23. Kapitel Erste Schatten

Zwei Tage später nahmen Alfred St. Clare und Augustin Abschied voneinander. Eva, die sich durch die Gesellschaft ihres jungen Vetters zu Anstrengungen hatte hinreißen lassen, die weit über ihre Kräfte gingen, siechte jetzt zusehends dahin. St. Clare erklärte sich nun bereit, ärztlichen Rat einzuholen; er hatte sich immer davor gescheut, weil er damit eine unwillkommene Wahrheit eingestand. Aber einige Tage ging es Eva so schlecht, daß sie im Haus bleiben und der Doktor gerufen werden mußte.

Marie St. Clare hatte von den langsam schwindenden Kräften ihres Kindes, als dessen Opfer sie sich fühlte, keinerlei Notiz genommen.

Miß Ophelia hatte verschiedentlich versucht, ihre mütterliche Besorgnis zu erregen, aber ohne Erfolg.

»Ich wüßte nicht, was ihr fehlen sollte«, hatte sie erwidert, »sie läuft umher und spielt.«

»Aber sie hustet, und ihre Kräfte lassen nach, sie ist immer außer Atem.«

»Pah! Das bin ich jahrelang gewesen, das ist eine nervöse Angelegenheit!«

»Aber sie ist jede Nacht schweißgebadet!«

»Nun, das bin ich seit zehn Jahren; häufig sind meine Sachen zum Auswringen naß; dann ist an meinem Nachthemd kein trockener Faden mehr, und die Laken sind in einem Zustand, daß Mammy sie zum Trocknen aufhängen muß. Eva kann gar nicht so schwitzen!«

Daraufhin hatte Miß Ophelia den Mund gehalten. Aber als nun Eva sichtbar darniederlag, änderte Marie ihre Taktik.

Sie wüßte es ja, sagte sie, sie hätte es immer gefühlt, daß sie die unglücklichste aller Mütter sei. Hier läge sie mit ihrer zerrütteten Gesundheit und müßte mit eigenen Augen mitansehen, wie ihr geliebtes Kind ins Grab sinke.

»Es ist ja wahr«, sagte St. Clare, »Eva ist sehr zart — das wußte ich immer; sie ist so rasch gewachsen und hat damit ihre Kräfte erschöpft, ihr Zustand ist kritisch. Aber jetzt liegt sie darnieder wegen der großen Hitze, weil der Besuch ihres Vetters sie aufregte und sie sich überanstrengte. Der Arzt sagte, es sei durchaus Grund zur Hoffnung.«

»Nun freilich, wenn du es von der günstigsten Seite aus betrachtest — bitte, tue es; es ist nur gut, daß manche Leute nicht diese empfindlichen Nerven haben. Ich wollte, ich könnte es so leicht nehmen wie ihr anderen!«

Diese >anderen< hatten allen Grund, in dieses Gebet miteinzustim–men, denn Marie nahm ihr neues Unglück nur zum Anlaß, ihre Umwelt aufs neue zu quälen. Jedes gesprochene Wort, alles, was getan oder unterlassen wurde, war nur ein neuer Beweis für die Hartherzigkeit und Gefühllosigkeit ihrer Umgebung gegenüber ihren eigenen Schmerzen. Als die kleine Eva diese Reden vernahm, weinte sie sich vor Mitleid mit ihrer armen Mama fast die Augen aus, daß sie ihr so viel Kummer bereitete.

Nach einigen Wochen besserten sich die drohenden Anzeichen, und es trat eine der verräterischen Pausen ein, mit welchen die heimtückische Krankheit das ängstliche Herz, zuweilen schon am Rande des Grabes, zu betrügen pflegt. Man hörte Evas Schritte wieder im Garten und auf den Balkonen; sie spielte und lachte wieder, und ihr Vater, der wie verwandelt war, erklärte: »Bald wird sie wieder hergestellt sein.« Nur Miß Ophelia und der Arzt ließen sich nicht täuschen. Und noch ein Herz wußte um die Wahrheit, das war Evas eigenes Herz. In ihr ruhte die prophetische Gewißheit, daß der Himmel sich öffnen würde. So friedlich wie das Licht der sinkenden Sonne, so süß wie die Stille des Herbstes lebte sie in dieser Gewißheit.

Denn trotz aller zärtlichen Pflege, trotz allen Glanzes an Liebe und Reichtum, mit dem das Leben ihr winkte, empfand das Kind kein Bedauern, daß es sterben mußte.

In jenem Buch, das sie mit ihrem bescheidenen alten Freunde gelesen, hatte sie das Bild dessen gesehen, der sich ihr ins Herz geprägt, der die Kinder liebt. Wohl trauerte ihr Herz um alle, die sie zurückließ — am meisten um ihren Vater; denn Eva hatte, wenn sie es auch nie deutlich aussprach, instinktiv das Gefühl, daß sie seinem Herzen am nächsten stand. Sie liebte ihre Mutter, weil sie ein liebebedürftiges Herz hatte; was sie von deren Selbstsucht erkannte, vermochte sie nur zu betrüben; denn sie besaß das unbedingte Vertrauen eines Kindes, das glaubt, eine Mutter begehe kein Unrecht. Sie hatte wohl manches an sich, was Eva sich nicht erklären konnte, aber darüber ging sie rasch hinweg, denn sie hatte ihre Mutter herzlich lieb.

Sie trauerte auch um die treuen, freundlichen Dienstboten. Für gewöhnlich verallgemeinern Kinder nicht, aber Eva war ein ungewöhnlich reifes Kind; alles, was sie von dem bösen System mitangesehen hatte, unter dem sie lebte, war tief in ihr nachdenkliches, grübelndes Herz gesunken. Sie war von einer unbestimmten Sehnsucht erfüllt, etwas für sie zu tun, sie alle aus ihrer verzweifelten Lage zu retten — eine Sehnsucht, die zu der Schwäche ihrer kleinen Person in traurigem Gegensatz stand.

»Onkel Tom«, sagte sie eines Tages, »ich kann verstehen, warum Herr Jesus für uns sterben wollte.«

»Warum denn, Fräulein Eva?«

»Weil ich es auch wollte.«

»Wieso, Fräulein Eva? Ich verstehe nicht — « »Ich kann es nicht erklären; aber damals, als ich die armen Leute auf dem Schiff sah, weißt du, da hatten einige ihre Mütter und Männer verloren, und ein paar Mütter weinten um ihre kleinen Kinder; - und seitdem noch viele Male hab ich mir gewünscht, sterben zu dürfen, wenn mein Sterben allem ein Ende machen würde. Wenn ich könnte, Tom, würde ich für sie sterben«, sagte das Kind ernsthaft und legte ihre kleine Hand auf seine dunkle.

Tom betrachtete das Kind voll ehrfürchtiger Scheu, und als sie, der Stimme ihres Vaters folgend, davonhuschte, wischte er wiederholt die Augen, während er ihr nachsah.

»Es hat keinen Zweck, Fräulein Eva aufzuhalten«, sagte er später zu Mammy. »Sie trägt des Herrn Siegel auf der Stirn.«

»O ja!« erwiderte Mammy, beide Arme hochhebend. »Ich habe es immer gesagt, sie ist kein Kind fürs Leben — kleines geliebtes Lamm!«

Eva sprang die Verandastufen zu ihrem Vater hinauf. Es war am späten Nachmittag, und während sie in ihrem weißen Kleidchen, mit ihrem goldenen Haar, den glühenden Wangen und den unnatürlich strahlenden Augen näherkam, schienen die Sonnenstrahlen sie mit einem Glorienschein zu umgeben.

St. Clare hatte sie gerufen, um ihr eine kleine Porzellanfigur zu zeigen, die er für sie gekauft; aber ihr Anblick ging ihm plötzlich schmerzlich zu Herzen. Es gibt eine Schönheit, so zart und beinahe überirdisch, daß wir sie nicht ertragen. Ihr Vater schloß sie jäh in die Arme und vergaß darüber fast, was er ihr zeigen wollte.

»Eva, mein Herzblatt, es geht dir doch jetzt besser, nicht wahr?«

»Papa«, sprach Eva mit plötzlicher Festigkeit, »ich wollte dir schon lange etwas sagen. Ich möchte es jetzt sagen, bevor ich schwächer werde.«

St. Clare befiel ein Zittern, als Eva sich auf seinen Schoß setzte. Sie barg ihren Kopf an seiner Brust und sagte:

»Es hat keinen Zweck, daß ich es noch länger für mich behalte.

Die Zeit kommt heran, wo ich dich verlassen muß. Ich werde dich verlassen und niemals wiederkehren«, und Eva schluchzte.

»Aber nicht doch, mein Kind«, sagte St. Clare, noch immer zitternd, aber mit heiterem Ton, »du bist überreizt und niedergeschlagen. Du darfst solchen trüben Gedanken nicht nachhängen. Sieh doch einmal, ich habe dir hier eine kleine Figur gekauft.«

»Nein, Papa«, sagte sie, die Figur beiseite schiebend, »betrüge dich nicht selbst. Mir geht es nicht besser — ich weiß das ganz genau; ich werde dich verlassen. Ich bin nicht überreizt, auch nicht niedergeschlagen. Wenn du nicht wärst, Papa, und meine Freunde, wäre ich sehr glücklich. Ich will sterben, ich sehne mich danach.«

»Liebes Kind, was machst du dir dein Herz so schwer? Hast du nicht alles, was dich glücklich macht?«

»Lieber noch bin ich im Himmel — nur für meine Freunde möchte ich noch leben. Hier ist vieles, was mich betrübt und was mir schrecklich ist. Lieber wäre ich dort — aber ich möchte dich nicht verlassen, es bricht mir fast das Herz!«

»Was betrübt dich und ist dir schrecklich?«

»Oh, alles, was geschieht und immer wieder geschieht. Unsere Leute tun mir so leid. Sie haben mich lieb, und alle sind gut und freundlich. Ich wünschte, Papa, sie wären alle frei.«

»Ja, aber Eva, findest du nicht, daß es ihnen gut geht, bei uns?«

»Oh, Papa, wenn dir aber etwas zustößt, was wird dann aus ihnen? Andre Leute sind nicht wie du, Papa.«

»Mein Kleines, du bist zu empfindlich.«

»Ach, das bekümmert mich, Papa! Du willst immer, daß ich glücklich sei und niemals Schmerzen leide, nicht einmal eine traurige Geschichte höre, während andere arme Leute ihr Leben lang nur Not und Elend kennen, das ist doch nicht richtig. Ich muß doch wissen — wie es ist — und es auch spüren. Alle diese Sachen sind mir ganz tief zu Herzen gegangen, ich habe immer wieder darüber nachgedacht, Papa, kann man denn nicht alle Sklaven freilassen?«

»Das ist eine schwierige Frage, mein Liebes. Zweifellos sind die Zustände schlecht; darüber sind sich viele Leute klar, ich auch. Ich wünsche von ganzem Herzen, es gäbe im ganzen Land nicht einen Sklaven mehr, aber ich weiß nicht, wie man das anfangen soll.«

»Papa, du bist so gut und edel und freundlich, du kannst immer alles so schön ausdrücken, könntest du nicht überall hingehen und den Leuten zureden, daß sie es richtig machen? Wenn ich tot bin, wirst du an mich denken und es mir zuliebe tun? Wenn ich nur könnte, würde ich es tun.«

»Wenn du tot bist, Eva!« rief St. Clare leidenschaftlich. »O Kind, wie kannst du so reden. Du bist alles, was ich auf Erden habe.«

»Komm, komm, mein Herzblatt«, sagte St. Clare beschwichtigend, »gräme dich nicht so sehr, und sprich nicht vom Sterben, dann will ich alles tun, was du willst.«

»Und versprich mir, lieber Vater, daß Tom seine Freiheit erhält, sobald ich.«, sie unterbrach sich und sagte dann zögernd, »ich nicht mehr da bin.«

»Ja, mein Liebstes, alles — was du dir wünschst.«

»Lieber Papa«, sagte das Kind und preßte die brennende Wange gegen die seine, »wie sehr wünschte ich, daß wir zusammen gingen.«

»Wohin, mein Kind?« sagte St. Clare.

»In das Reich unseres Heilandes; dort ist es ruhig und friedlich und alles voller Liebe.« Das Kind sprach unwillkürlich wie von einem Ort, den es gut kannte. »Möchtest du nicht mitkommen, Papa?«

St. Clare zog sie näher an sich und schwieg.

»Du wirst zu mir kommen«, sagte das Kind im Ton ruhiger Gewißheit, den sie öfters ganz unbewußt anschlug.

»Ich werde dir folgen. Ich werde dich nie vergessen.«

Die Schatten des feierlichen Abends schlossen sie immer enger ein, während St. Clare auf der Veranda saß und die zerbrechliche kleine Gestalt an sein Herz gepreßt hielt. Er sah die lieben Augen nicht mehr, aber ihre Stimme ertönte wie eine Geisterstimme, und wie in einer Vision des Jüngsten Gerichts erstand in diesem Augenblick seine ganze Vergangenheit vor seinem inneren Auge — die Gebete — Choräle seiner Mutter — sein eigenes, frühes Streben und Trachten nach dem Guten, und von da an bis zu dieser Stunde Jahre weltlichen, skeptischen und, wie man so sagt, achtbaren Lebens. Als es dunkel wurde, trug er sein Kind nach oben, und als es zur Ruhe gebettet war, schickte er alle andern fort und wiegte es in seinen Armen, bis es eingeschlafen war.

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