21. Kapitel Das Gras verwelkt — die Blume verblüht

Das Leben gleitet dahin, Tag für Tag; so glitt es auch an Tom vorbei, bis zwei Jahre verstrichen waren. Obwohl von allen getrennt, die seiner Seele teuer waren, obwohl oft von Sehnsucht nach der Vergangenheit verzehrt, fühlte er sich doch niemals direkt und bewußt unglücklich.

Sein Brief nach Hause war, wie wir im letzten Kapitel berichteten, von dem jungen Herrn Georg rechtzeitig in sauberer, runder Schuljungenschrift beantwortet worden, die man, wie Tom sagte, gut auf Zimmerlänge lesen konnte. Seine Antwort enthielt verschiedene, erfrischende Neuigkeiten von zu Hause, die unserm Leser schon wohl vertraut sind: daß Tante Chloe sich bei einem Konditor in Louis–ville verdingt hatte, wo ihre Kunst im Tortenbacken Riesensummen einbringen sollte, die als Lösegeld für Tom bestimmt waren; daß es Mose und Peter glänzend ging und das Baby unter Aufsicht von Sally und der ganzen Familie fröhlich durch das Haus trabte.

Toms Hütte war zur Zeit verschlossen, aber Georg verweilte lange bei der Beschreibung aller Anbauten und Verbesserungen, die man nach Toms Rückkehr vornehmen wollte.

Im übrigen brachte der Brief eine Übersicht über Georgs Schulzensuren und meldete die Namen der vier neuen Fohlen, die seit Toms Weggang auf die Weide gekommen waren, und berichtete im selben Atemzug von Vaters und Mutters Wohlbefinden. Der Stil des Briefes war durchaus sachlich und unpersönlich, aber für Tom war er das herrlichste Schriftstück, das die Neuzeit hervorgebracht hatte. Er wurde nicht müde, es zu betrachten, und beriet sich sogar mit Eva über die Möglichkeit, es einrahmen zu lassen und es dann an die Wand zu hängen. Nur die Schwierigkeit, die Sache so einzurichten, daß beide Seiten auf einmal zur Schau gestellt werden, stand diesem Unternehmen im Wege.

Die Freundschaft zwischen Tom und Eva war ständig gewachsen. Es läßt sich schwer beschreiben, welchen Platz sie in dem weichen empfänglichen Herzen ihres treuen Dieners einnahm. Er liebte sie als ein zerbrechliches, irdisches, kleines Ding und verehrte sie dabei fast als ein himmlisches und göttliches Wesen. Er sah zu ihr auf, wie der italienische Seefahrer zu dem Bild des Jesuskindes aufblickt–mit einer Mischung aus Verehrung und Zärtlichkeit; ihr alle anmutigen Wünsche zu erfüllen, ihr die tausend kleinen Freuden zu bereiten, die jede Kindheit wie ein vielfarbiger Regenbogen überstrahlen, gehörte zu Toms größter Freude. Morgens auf dem Markt war sein Blick an den Blumenständen immer auf der Suche nach einem seltenen Sträußchen; die schönsten Pfirsiche oder Orangen ließ er in die Tasche gleiten, um sie ihr bei seiner Rückkehr zuzustecken, und nichts erfreute ihn mehr als der Anblick ihres hellen Köpfchens, das nach ihm Ausschau hielt, und ihre kindliche Frage: »Na, Onkel Tom, was hast du mir heute mitgebracht?«

Eva war umgekehrt nicht weniger dienstfertig. Sie war noch klein, aber sie konnte gut vorlesen; sie hatte ein feines, musikalisches Gehör, eine rasche, poetische Auffassung und fühlte sich instinktiv zu allem hingezogen, was groß und edel war; sie las Tom die Bibel vor, wie er es noch niemals erlebt hat. Anfangs hatte sie ihrem bescheidenen Freund nur einen Gefallen tun wollen, aber bald wurde ihre nachdenkliche Natur von dem gewaltigen Buch ebenso ergriffen; eine ferne Sehnsucht, starke, ungekannte Gefühle wachten in ihr auf, wie das bei leidenschaftlichen, phantasiebegabten Kindern oft geschieht.

Am meisten gefielen ihr die Offenbarung und die Propheten — deren dunkle, merkwürdige Bilder und glühende Sprache ihr um so mehr Eindruck machten, als sie vergeblich nach ihrem Sinn fragte, wobei es ihr und ihrem schlichten Freund — dem alten und dem jungen Kind — ganz gleich erging. Sie wußten nur, daß von einem künftigen Glanz die Rede war, über den ihre Seelen frohlockten, ohne zu wissen, warum.

Zu diesem Zeitpunkt unserer Geschichte wurde der ganze Haushalt St. Clares in die Villa am See Pontchartain verlegt. Die Hitze des Sommers hatte alle, die in der Lage waren, die ungesunde Stadt zu verlassen, an die Ufer des Sees getrieben, wo kühle Seelüfte wehten.

St. Clares Villa war ein ostindisches Sommerhaus, von leichten Verandas aus Bambusrohr umgeben, auf allen Seiten ins Grüne blickend. Das allgemeine Wohnzimmer führte in einen großen Garten hinaus, in dem alle malerischen Pflanzen und Blumen der Tropen ihre Wohlgerüche verströmten und gewundene Pfade direkt bis zum See hinabliefen, dessen silbrige Wasserfläche sich unter den tanzenden Sonnenstrahlen hob und senkte — ein Bild, das jede Stunde wechselte und an Schönheit gewann.

Es war zur Zeit eines tiefgoldenen Sonnenuntergangs, der ganze Himmel stand in Flammen und spiegelte sich feurig im Wasser. Rosige und goldfarbene Streifen lagen über dem See, wie Geister glitten weißflügelige Kähne vorbei.

Tom und Eva saßen auf einer kleinen Moosbank in einer Laube unten im Garten. Es war Sonntagabend, und auf Evas Knien lag die aufgeschlagene Bibel. Sie las: »Und ich sah einen See aus Glas, gemischt mit Feuer.«

»Tom«, sagte Eva, sich plötzlich unterbrechend und auf den See deutend, »da ist er.«

»Was denn, Fräulein Eva?«

»Siehst du es nicht — dort!« rief das Kind und zeigte auf das spiegelnde Wasser, das die Glut des Himmels zurückwarf. »Das ist der See aus Glas, gemischt mit Feuer.« »Wahrhaftig, Fräulein Eva«, sagte Tom und stimmte an:

»Oh, hätt' ich die Flügel des Morgens,

flög' ich hinüber zu Kanaans Küste;

glänzende Engel trügen mich heim

zum Neuen Jerusalem.«

»Wo denkst du, liegt das Neue Jerusalem, Onkel Tom?« fragte Eva. »Da oben in den Wolken, Fräulein Eva.«

»Dann habe ich es gesehen!« sagte Eva. »Sieh doch die Wolken! Sie sind wie große perlmutterne Tore, und man kann weit, weit hinausschauen. Tom, sing einmal von >den Engeln, hell<.«

Tom sang die Worte des bekannten Methodistenchorals:

»Ich sehe eine Schar von Engeln, hell,

sie kosten den himmlischen Glanz,

sie tragen ein schneeweißes Gewand

und Palmenwedel in gütiger Hand.«

»Onkel Tom, ich habe sie gesehen«, sagte Eva.

Tom hatte nicht den geringsten Zweifel; er war auch keineswegs erstaunt. Wenn Eva ihm erzählt hätte, sie sei im Himmel gewesen, wäre es ihm durchaus glaubwürdig erschienen.

»Sie besuchen mich manchmal im Schlaf, die Engel.« Evas Augen wurden träumerisch, und sie summte mit leiser Stimme:

»Sie tragen ein schneeweißes Gewand

und Palmenwedel in gütiger Hand.«

»Onkel Tom«, sagte Eva, »dorthin werde ich gehen!«

»Wohin, Fräulein Eva?«

Das Kind stand auf, und ihre kleine Hand deutete zum Himmel; die Glut des Abends verlieh ihrem goldenen Haar und ihren heißen Wangen einen überirdischen Glanz; ihre Augen hingen am Himmel.

»Dorthin werde ich gehen«, wiederholte sie, »zu den Engeln hell, Tom; es wird nicht mehr lange dauern.«

Das treue alte Herz fühlte einen plötzlichen Stoß; Tom mußte daran denken, wie oft er im letzten Jahr bemerkt hatte, daß Evas Hände dünner, ihre Haut durchsichtig und ihr Atem kürzer geworden war, daß das Laufen und Spielen im Garten, womit sie früher Stunden zugebracht hatte, sie jetzt rasch ermüdete. Er hatte Miß Ophelia oft über ihren Husten klagen hören, den alle Medizinen nicht heilen wollten, auch jetzt glühten die brennenden Wangen und Hände in hektischem Fieber, aber bisher war ihm der Gedanke, den Evas Worte andeuteten, noch nie zu Bewußtsein gekommen.

Ein hastiger Ruf von Miß Ophelia unterbrach die Unterhaltung zwischen Tom und Eva.

»Eva — Eva! Ach, Kind, der Tau ist schon gefallen, du darfst nicht länger draußen bleiben!«

Eva und Tom eilten ins Haus.

Miß Ophelia hatte eine langjährige Erfahrung in der Kunst jeder Pflege. Sie kam von Neu–England und war wohl vertraut mit den ersten verräterischen Spuren jener schleichenden, heimtückischen Krankheit, welche die Blühenden und Schönen hinwegrafft und sie unwiderruflich, bevor noch das Lebensmark getroffen zu sein scheint, dem Tode überliefert.

Sie hatte Evas leichten, trockenen Husten wohl bemerkt; die täglich brennenden Wangen; auch der Glanz der Augen und die fiebrige Ausgelassenheit täuschten sie nicht.

Sie versuchte, St. Clare ihre Befürchtungen mitzuteilen; aber er fegte ihre Vermutungen gereizt und unwirsch und nicht wie sonst in gutgelauntem Leichtsinn beiseite.

»Du mußt nicht schwarzsehen — das hasse ich!« sagte er; »siehst du denn nicht, daß das Kind wächst? Wenn Kinder rasch wachsen, büßen sie immer an Kraft ein.«

»Aber sie hat den Husten.«

»Pah, der Husten! — Das bedeutet nichts. Sie hat sich vielleicht erkältet.«

»Na, so hat es bei den andern auch angefangen.«

»Oh, hör auf! Ihr seid so kampferprobt, ein Kind braucht nur zu niesen oder ein bißchen zu husten, und schon seht ihr überall Verderben und Untergang. Nimm das Kind in acht, bewahre sie vor der Nachtluft, und laß sie nicht zu viel draußen spielen, dann wird es ihr schon besser gehen.«

So sprach St. Clare. Aber er wurde nervös und unruhig. Er ließ Eva nicht mehr aus den Augen, was sich schon an der Häufigkeit verriet, mit der er betonte: »Das Kind ist ganz wohlauf.« - »Sein Husten besagt gar nichts« - »Es ist nur eine leichte Magenverstimmung, wie Kinder sie häufig haben.« Aber er hielt sie mehr als früher an seiner Seite, nahm sie auf seinen Ritt mit und brachte ihr alle paar Tage ein anderes Stärkungsmittel mit. »Nicht, daß das Kind es braucht, aber es wird ihm keinen Schaden tun.«

Tiefer als alles andere kam ihm aber die zunehmende geistige Reife des kleinen Mädchens schmerzlich zum Bewußtsein. Bei aller kindlichen Unbefangenheit ließ sie zuweilen ganz unbewußt Worte von so weittragender Bedeutung und seltsamer unirdischer Weisheit fallen, daß sie wie eine Inspiration wirkten. St. Clare verspürte jedesmal einen eisigen Schrecken und schloß sie in die Arme, wie um sie damit zu retten; in seinem Herzen erhob sich eine wilde Entschlossenheit, sie festzuhalten und niemals fahren zu lassen.

Das Kind schien Herz und Seele an Werke der Liebe und Güte zu verschwenden. Von Natur aus von impulsiver Großzügigkeit, schien sie jetzt eine fast weibliche Rücksicht an den Tag zu legen, die jedem auffiel. Immer noch spielte sie gern mit Topsy und den anderen farbigen Kindern; aber jetzt war sie lieber Zuschauer als Anstifter, und sie konnte eine halbe Stunde Topsys drollige Späße belachen — bis ein Schatten über ihr Gesichtchen glitt, ihre Augen träumerisch blickten und ihre Gedanken abschweiften.

»Mama«, sagte sie eines Tages plötzlich zu ihrer Mutter, »warum bringen wir unseren Leuten nicht das Lesen bei?«

»Was für eine Frage, Kind! Das tut niemand.«

»Und warum nicht?«

»Weil es gar keinen Zweck hat. Das hilft ihnen nicht bei der Arbeit, und zu etwas anderem sind sie nicht da.«

»Aber sie müßten die Bibel lesen, um Gottes Willen zu erfahren.«

»Oh, das kann man ihnen notfalls vorlesen.«

»Mir schient, Mama, die Bibel sollte jeder selbst lesen. Sie brauchen es so oft, wenn niemand da ist, der ihnen vorliest.«

»Eva, du bist ein merkwürdiges Kind«, sagte ihre Mutter.

»Tante Ophelia hat Topsy auch das Lesen gelernt«, fuhr Eva fort.

»Ja, und du siehst, was dabei herauskommt. Topsy ist der schlimmste Teufelsbraten, den ich kenne.«

»Zum Beispiel die arme Mammy! Sie liebt die Bibel so sehr und wünscht sich heiß, sie könnte lesen. Was soll sie anfangen, wenn ich ihr nicht mehr vorlesen kann?«

»Na, langsam wirst du auch andere Dinge im Kopf haben, Eva, als unseren Leuten die Bibel vorzulesen. Ich will nicht sagen, daß es sich nicht gehört. Als ich noch bei Kräften war, habe ich es selbst getan. Aber wenn du später schöne Kleider trägst und Gesellschaften besuchst, wirst du keine Zeit mehr dazu haben. Sieh einmal«, setzte sie hinzu, »diese Juwelen werde ich dir zu deinem ersten Ball schenken. Ich trug sie damals auch. Und ich kann dir sagen, Eva, ich habe riesiges Aufsehen erregt.«

Eva nahm das Kästchen und hob einen Brillantenhalsschmuck in die Höhe. Ihre großen nachdenklichen Augen blieben daran haften. Aber ihre Gedanken weilten offensichtlich ganz woanders.

»Wie merkwürdig du aussiehst, Kind!« sagte Marie.

»Sind sie viel Geld wert, Mama?«

»Aber gewiß. Sie kosteten ein kleines Vermögen.«

»Ich wollte, ich hätte sie schon«, sagte Eva, »dann machte ich damit, was ich wollte.«

»Was würdest du denn mit ihnen anfangen?«

»Ich würde sie verkaufen und in den freien Staaten ein Gut erwerben, alle unsere Leute dorthin bringen und Lehrer anstellen, damit sie schreiben und lesen lernen.«

Eva wurde durch das Gelächter ihrer Mutter unterbrochen.

»Eine Volksschule einrichten! Willst du ihnen nicht auch Klavierspielen und Samtmalerei beibringen?«

»Nein«, sagte Eva ungerührt. »Ich will, daß sie lernen, die Bibel zu lesen und ihre Briefe zu schreiben und auch die Briefe, die sie bekommen, zu lesen. Ich weiß, Mama, wie arg es ihnen ist, daß sie dies alles nicht können. Tom leidet darunter — Mammy auch — und noch viele andere. Das ist nicht richtig.«

»Komm, Eva, du bist nur ein Kind. Du verstehst diese Dinge nicht«, sagte Marie, »außerdem bekomme ich Kopfweh, wenn du soviel sprichst.«

Marie hatte immer ein Kopfweh zur Hand, sobald eine Unterhaltung nicht ganz nach ihrem Geschmack verlief. Eva stahl sich davon; aber von jetzt an gab sie Mammy unverdrossen Lesestunden.

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