfangen, war er fortan am Abend so erschöpft, daß sein Kopf dröhnte und seine Augen versagten, wenn er zu lesen versuchte; er konnte sich nur noch mit den andern in völliger Erschöpfung auf dem Boden ausstrecken.
Eines Abends saß er vollkommen niedergeschlagen und mutlos vor einem niedergebrannten Feuer, an dem er sein grobes Abendbrot buk. Er legte etwas Reisig auf, schürte das Feuer zu hellerem Licht und zog seine abgegriffene Bibel aus der Tasche. Da waren alle die angestrichenen Stellen, die seine Seele so oft erhoben hatten. Worte der Patriarchen und Propheten, der Dichter und Weisen, die seit frühen Zeiten den Menschen Trost gespendet, Stimmen aus der großen Schar der Zeugen, die im Laufe unseres Lebens uns immer gegenwärtig sind. Hatte das Wort auf einmal seine Gewalt verloren, oder konnte das versagende Auge, seine stumpfen Sinne den Anruf dieser mächtigen Inspiration nicht mehr wahrnehmen? Ein rohes Lachen ließ ihn aufblicken — Legree stand ihm gegenüber.
»Na, alter Junge«, sagte er, »anscheinend funktioniert deine Religion nicht mehr recht, was? Ich dachte mir doch, diese Erkenntnis müßte auch einmal durch deine schwarze Wolle dringen.«
Der grausame Hohn war schlimmer als Hunger, Kälte und Blöße. Tom schwieg.
»Du warst ein Dummkopf«, fuhr Legree fort; »ich hatte es gut mit dir gemeint, als ich dich kaufte. Du hättest dich besser stellen können als Sambo oder auch Quimbo und hättest gute Zeiten gehabt; anstatt alle paar Tage Prügel einzustecken, hättest du sie wie ein Herr an andere Nigger austeilen können. Du hättest sogar manchmal einen guten Whisky–Punsch gekriegt. Na, Tom, willst du nicht lieber vernünftig sein? Wirf den alten Plunder ins Feuer und tritt meiner Kirche bei.«
»Der liebe Gott bewahre mich!« sagte Tom erglühend.
»Du siehst doch, daß Gott dir nicht hilft, sonst wärst du nie in meine Gewalt geraten. Deine Religion ist nichts wie Lug und Trug, Tom. Ich weiß es am besten. Halte dich an mich; ich bin jemand und kann allerhand tun!«
»Nein, Herr, ich wanke nicht. Der liebe Gott mag mir helfen oder nicht, aber ich bleibe bei ihm und glaube an ihn bis zuletzt!«
»Um so schlimmer für dich«, sagte Legree, spuckte ihn zornig an und gab ihm einen Fußtritt. »Das macht nichts, ich werde dich schon hetzen und kleinkriegen, warte nur!« Damit wandte er sich ab.
Der gottlose Spott seines grausamen Herrn drückte Toms verzagte Seele auf den tiefsten Stand hinab. Er saß wie betäubt am Feuer. Aber auf einmal schien alles ringsum zu verblassen, und vor ihm stand die Vision des Einen, der mit Dornen gekrönt, verhöhnt und geschlagen wurde. Tom spähte mit Staunen und Verehrung in die erhabene Geduld dieses Antlitzes; die tiefen Augen drangen ihm tief ins Herz, seine Seele erwachte, während er in überströmendem Gefühl mit ausgestreckten Armen auf die Knie sank; da verwandelte sich die Vision allmählich, die scharfen Dornen wurden zu Strahlen der Herrlichkeit, und in unermeßlichem Glanz sah Tom, wie dasselbe Antlitz sich ihm mitleidig zuneigte, und eine Stimme sprach: »Er, der überwindet, soll neben mir auf meinem Throne sitzen, wie auch ich überwunden habe und neben meinem Vater auf dem Thron sitze.«
Als der blasse Schein des Morgens die Schläfer aufrief zur Feldarbeit, da ging einer unter den zerlumpten Elendsgestalten mit beflügeltem Schritt; fester als der Boden unter ihm war sein starker Glaube an die allmächtige, ewige Liebe.
Von nun an war das demütige Herz des Unterjochten eingehüllt in eine Sphäre des Friedens — der stets gegenwärtige Erlöser hatte es zu seinem Tempel erkoren. Vorbei waren die irdischen Bedenken, vorbei das Aufflackern der Hoffnung, der Furcht, des Verlangens–der menschliche Wille, gebrochen und blutend, war nach den langen Kämpfen eingegangen in den göttlichen.
Allen fiel die Wandlung in seinem Äußeren auf. Heiterkeit und Behendigkeit schienen zu ihm zurückgekehrt zu sein, eine Ruhe ihn zu erfüllen, die von keinem Unrecht mehr getrübt werden konnte.
»Was zum Teufel ist in Tom gefahren?« sagte Legree zu Sambo. »Noch vor kurzem war er ganz vergrämt, und nun ist er wieder munter wie ein Fisch im Wasser.«
»Keine Ahnung, Herr, vielleicht will er ausreißen?«
»Das möchte ich erleben«, erwiderte Legree mit wildem Grinsen, »du nicht auch, Sambo?«
Diese Worte wurden gewechselt, als Legree sein Pferd bestieg, um in die nächste Stadt zu reiten. Am Abend, als er zurückkehrte, fiel ihm ein, noch am Quartier vorbeizureiten und nachzusehen, ob alles in Ordnung sei. Er war nicht mehr weit davon entfernt, als er ein Singen vernahm. Das war in dieser Gegend ein ungewöhnlicher Klang, und lauschend blieb er stehen und hielt sein Pferd an. Er vernahm ein kirchliches Lied:
»Wenn ich im Himmel einen Ort Darf als mein Eigen nennen,
Dann wisch' ich meine Tränen fort,
Will keine Furcht mehr kennen …«
»Aha«, sprach Legree zu sich selbst, »so denkt er also? Wie ich diese Lieder hasse! Ha, du Nigger!« sagte er und erschien plötzlich vor Tom.
»Was unterstehst du dich, diesen Lärm zu machen, wenn du längst in der Falle liegen solltest? Halte dein schwarzes Maul und verschwinde!«
»Ja, Herr«, erwiderte Tom mit heiterer Bereitwilligkeit.
Er stand unterwürfig da, aber Legree konnte sich nicht verhehlen, daß er seine Gewalt über seinen Leibsklaven eingebüßt hatte. Und als Tom in seiner Hütte verschwand, riß er sein Pferd herum. Es durchschoß ihn wie ein Blitz, der zuweilen vom Gewissen aus auch die dunkle und sündige Seele streift.
Toms ganze Seele floß über von Mitleid und Sympathie mit seinen armen Leidensgenossen. Ihm selber war zu Mute, als ob seine eigenen Schmerzen vorüber seien, und er fühlte sich gedrängt, von dem seltsamen Schatz des Friedens und der Liebe, der ihm von oben anvertraut war, ihnen mitzuteilen und ihr Leid zu lindern. Es war richtig, er hatte nur sehr spärliche Möglichkeiten; aber auf dem Hin–und Rückweg zur Arbeit und während der Arbeitsstunden selbst konnte er den Mutlosen und Verzagten zuweilen hilfreich zur Hand gehen. Die armen, verrohten, abgearbeiteten Geschöpfe verstanden ihn anfangs gar nicht, aber als er es Woche für Woche und Monat für Monat fortsetzte, begann in ihren verstummten Herzen doch eine Saite zu klingen. Aber unmerklich und allmählich gewann dieser seltsame, stille, geduldige Mensch, der bereitwillig alle Lasten trug und von niemand Hilfe verlangte — der vor jedem zurücktrat, immer zuletzt und dann das wenigste nahm, aber jedem, der es nötig hatte, von seinem geringen Anteil abgab — dieser Mensch, der in kalten Nächten seine zerrissene Decke jeder Frau abtrat, die krank und fröstelnd darniederlag, der den Schwachen auf dem Felde, auf die schreckliche Gefahr hin, selber sein Maß nicht zu erfüllen, die Körbe füllte.
Die arme Mulattin, deren schlichter Glaube durch die Lawine der Grausamkeit und des Unrechts, die über sie hereingebrochen, fast zermalmt und überwältigt worden war, fühlte jetzt, wie ihre Seele sich bei den Chorälen und den Stellen aus der Heiligen Schrift wieder aufrichtete, die ihr der bescheidene Missionar auf dem Wege zur und von der Arbeit mit Unterbrechungen ins Ohr flüsterte; selbst Cassys halbgetrübter, schweifender Geist beruhigte sich unter Toms einfachem unaufdringlichem Einfluß.
Eines Tages, nachdem in Toms Hütte alle in Schlaf gesunken waren, erschien ihr Gesicht plötzlich in einem Loch zwischen den Balken, das als Fenster diente; Tom wurde sofort hell wach, da bat sie ihn mit stummer Geste, herauszukommen.
Tom trat aus der Tür. Es war zwischen ein und zwei Uhr nachts–voll und ruhig schien der Mond. Tom bemerkte in seinem Licht, daß in Cassys großen dunklen Augen ein eigentümlich wilder Glanz leuchtete, ganz unähnlich ihrer sonstigen starren Schwermut.
»Komm her, Vater Tom«, sagte sie; ihre Hand umklammerte sein Handgelenk und zog ihn mit einer Kraft näher, als sei die Hand aus Eisen; »komm her — ich habe eine Neuigkeit.«
»Was denn, Frau Cassy?« fragte Tom ängstlich.
»Tom, hättest du nicht gern deine Freiheit?«
»Ich erhalte sie nach Gottes Willen«, erwiderte Tom.
»Ei, du kannst sie heute nacht schon haben«, sagte Cassy in plötzlicher Energie. »Komm mit.«
Tom zögerte.
»Komm mit!« wiederholte sie flüsternd und starrte ihn aus schwarzen Augen an.
»Komm mit! Er ist fest eingeschlafen. Ich habe ihm genug in seinen Schnaps geschüttet. Wenn ich mehr gehabt hätte, brauchte ich dich jetzt nicht. Aber komm jetzt, die Hintertür ist aufgeriegelt. Da steht die Axt, ich hab sie hingestellt; seine Stubentür ist offen; ich zeige dir den Weg. Ich hätte es selbst getan, aber meine Arme sind zu schwach. Komm rasch!«
»Nicht um alles in der Welt, Frau!« sagte Tom fest und hielt sie zurück, als sie ihn vorwärtsdrängte.
»Denke doch an alle die andern«, sagte Cassy. »Wir könnten sie alle freilassen und in die Sümpfe gehen und dort auf einer Insel leben; das hat man schon früher getan. Jedes Leben ist besser als dieses.«
»Nein«, erwiderte Tom fest. »Nein! Niemals entsteht Gutes aus Bösem. Lieber schlüge ich mir die rechte Hand ab.«
»Dann werde ich es tun«, sagte Cassy und drehte sich um.
»Oh, Frau Cassy!« flehte Tom und warf sich vor ihr zu Boden. »Nur Übel kann daraus entstehen. Der liebe Gott hat uns nicht zur Rache bestellt. Wir müssen leiden und seine Zeit erwarten und unsere Feinde lieben.«
»Lieben?« sagte Cassy mit wildem Funkeln, »solche Feinde? Das ist wider die Natur!«
»Nein, Frau«, entgegnete Tom aufblickend, »er verleiht uns die Kraft, und dann ist der Sieg unser. Wenn wir lieben und leben können trotz allem und für alle, dann ist der Sieg unser.«
Cassy stand schweigend da, während große, schwere Tränen aus ihren gesenkten Augen tropften.
»Aber Frau Cassy«, sprach Tom zögernd, nachdem er sie eine Weile prüfend angesehen hatte. »Wenn Ihr doch von hier weggehen könntet — wenn es sich machen ließe -, dann würde ich Euch und Emmeline dazu raten, das heißt, wenn Ihr ohne Blutvergießen gehen könntet — anders nicht.«
»Würdet Ihr es mit uns versuchen, Vater Tom?«
»Nein«, sagte Tom, »es hat eine Zeit gegeben, da hätte ich es getan; aber jetzt habe ich hier unter den Armen eine Aufgabe. Bei ihnen will ich bleiben und mein Kreuz tragen bis zum Ende. Bei Euch ist es etwas anderes; Ihr geht daran zugrunde — es ist mehr, als Ihr tragen könnt, es ist besser, wenn Ihr geht.«
Cassy hatte oft Stunden damit zugebracht, alle möglichen Fluchtpläne zu ersinnen, um sie alle wieder als unausführbar und hoffnungslos fallenzulassen; aber in diesem Moment zuckte in ihrem Geist ein Plan auf, so einfach und in allen Einzelheiten durchführbar, daß sich eine erste Hoffnung in ihr regte.
»Vater Tom, ich werde es versuchen!« sagte sie plötzlich.
»Amen!« sagte Tom. »Gott stehe Euch bei.«