36. Kapitel Die Freiheit

Für eine Weile müssen wir jetzt die Geschicke Georgs und seines Weibes verfolgen, die wir im freundlichen Farmerhaus am Wegrand zurückließen.

Ächzend lag Tom Locker in einem blütenweißen Bett, in dem er sich stöhnend hin und her warf; er war der mütterlichen Obhut der Tante Dorcas anvertraut, die ebensogut einen kranken Auerochsen hätte pflegen können.

Sie war eine große, würdige, durchgeistigt aussehende Frau mit silbergewelltem Haar unter einer reinlichen Musselinhaube, das über einer breiten, klaren Stirn gescheitelt war, die sich über nachdenklichen grauen Augen wölbte; ein schneeweißes Tuch lag sauber gefaltet über ihrer Brust; ihr glänzendbraunes Seidenkleid knisterte und raschelte, während sie im Zimmer hin und her ging.

»Zum Teufel!« rief Tom Locker und gab den Federbetten einen schwungvollen Tritt.

»Ich muß dich sehr bitten, Thomas, nicht solche Ausdrücke zu benutzen«, sagte Tante Dorcas, während sie gelassen die Betten ordnete.

»Na gut, Oma, wenn ich es schaffe, will ich es lassen«, entgegnete Tom; »aber da soll der Mensch nicht fluchen, wenn es so verdammt heiß ist!«

Tante Dorcas entfernte ein Plumeau vom Bett, glättete die Decken und stopfte sie ein, bis Tom ganz verstummt war und sie bemerkte:

»Mein Freund, es wäre besser, wenn du das Fluchen und Lästern ließest und statt dessen an deinen Lebenswandel dächtest.«

»Warum zum Teufel«, fragte Tom, »soll ich daran denken? Das wäre wahrhaftig das letzte — zum Henker!« Und Tom wälzte sich herum, alle Laken und Decken wieder zerwühlend und herausreißend, daß es kaum mitanzusehen war.

»Der Bursche und das Mädchen, die sind wohl hier?« fragte er nach einer Pause verdrossen.

»Ganz recht«, erwiderte Tante Dorcas.

»Sie sollen sich lieber über den See verziehen«, sagte Tom; »je eher, desto besser.«

»Das werden sie auch vorhaben«, entgegnete Tante Dorcas und strickte friedlich weiter.

»Und das merkt Euch«, fing Tom wieder an, »wir haben Häscher in Sandusky, die überwachen für uns die Dampfer. Ich kann es Euch ebensogut jetzt sagen. Hoffentlich entwischen sie, nur um Marks ein Schnippchen zu schlagen — der verfluchte Pinscher–Gott strafe ihn!«

»Thomas!« rief Tante Dorcas.

»Versteh doch, Oma, wenn man einem Kerl den Stöpsel zu fest draufdrückt, dann platzt er. Übrigens, das Mädchen — sagt ihr, sie soll sich lieber verkleiden. Ihr Steckbrief hängt in Sandusky aus.«

»Wir werden die Sache ins Auge fassen.«

Da wir jetzt Tom Locker Lebewohl sagen, können wir noch eilig berichten, daß er drei Wochen bei den Quäkern gelegen hatte; ein rheumatisches Fieber war noch zu seinen sonstigen Leiden hinzugekommen. Als Tom von seinem Krankenlager aufstand, war er weiser und nachdenklicher geworden. Statt des Sklavenfangs stellte er seine Talente fortan in den Dienst der neuen Siedlung, wo er im Fallenstellen für Bären, Wölfe und andere Waldbewohner eine so glückliche Hand bewies, daß sein Name im ganzen Land einen guten Klang gewann. Von den Quäkern sprach er selber im Tone höchsten Respekts. »Nette Leute«, pflegte er zu sagen, »wollten mich zwar bekehren, haben es nicht ganz hingekriegt. Aber ich sage dir, Fremder, kranke Leute pflegen sie erstklassig, bereiten prima Suppen und Leckerbissen.«

Als die Flüchtlinge durch Tom erfuhren, daß man sie in Sandus–ky erwartete, hielten sie es für geraten, sich zu trennen. Jim ging mit seiner Mutter voraus; und zwei Nächte später ließen sich Georg und Eliza mit ihrem Kind gesondert nach Sandusky fahren, wo sie unter einem gastlichen Dach übernachteten, bevor sie ihre letzte Reise über den See antraten.

»Jetzt wäre es soweit«, sagte Eliza, als sie vor dem Spiegel stand und die seidene Fülle ihres schwarzen welligen Haares schüttelte. »Na, Georg, ist es nicht schade?« fragte sie, als sie es spielerisch hochhob, »ist es nicht schade, wenn alles herunter muß?«

Georg lächelte trübe und gab keine Antwort.

Eliza drehte sich zum Spiegel; die Schere blitzte, als sie eine lange Locke nach der anderen von ihrem Kopf abschnitt.

»Na also, das reicht«, meinte sie und nahm eine Haarbürste; »jetzt noch ein paar Striche. Da, bin ich nicht ein schmucker junger Bursche?« sagte sie und stellte sich lachend vor ihren Mann.

»Du bist immer hübsch, was du auch anstellst«, erwiderte Georg.

»Warum bist du so versonnen?« fragte Eliza, sich auf ein Knie niederlassend, und ergriff seine Hand. »Sie sagen, Kanada ist nur noch vierundzwanzig Stunden entfernt. Nur noch einen Tag und eine Nacht auf dem See, und dann — oh, dann!«

»Ach, Eliza!« antwortete Georg und zog sie an sich; »das ist es ja! Unser Schicksal spitzt sich jetzt auf diesen einen Punkt zu. So nahe zu sein, das Ziel so dicht vor Augen zu haben und es dann noch zu verlieren! Das könnte ich nicht ertragen, Eliza.«

»Du mußt nicht verzagt sein!« sprach seine Frau zuversichtlich. »Der liebe Gott würde uns nicht bis hierher geleitet haben, wenn er nicht gewillt wäre, uns durchzubringen. Ich fühle deutlich, wie er uns beisteht, Georg!«

»Du bist ein Segen, Eliza!« erwiderte Georg, sie krampfhaft umschlingend. »Ach, sag mir, kann uns diese Gnade wirklich zuteil werden? Soll dieses jahrelange Elend wirklich ein Ende haben? — Sollen wir frei werden?«

»Ich weiß es bestimmt, Georg«, antwortete Eliza und blickte auf zum Himmel, während Tränen der Hoffnung und Begeisterung an ihren langen, dunklen Wimpern glänzten. »In meinem Herzen fühle ich, daß Gott uns noch heute unsere Ketten abnehmen wird.«

»Dann will ich es auch glauben, Eliza«, sagte Georg und erhob sich plötzlich. »Ich will glauben; komm, machen wir uns fertig. Aber tatsächlich«, rief er, hielt sie auf Armeslänge von sich und betrachtete sie voller Bewunderung. »Du bist ein hübscher, kleiner Kerl. Die kurzen kleinen Löckchen stehen dir allerliebst. Setz die Mütze auf. So — ein bißchen auf die Seite. Du hast noch nie so hübsch ausgesehen. Aber jetzt wird es Zeit für den Wagen; ob Mrs. Smyth wohl Harry angezogen hat?«

Da ging die Tür auf, und eine ehrbare ältere Frau trat herein, den kleinen Harry in Mädchenkleidern an der Hand führend.

»Was ist das für ein hübsches kleines Mädchen geworden!« rief Eliza und drehte ihn um. »Wir werden ihn Harriet nennen, was? Der Name paßt so nett.«

Das Kind stand da und betrachtete ernsthaft die Mutter in ihrem neuen und seltsamen Aufzug, es sagte nichts, atmete nur tief und spähte verstohlen unter seinen dunklen Locken hervor.

»Kennt Harry seine Mama nicht mehr?« sagte Eliza und streckte die Arme nach ihm aus.

Das Kind schmiegte sich schüchtern an die andere Frau.

»Komm, Eliza, warum willst du ihn locken, du weißt doch, wir wollen ihn fernhalten?«

»Ich weiß, es ist töricht«, erwiderte Eliza, »aber es ist mir schrecklich, wenn er sich abwendet. Aber, komm — wo ist mein Mantel? Hier — wie tragen Männer ihren Mantel, Georg?«

»Du mußt ihn so tragen«, sagte ihr Mann und warf ihn über die Schulter.

»So also«, sagte Eliza und imitierte die Bewegungen; »und ich muß aufstampfen, große Schritte machen und keck aussehen.«

»Übernimm dich nicht«, riet ihr Georg. »Es gibt auch hin und wieder einen bescheidenen jungen Mann; die Rolle wird dir leichter fallen.«

»Und diese Handschuhe! Gott steh mir bei!« rief Eliza; »meine Hände verlieren sich darin.«

»Ich rate dir, behalte sie auf alle Fälle an«, sagte Georg, »dein schmales Pfötchen kann uns alle verraten. Also, Mrs. Smyth, Sie gehen jetzt zu uns und sind unsere Tante — nicht vergessen!«

»Ich habe gehört«, antwortete Mrs. Smyth, »daß Männer unten waren und alle Schiffskapitäne vor einem Mann und einer Frau mit einem kleinen Jungen gewarnt haben.«

»So, so«, sagte Georg. »Na, wenn wir die Leute sehen, werden wir sie melden.«

Eine Kutsche hielt jetzt vor der Tür, und die freundliche Familie, welche die Flüchtlinge aufgenommen, drängte sich abschiednehmend herbei.

Die Verkleidung der Gesellschaft ging auf Tom Lockers Vorschlag zurück. Mrs. Smyth, eine angesehene Frau aus einer Quäkersiedlung in Kanada, dem Ziel ihrer Flucht, befand sich gerade auf der Rückreise und hatte sich bereit erklärt, als Tante des kleinen Harry zu gelten. Damit er sich ihr leichter anschloß, hatte er die letzten zwei Tage völlig unter ihrer Obhut verbracht. Besondere Verwöhnung, verbunden mit Unmengen von Bonbons und Mohnkuchen, hatten die Freundschaft auf Seiten des kleinen Herrn fest untermauert.

Die Kutsche brachte sie an die Werft. Die beiden jungen Männer stiegen aus und betraten das Fallreep, Eliza reichte Mrs. Smyth galant den Arm, und Georg kümmerte sich um das Gepäck.

Georg stand vor dem Billettschalter, um für seine kleine Gesellschaft zu bezahlen, als er zwei Männer neben sich reden hörte.

»Ich habe alle Fahrgäste auf dem Schiff beobachtet«, sagte der eine; »ich weiß, daß sie nicht hier sind.«

Die Stimme gehörte einem Schiffsangestellten; sein Nachbar, an den er seine Worte richtete, war unser ehemaliger Freund Marks, der in lobenswerter Hartnäckigkeit nach Sandusky gekommen war, um zu sehen, wen er dort verschlingen könnte.

»Man kann die Frau kaum von einer Weißen unterscheiden«, antwortete Marks. »Der Mann ist ein sehr heller Mulatte. Er trägt ein Brandmal auf der Hand.«

Georgs Hand zitterte leicht, als er Fahrkarten und Kleingeld an sich nahm; aber er drehte sich kaltblütig um, streifte den Sprecher mit einem gleichgültigen Blick und schritt gelassen zu dem anderen Schiffsende, wo Eliza auf ihn wartete.

Mrs. Smyth suchte mit dem kleinen Harry die Geborgenheit der Damenkabinen auf, wo die dunkle Schönheit des angeblichen kleinen Mädchens die Mitreisenden zu mancher schmeichelhaften Bemerkung veranlaßte.

Mit Befriedigung sah Georg, daß Marks beim Abschiedsläuten der Schiffsglocke über das Fallreep zurück an Land ging; und er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, als der Dampfer einen unüberbrückbaren Abstand zwischen sich und die Küste legte.

Wer konnte ermessen, welche Gedanken Georgs Brust bewegten, als er ruhig auf Deck des Dampfers hin und her ging, neben sich seinen schüchternen Gefährten! Das mächtige Gut, dem er sich immer mehr näherte, schien zu schön, zu groß zu sein, um Wirklichkeit zu werden; den ganzen Tag war er voll Unruhe, es möchte ihm in letzter Minute noch entrissen werden.

Aber der Dampfer durchpflügte das Wasser — Stunden flogen vorbei, und schließlich tauchte klar und greifbar die kanadische Küste auf, die Küste, die wie ein mächtiger Zauber bannte — die mit einem Schlag alle Spuren der Sklaverei austilgte, gleichgültig in welcher Sprache sie aufrechterhalten oder von welcher nationalen Macht sie bestätigt wurde.

Georg stand Arm in Arm mit seinem Weib an der Reling, als der Dampfer sich der kleinen Stadt Amherstberg in Kanada näherte. Sein Atem ging schwer und mühsam, ein Schleier legte sich ihm vor die Augen; stumm preßte er die Hand, die zitternd auf seinem Arm lag. Die Glocke läutete — das Schiff legte an. Kaum wissend, was er tat, suchte er sein Gepäck zusammen und versammelte seine kleine Gesellschaft. Zusammen gingen sie an Land. Sie standen noch und warteten, bis sich das Schiff geleert hatte. Und dann knieten Mann und Weib mit dem verwunderten Kind in der Mitte unter Tränen und Umarmungen auf dem Boden der Freiheit nieder.

Bald geleitete Mrs. Smyth die kleine Gesellschaft zu dem gastlichen Hause eines guten Missionars, der in christlicher Barmherzigkeit wie ein Schafhirte die Vertriebenen und Heimatlosen sammelte, die stets Zuflucht an dieser Küste fanden.

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