8. Kapitel Ein würdiges Trio

Elizas verzweifelte Flucht über den Fluß geschah zur Stunde der Dämmerung. Die grauen Abendnebel, langsam vom Wasser her aufsteigend, hüllten sie barmherzig ein, als sie am jenseitigen Ufer verschwand. Das reißende Wasser und die hoch aufgeschichteten Eismassen bildeten eine unüberwindliche Schranke für ihre Verfolger. Langsam und bitter enttäuscht begab sich Haley daher zu dem kleinen Gasthaus zurück, um darüber nachzusinnen, was nun zu tun sei. Die Wirtin ließ ihn in ihr kleines Wohnzimmer eintreten, das mit einem bescheidenen Teppich, mit einem Tisch, bedeckt mit einem glänzenden, schwarzen Wachstuch, mehreren hochlehnigen, unbequemen Stühlen, einigen grell bemalten Gipsbüsten auf dem Kaminsims und einem mißmutig schwelenden Feuer sehr dürftig ausgestattet war. Neben dem Kamin ließ sich Haley auf einer langen harten Holzbank nieder, um über die Vergänglichkeit menschlicher Hoffnungen und menschlichen Glückes im allgemeinen nachzudenken.

»Warum war ich nur so versessen auf den kleinen Affen, daß ich mich derartig betrügen ließ?« sprach er zu sich selber und ließ zur eigenen Erleichterung eine Reihe von Flüchen und Verwünschungen folgen, die wir wohl wahrheitsgemäß wiederholen könnten, aber aus Gründen des guten Geschmacks lieber verschweigen wollen.

Da riß ihn die laute und mißtönende Stimme eines Mannes, der anscheinend vor der Haustür vom Pferde stieg, aus diesen Betrachtungen. Er stürzte eilig ans Fenster.

»Beim Leibhaftigen! Dies wäre ja beinah so etwas wie Vorsehung«, sprach Haley, »wenn das nicht Tom Locker ist.«

Haley eilte hinaus. Vor der Theke in der Ecke des Zimmers stand ein gelbbrauner muskulöser Mann von sechs Fuß Länge und beträchtlicher Breite. Er trug einen Rock aus Büffelhaut, die Fellseite nach außen, was ihm ein zottiges und wildes Aussehen gab und ganz zu seinem Wesen zu passen schien. Sein Gesicht trug den Stempel äußerster Roheit. Stellt man sich eine Bulldogge vor, die plötzlich in menschlicher Gestalt, bekleidet mit Rock und Hut, ins Zimmer stürzt, gewinnt man den besten Eindruck seiner Erscheinung. Ein Reisegefährte, in vieler Hinsicht sein genaues Gegenteil, begleitete ihn. Er war klein und schmal, von behenden katzenartigen Bewegungen, mit einem lauernden Mäuseblick in seinen aufmerksamen schwarzen Augen, wozu jeder Gesichtszug im Einklang stand: seine dünne lange Nase schien mit Vergnügen in allen Geschäften herumzuschnüffeln, sein glattes, spärliches schwarzes Haar sträubte sich über der Stirn. Er machte den Eindruck verschlagener, nüchterner Berechnung. Der große starke Mann schenkte sich ein Glas Branntwein ein und kippte es schweigend hinunter.

Das kleine Männchen stand auf den Zehenspitzen und schnüffelte aufmerksam an jeder Flasche, ehe es sich mit großer Wichtigkeit in seiner dünnen Fistelstimme einen Peppermint bestellte. Er nahm dann das eingeschenkte Glas, betrachtete es mit schlauer Kennermiene wie ein Mann, der den Nagel auf den Kopf getroffen, um es dann in kleinen genießerischen Schlückchen auszutrinken.

»Ja, so ein Glück hätte ich mir nicht träumen lassen, Locker, wie geht's?« sprach Haley, seine Hand ausstreckend.

»Zum Teufel«, war die höfliche Antwort, »was bringt dich hierher?«

Das Mäusegesicht, Marks mit Namen, stellte sofort sein Glas hin, um mit vorgestrecktem Kopf neugierig den Neuankömmling zu mustern, wie eine Katze, die zuweilen ein raschelndes welkes Blatt belauert.

»Hör, Tom, das nenne ich Glück. Ich bin in einer verteufelten Patsche, du mußt mir wieder auf die Beine helfen.«

»Ho, ho! Sieht dir ähnlich!« grunzte der liebenswürdige Bekannte. »Das hat immer seinen Grund, wenn du dich freust, jemand wiederzusehen. Wo hat's denn eingeschlagen?«

»Du hast wohl einen Freund mitgebracht?« fragte Haley und blickte zweifelnd auf Marks, »wahrscheinlich ein Kollege?«

»Ganz recht. Hier, Marks, das ist der Bursche, mit dem ich in Natchez zusammen arbeitete.«

»Freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen«, sagte Marks und streckte dem anderen seine Hand, dünn und lang wie die Klaue eines Raubvogels, entgegen. »Mr. Haley, wenn ich nicht irre?«

»Ganz meinerseits«, antwortete Haley. »Und jetzt, meine Herren, werde ich Sie freihalten, das Zusammentreffen müssen wir feiern. He, alter Gauner«, sagte er zu dem Mann hinter der Theke, »bring heißes Wasser, Zucker und Zigarren und nicht zu knapp vom richtigen Stoff, das soll eine Runde werden.«

Darauf wurden die Kerzen angezündet, das Feuer frisch entfacht und der Tisch mit allem gedeckt, womit die drei biederen Gesellen sich gütlich tun konnten.

Haley begann dann die rührende Geschichte seiner Nöte zu erzählen; Locker hörte ihm schweigend, mit verdrossener Aufmerksamkeit zu, während sich Marks umständlich und sorgfältig ein Glas Punsch nach eigenem Geschmack braute, um zuweilen von seiner Beschäftigung aufzublicken und seine spitze Nase Haley beinah ins Gesicht zu bohren. Er ließ sich keine Einzelheiten entgehen. Das Ende der Geschichte schien ihn besonders zu amüsieren. Ein lautloses Lachen krümmte seinen schmächtigen Körper, und seine dünnen Lippen spitzten sich wollüstig.

»Da hat man Euch nicht schlecht geprellt! Hi, hi, hi, saubere Arbeit«, sagte er.

»Diese junge Brut kann einem das ganze Geschäft verleiden«, sagte Haley ganz kläglich.

Er hatte dem Getränk des Abends sehr freigebig zugesprochen und fühlte allmählich eine angenehme Milderung seiner moralischen Ansichten, eine Erscheinung, die unter den gleichen Umständen auch Männern von ernster und nachdenklicher Veranlagung widerfährt.

»Ich gebe es ja zu«, fing Haley wieder an und lehnte sich in seinem Stuhl zurück — wobei er die Arme reckte, »daß ich meinen Handel nur wegen des Geldes geführt habe. Geld war mir das Wichtigste wie jedem anderen auch. Aber lassen wir mal das Geschäft und Geld und alles übrige beiseite — schließlich haben wir auch eine Seele. Es kann nicht jeder hören — verfluchte Pest noch mal -, ich will einmal damit herausrücken. Ich glaube nämlich an die Religion, und eines Tages, wenn ich alles hübsch in Ordnung habe, werde ich mich meiner Seele und diesen höheren Dingen zuwenden. Warum mehr sündigen als unbedingt nötig? Das wäre ja verdammt unklug.«

»Deiner Seele zuwenden«, wiederholte Tom verächtlich. »Da kann man lange suchen, bis man bei dir eine Seele findet. Wenn der Teufel dich durch ein Haarsieb streicht, er wird keine finden.«

»Ach, Tom, sei doch nicht ausfällig«, sagte Haley. »Warum nimmst du es übel, wenn man dir gut zuredet?«

»Hör auf mit dem Geplärr, Mensch«, erwiderte Tom barsch, »ich kann dein Geschwätz so schon nicht vertragen, aber deine Fröm–migkeitstiraden bringen mich um; schließlich, was ist denn der ganze Unterschied zwischen uns beiden? Du hast nicht die Spur mehr Gefühl oder Nachsicht als ich. Es ist eine glatte, niederträchtige Gemeinheit, erst schlecht zu sein und dann den Teufel um die Zeche zu prellen. Dich durchschaut man leicht. Das ganze Getue mit der Religion, was ist es anders, als daß du beim Teufel Schulden hast und dich um das Bezahlen drücken willst. Pfui!«

»Meine Herren, meine Herren, vergessen wir nicht das Geschäft«, rief Marks. »Jedes Ding hat zwei Seiten, das müßt ihr zugeben. Mr. Haley ist zweifellos ein netter Mann und hat ein feines Gewissen, und Ihr, Tom, seid eben von anderem Schrot und Korn, von keinem schlechten, aber das Streiten hat keinen Zweck. — Gehen wir ans Geschäft. Also, Mr. Haley, was soll es sein? Wir sollen Euch das Mädchen wieder verschaffen?«

»Das Mädchen geht mich nichts an — das gehört Shelby. Es ist nur der Junge. Ich war ja ein Narr, den kleinen Affen zu kaufen.«

»Du bist meist ein Narr«, sagte Tom grob.

»Na, Locker, jetzt keine Komplimente«, meinte Marks und leckte sich die Lippen. »Seht Ihr nicht, dies kann ein ganz hübsches Geschäft werden; laßt mich die Sache nur schaukeln. Darauf verstehe ich mich. Also dieses Mädchen, Haley, wie ist sie? Wie sieht sie aus?«

»Na, weiß und hübsch — gut gezogen. Ich hätte Shelby 800 bis

1.000 Dollar dafür gegeben und kein schlechtes Geschäft gemacht.«

»Weiß und hübsch — gut gezogen«, wiederholte Marks, seine scharfe Nase spitzte sich vor Unternehmungslust. »Habt Ihr verstanden, Locker, das läßt sich hören. Wir werden sie einfangen; dann bekommt Mr. Haley natürlich den Kleinen, und wir nehmen das Mädchen und verkaufen sie in Orleans. Ist das nicht großartig?«

Tom, dessen großer, plumper Mund während dieser Erklärung offen gestanden hatte, ließ ihn jetzt plötzlich zufallen wie ein großer Hund, der nach einem Stück Fleisch schnappt, und schien nun den Vorschlag in Muße zu verdauen.

»Seht Ihr«, sagte Marks zu Haley, »wir haben überall an der Küste Friedensrichter, die sich ganz verständig auf solch kleine Geschäfte einlassen. Tom besorgt die grobe Arbeit, die Schlägerei usw. Und ich komme dann im Galaanzug mit blankgewichsten Stiefeln — alles erstklassig — wenn es an das Schwören geht. Ihr solltet mich mal sehen«, prahlte Marks, glühend vor Künstlerstolz, »wie ich da auftrete. Einmal bin ich Mr. Trikken aus New Orleans, das nächstemal bin ich gerade von meiner Plantage am Pearl River gekommen, wo ich 700 Nigger beschäftigte, dann wieder entpuppte ich mich als ein entfernter Verwandter von Henry Clay oder einem anderen alten Gauner in Kentucky. Die Gaben sind verschieden, wißt Ihr. Tom ist ein Satan, wenn es ans Raufen und Schlagen geht, aber lügen kann er nicht. Ihr müßt verstehen, es ist ihm nicht gegeben. Aber wenn es noch einen im Lande gibt, der auf alles und jedes einen falschen Eid leistet und alle Umstände und Kniffe ebenso geschickt mit ernstem Gesicht vorträgt wie ich, den Kerl möchte ich sehen, das ist alles, was ich sagen kann. Ich bin überzeugt, ich könnte mich stets und überall durchschwindeln, selbst wenn die Friedensrichter noch schärfer wären. Manchmal wünschte ich fast — es wäre dann aufregender, macht mehr Spaß -, wissen Sie.«

Tom Locker — den wir als einen Mann von langsamer Denkungsart kennenlernten — unterbrach an dieser Stelle seinen Gefährten, indem er mit schwerer Faust auf den Tisch schlug, so daß alles Geschirr zu tanzen begann, »ich mache mit«, schrie er.

»O Gott, Tom, es brauchen nicht alle Gläser kaputtzugehen«, sagte Marks, »schont Eure Fäuste für Zeiten der Not.« »Aber meine Herren, wo bleibt denn mein Anteil?« fragte Haley.

»Ist es nicht genug, daß wir dir das Kind einfangen? Was willst du noch?«

»Nun«, antwortete Haley, »das Geschäft wirft noch allerhand ab, sagen wir 10 Prozent vom Reingewinn, Ausgaben werden vergütet.«

»Ja«, rief Locker mit einem schrecklichen Fluch und abermals mit schwerer Faust auf den Tisch schlagend. »Dich sollte ich kennen, Dan Haley, auf deinen Leim gehe ich nicht. Denkst du, Marks und ich haben uns auf den Sklavenfang gelegt, nur um solchen Herren wie dir gefällig zu sein und selber in den Mond zu gucken? Da bist du schief gewickelt. Finger weg von dem Mädchen, die behalten wir, und du hältst dein Maul, oder wir nehmen beide. Wer will uns daran hindern? Hast du uns nicht das Wild gezeigt? Das ist frei, für dich oder für uns, verstehst du? Wenn du und Shelby uns jagen wollt, dann erkundige dich, wo im vorigen Jahr die Rebhühner waren, wenn du die oder uns findest, soll es mir recht sein.«

»Nun gut, dann lassen wir es dabei«, sagte Haley unsicher. »Fangt ihr mir also den Jungen, du hast ja immer Wort gehalten, Tom, wenn wir gemeinsame Sache machten.«

»Allerdings«, entgegnete Tom. »Ich pfeife auf deine Frömmelei, aber ich betrüge nicht, auch nicht den Teufel. Was ich sage, das tue ich und damit basta, Dan Haley.«

»Ganz recht, ganz recht«, beruhigte ihn Haley, »versprich mir nur, den Jungen binnen acht Tagen an irgendeiner Stelle abzuliefern. Mehr will ich nicht.«

»Aber ich will noch ein bißchen mehr«, sagte Tom. »Denkst du, ich habe umsonst mit dir gearbeitet in Natchez, Haley? Hat man einen Aal gefangen, soll man ihn festhalten. Du mußt 50 Dollar rausrücken, hier auf den Tisch, oder ich rühre keine Hand in dieser Sache. Ich kenne Dich.«

»Was? Du übernimmst ein Geschäft mit einem Reingewinn von

1.000 oder 1.600 Dollar und stellst noch Forderungen? Du bist nicht ganz bei Trost, Tom.«

»Ja, und die Geschäfte für fünf Wochen, die wir deswegen im Stich lassen. Was ist mit denen? Wenn wir sie liegenlassen und nach deinem Kleinen suchen und schließlich das Mädchen doch nicht finden — Mädchen sind verteufelt schwer zu fangen -, was dann? Würdest du uns einen Cent geben? Du würdest dich hüten, ha, ha. Nein, raus mit den 50 Dollar. Geht das Geschäft klar, kriegst du sie wieder, geht es schief, sind unsere Unkosten gedeckt. Ist das richtig, Marks?«

»Gewiß, gewiß«, bestätigte Marks in verbindlichem Ton. »Es ist nur eine Rücklage, wißt Ihr. Hi, hi, hi, wir Juristen! Darum keine Feindschaft! Tom bringt Euch den Jungen, einerlei wohin, nicht wahr, Tom?«

»Wenn ich den Bengel kriege, bringe ich ihn nach Cincinnati und lasse ihn bei Granny Bencher an der Landungsbrücke«, sagte Locker.

»Aber jetzt zu den Einzelheiten, Mr. Haley«, sagte Marks, »Sie haben gesehen, daß das Mädchen das andere Ufer erreichte?«

»Na klar! Mit eigenen Augen!«

»Und ein Mann half ihr herauf?« fragte Locker.

»Ganz recht!«

»Wahrscheinlich hat man sie irgendwo zur Nacht behalten«, überlegte Marks. »Nur wo? Tom, was meint Ihr?«

»Wir müssen heute nacht noch über den Fluß!«

»Aber es fährt kein Boot«, sagte Marks, »der Fluß hat schrecklichen Eisgang. Es ist bestimmt sehr gefährlich.«

»Davon verstehe ich nichts. Ich weiß nur, daß wir müssen«, sagte Tom mit Entschiedenheit.

»Großer Gott«, Marks zeigte sichtbare Unruhe, »das wird ja — hört mal«, er trat zum Fenster. »Es ist so finster wie in einem Wolfsrachen, außerdem, Tom…«

»Der langen Rede kurzer Sinn: du bist bange, Marks. Da kann ich dir nicht helfen. Das Geschäft geht vor. Bedenke, wenn wir ein–zwei Tage verstreichen lassen, hat man das Mädchen längst nach Sandusky oder sonstwohin geschmuggelt, ehe wir überhaupt anfangen.«

»Ich bin keineswegs bange«, sagte Marks. »Es ist nur.«

»Was nur?«

»Nur wegen des Bootes. Wenn keines fährt…«

»Ich hörte, wie die Frau sagte, heute abend wollte noch ein Mann übersetzen. Koste es, was es wolle, da müssen wir mit«, sagte Tom.

Er stand auf und erkundigte sich in der Bar und kam dann zurück. »Also, sie sagen, der Mann sei da mit dem Boot. Also, Marks.«

Dieser Ehrenmann warf noch einen Blick des Bedauerns auf das behagliche Quartier, das er verlassen sollte, machte aber doch Anstalten, sich gehorsam zu erheben. Nachdem die letzten Worte der Vereinbarung gewechselt waren, überreichte Haley widerstrebend den beiden eine 50–Dollar–Note, worauf das würdige Kleeblatt voneinander Abschied nahm.

Während dieser Szene im Gasthaus befanden sich Sam und Andy auf dem Heimweg, sie waren höchst vergnügt.

Sam war völlig aus dem Häuschen und suchte durch möglichst wilde Ausrufe und plötzliches Gebrüll, durch tolle Verrenkungen seines ganzen Körpers seiner unbändigen Freude Ausdruck zu geben. So setzte er sich zum Beispiel rückwärts auf sein Pferd, das Gesicht dem Schwanze zugekehrt, um alsbald unter lautem Gejohle mit einem Purzelbaum wieder in die richtige Stellung zu gelangen und sogleich mit ernstestem Gesicht Andy wegen Gelächter und Albernheit eine Strafpredigt zu halten. Dann wieder stemmte er die Arme in die Seiten und brach in schallendes Gelächter aus, das in den alten Wäldern widerhallte. Trotz aller dieser Hanswurstereien brachte er es fertig, die Pferde im höchsten Galopp zu halten, so daß bereits zwischen 10 und 11 Uhr abends der Kies vor dem Balkon von ihren Hufen knirschte. Mrs. Shelby kam sogleich ans Geländer gestürzt.

»Bist du das, Sam? Wo sind sie denn?«

»Mr. Haley ruht sich im Gasthaus aus. Er war schrecklich müde, gnädige Frau.«

»Und Eliza, Sam?«

»Die ist glatt über den Jordan. Im gelobten Lande sozusagen.«

»Was soll das heißen, Sam?« fragte Mrs. Shelby ganz außer Atem mit stockendem Herzschlag bei der Möglichkeit, die diese Worte öffneten.

»Ach, gnädige Frau, der Herr beschützt die Seinen. Lizzy ist sicher über den Fluß nach Ohio, es war so wunderbar, als wenn der Herr sie im feurigen Wagen mit zwei Rössern hinübergeholt hätte.«

Sams Frömmigkeit schlug in der Gegenwart seiner Herrin immer hohe Wellen. Seiner Rede waren dann biblische Sprüche und Bilder freigebig beigemischt.

»Komm herauf, Sam«, rief Mr. Shelby, der jetzt auch auf den Balkon getreten war, »und berichte deiner Herrin alles Wissenswerte. Komm, komm, Emily«, sagte er, sie mit einem Arm umschlingend, »du bist ganz kalt und zitterst, du darfst dich nicht so aufregen.«

»Aufregen? Bin ich nicht eine Frau, eine Mutter? Sind wir nicht beide Gott für dieses Mädchen verantwortlich? Lieber Gott, lege uns nicht diese Sünde zur Last!«

»Welche Sünde, Emily? Du hast doch selber zugegeben, daß wir nicht anders handeln konnten.«

»Dennoch bleibt das nagende Gefühl der Schuld«, sagte Mrs. Shelby. »Das läßt sich nicht mit Vernunftgründen vertreiben.«

»Hier, Andy, du Nigger, schlaf nicht ein«, rief Sam unter der Veranda. »Führ die Pferde in den Stall. Hörst du nicht, daß der gnädige Herr mich gerufen hat?«

Und Sam erschien alsbald mit seinem Palmblatthut in der Hand in der Wohnzimmertür.

»Nun, Sam, erzähle mal genau, was sich zugetragen hat«, sagte Mr. Shelby. »Weißt du, wo Eliza ist?«

»Aber ja, Herr, ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie über die Eisschollen sprang. Es war einfach wunderbar. Es war ein Wunder, das war es. Und ich sah, wie ein Mann ihr drüben auf der Ohioseite an Land half, dann war sie in der Dunkelheit verschwunden.«

»Sam, dies Wunder kommt mir etwas merkwürdig vor. Über treibende Eisschollen zu springen ist keine Kleinigkeit«, sagte Mr. Shel–by.

»Eine Kleinigkeit? O Gott bewahre! Ohne den Herrgott wäre es nicht gegangen. Hört nur, wie es zuging! Mr. Haley und Andy und ich kommen an das kleine Gasthaus am Fluß, und ich reite ein Stück voraus (Ich brannte wahrscheinlich darauf, Lizzy zu fangen–deshalb), und am Gasthausfenster, da stand sie doch wahrhaftig, in Lebensgröße, und die anderen mir auf den Fersen. Na, ich meinen Hut verloren und losgeschrien, als ob ich Tote auferstehen lassen wollte. Lizzy hat mich natürlich gehört und zuckte zurück, als Mr. Haley an der Tür vorbeibraust, und dann stürzt sie aus der Seitentür hinunter zum Fluß. Mr. Haley sieht sie, brüllt los und er und ich und Andy hinterher. Sie kommt zum Fluß, da fließt das offene Wasser, zehn Fuß breit, und dahinter türmen sich die Eisschollen und schwanken und schaukeln wie eine große Insel. Wir kommen dicht hinterher, und bei meiner Seele, ich dachte, jetzt hat er sie. Da schreit sie los, wie ich es noch nie gehört habe, und ist auf einmal auf der anderen Seite der Strömung auf dem Eis, und von da ging es weiter, sie schrie und sprang. Das Eis krachte, plumps und platsch und plauds, und sie sprang wie eine Geiß. Es war nicht von Pappe. Der Himmel ist mein Zeuge.«

Mrs. Shelby hörte atemlos zu. Sie war bleich vor Erregung.

»Gott sei Lob, sie lebt«, sagte sie. »Aber wo ist das arme Kind jetzt?«

»Der Herr wird sie begleiten«, sprach Sam und verdrehte fromm die Augen. »Wie ich schon sagte, das war die Vorsehung. Ihr habt es uns gelehrt. Der Herrgott hat immer ein Werkzeug zur Hand. Wenn ich heute nicht gewesen wäre, hätte man sie längst gefangen. War ich es nicht, der die Pferde aufscheuchte und sie nicht vor dem Mittagessen wieder einfing? Habe ich nicht Mr. Haley heute abend in die Irre geführt? Sonst hätte er Lizzy eingefangen, so leicht wie der Hund den Bären. Das nenne ich alles Vorsehung.«

»Mit dieser Vorsehung, bitte ich mir aus, recht vorsichtig umzugehen, mein Junge. Solche Freiheiten gegen meine Gäste darf sich keiner herausnehmen«, sagte Mr. Shelby strengen Tones, soweit ihm die Strenge zu Gebote stand.

Aber bei einem Neger ist es nicht anders als bei einem Kind. Man kann ihm nicht weismachen, man sei böse, wenn man es gar nicht ist. Instinktiv durchschauen sie alle Verstellungen. Daher nahm sich Sam den Vorwurf in keiner Weise zu Herzen, wenn er auch eine Armesündermiene aufsetzte und seine Mundwinkel sich bedenklich senkten.

»Der gnädige Herr hat recht, sehr recht. Es war garstig von mir, das läßt sich nicht bestreiten. Der gnädige Herr und die gnädige Frau dürfen solche Dinge nicht erlauben; ich sehe es ja ein. Aber so ein armer Nigger ist manchmal versucht auszuschlagen, wenn so einer wie Mr. Haley solche Töne anschlägt. Er ist gewiß kein feiner Mann. Bei meiner Erziehung erkenne ich das sofort.«

»Na, Sam«, sagte Mrs. Shelby, »dann scheinst du dein Vergehen ja einzusehen. Nun geh, und sage Tante Chloe, sie möchte dir etwas von dem kalten Schinken geben, der vom Abendessen übrigblieb, dir und Andy. Ihr müßt ja Hunger haben.«

»Die gnädige Frau ist gütig«, sagte Sam, sich eilfertig verbeugend.

Zweifellos besaß Sam — wie wir schon früher darlegten — ein angeborenes Talent, das ihm in einer politischen Laufbahn zu großem Ansehen verhelfen würde, aus allen Ereignissen etwas herauszuschlagen, nämlich alles zu seinem eigenen Ruhm auszuwerten. Nachdem er seine Frömmigkeit und Bescheidenheit zur allgemeinen Zufriedenheit in der Wohnstube hatte spielen lassen, stülpte er sich jetzt elegant und großspurig seinen Palmenblatthut auf den Kopf und begab sich in das untere Stockwerk, um dort eine recht flotte Rolle zu spielen.

»Ich werde es den Niggers einmal zeigen«, sprach Sam zu sich selber. »Die Gelegenheit kommt nicht wieder. Staunen sollen sie!«

Wir müssen hier einflechten, daß es immer zu Sams besonderen Vergnügen gehört hatte, seinen Herrn auf alle möglichen politischen Versammlungen zu begleiten, wo er, auf einem Eisengitter balancierend oder auf einem Baum versteckt, den Rednern hingerissen zuzuhören pflegte. Wenn er dann unter seinen zahlreichen Brüdern der eigenen Hautfarbe, die sich alle zum selben Zweck eingefunden hatten, auftauchte, pflegte er sie mit den komischen Sprüngen und Nachahmungen, die er alle mit todernstem Gesicht und feierlichster Miene zum besten gab, auf das Ausgiebigste zu erheitern. Die meisten seiner Zuhörer waren Schwarze, aber zuweilen geschah es, daß sich auch hellhäutige Zuschauer einfanden, die zuhörten, lachten und Beifall klatschten, was Sam mit riesiger Genugtuung erfüllte. Tatsächlich betrachtete Sam sich zum Redner geboren und ließ sich keine Gelegenheit entgehen, mit seinen Gaben zu prunken.

Nun hatte zwischen Sam und Tante Chloe seit uralten Zeiten immer eine Feindschaft bestanden oder, besser, eine betonte Kühle; aber da Sam eine Unterlage aus der Speisekammer für den nötigsten Grundstein seines Vorhabens ansah, beschloß er, in seiner gegenwärtigen Lage besonders liebenswürdig zu sein. Denn er wußte genau, >Befehle der gnädigen Frau< wurden zwar buchstabengetreu ausgeführt, aber besser war es, sie wurden darüber hinaus ihrem Sinn nach treulich befolgt. Deshalb erschien er vor Tante Chloe mit einem rührend unterwürfigen und ergebenen Gesicht, wie einer, der zugunsten eines verfolgten Kameraden unsägliche Mühsal auf sich genommen hat — vergrößert durch den Umstand, daß die gnädige Frau ihn geschickt hatte, sein gestörtes Gleichgewicht bei Tante Chloe durch Speis und Trank wieder herstellen zu lassen. So erkannte er widerspruchslos ihre Rechte und Überlegenheit im Küchenreich und über alle Dinge an, die dort zu holen waren.

Die Sache machte sich wie geschmiert. Kein armer, schlichter und tugendhafter Staatsbürger fiel leichter auf die Schliche eines um Wahlstimmen werbenden Politikers herein als Tante Chloe auf Meister Sams wortreiche Schmeichelei. Und wäre er der verlorene Sohn in Person gewesen, keine mütterliche Güte hätte größer sein können als die ihre. Da saß er also, glücklich und stolz, und vor ihm dampfte in einer großen Eisenpfanne die Speisenfolge von mindestens drei Tagen. Leckere Stücke Schinken, goldgelbe Brocken Maiskuchen, Überbleibsel sämtlicher Pasteten, Geflügelkuchen, Hälse und Beine, das alles war malerisch und bunt durcheinandergemengt, und Sam war König dieser Pfanne. Den Hut keck auf die Seite geschoben, saß er auf seinem Stuhl, schmauste und zeigte gegen Andy eine würdevolle Herablassung. Die Küche war bevölkert mit dunkelhäutigen Insassen der verschiedenen Hütten, die alle herbeigekommen waren, das Ende der Tagesereignisse mit–anzuhören. Sams große Stunde war gekommen. Die Geschichte des Tages wurde wiederholt und mit allem möglichen Schmuck, der ihre Wirkung erhöhen könnte, ausgestattet, aufgebügelt und frisch lackiert. Denn Sam ließ keine Gelegenheit verstreichen, eine Geschichte in vollem Glanz aufleuchten zu lassen. Stürmisches Gelächter unterbrach seine Erzählung und wurde von dem kleinen Gemüse eifrig aufgenommen und zurückgegeben, das sich in allen Ecken auf dem Boden herumkugelte. Auf der Höhe des allgemeinen Beifalls und Gelächters bewahrte Sam aber stets einen unverbrüchlichen Ernst; nur zuweilen verdrehte er die Augen und warf seinen Zuhörern anzügliche Blicke zu, ohne im geringsten den salbungsvollen Ton seiner Rede zu ändern.

»Ihr seht also, liebe Mitbürger«, sprach Sam, energisch die Keule eines Truthahns schwingend, »was ich für euch getan habe, zu eurer Verteidigung — ja für euch alle. Denn wer sich an einem von uns vergreift, vergreift sich an allen, ihr seht, das Prinzip ist dasselbe, und darauf kommt es an. Und wenn einer hier herumschnüffelt, der einen von uns fangen will, der kriegt es mit mir zu tun. Der hat mit mir zu rechnen. Ich bin der Mann, zu mir müßt ihr kommen, Brüder. Ich will eure Rechte verteidigen, bis zum letzten Blutstropfen.«

»Aber Sam, heute morgen noch wolltest du dem gnädigen Herrn helfen, Lizzy wieder einzufangen, es scheint mir nicht ganz richtig, wie das übereinstimmen soll. Erkläre mir den Widerspruch.«

»Andy, hör zu«, sagte Sam, »red nicht, wovon du nichts verstehst. Jungens wie du, Andy, meinen es gut. Aber von den großen Grundsätzen der Philosophie hast du keinen blassen Schimmer.«

Andy schlug zerknirscht die Augen nieder. Das schwierige Wort >Philosophie< hatte die Lage geklärt. Die jüngeren Zuhörer blickten bewundernd auf Sam, der nun fortfuhr:

»Es handelt sich um mein Gewissen, Andy. Als ich Lizzy zurückholen wollte, dachte ich, der gnädige Herr verlange es. Als ich merkte, die gnädige Frau wollte das Gegenteil, da war es mein besseres Gewissen — man kommt immer besser weg, wenn man sich auf ihre Seite schlägt -, da siehst du, daß ich immer getreu war, nach jeder Seite, und meinem Gewissen folgte und den Grundsätzen gehorchte. Ja, den Grundsätzen«, sagte Sam, einen Hühnerhals begeistert beiseite schiebend, »wozu Grundsätze, wenn wir ihnen nicht treu sind? Da, Andy, knabbere den Knochen ab, es ist noch eine Menge dran.«

Sams Zuhörerschaft sperrte staunend den Mund auf. Schon deshalb mußte er fortfahren:

»Die Sache mit der Treue, Mitbürger«, sagte Sam mit einem Ausdruck, als begebe er sich jetzt in ein dichtes Gebüsch. »Die Treue ist eine Sache, die die wenigsten verstehen. Seht ihr, wenn einer heute die eine Sache und morgen die andere vertritt, dann erkennen die Leute darin keine Treue — gib mir das Stück Maiskuchen, Andy. Aber betrachten wir es einmal genauer. Ich hoffe, meine Damen und Herren, sie erlauben mir einen billigen Vergleich. Hier, ich will auf den Heuhaufen hinauf. Da lege ich meine Leiter auf der einen Seite an. Das geht aber nicht. Da bestehe ich natürlich nicht darauf, sondern setze meine Leiter auf die entgegengesetzte Seite, bin ich dann nicht treu? Ich beharre dabei, daß ich hinauf will, ganz gleich, von welcher Seite aus, versteht ihr das alle?«

»Gott weiß, sonst warst du nie beharrlich«, murmelte Tante Chloe, die langsam müde wurde. Die Heiterkeit des Abends erschien ihr, wie die Heilige Schrift es nennt, >wie Essig auf Schwefel<.

»Ja, in der Tat«, rief Sam und stand auf, um seine Rede effektvoll zu schließen, er war bis obenhin satt von Ruhm und Pfannenschmaus. »Ja, Mitbürger und alle Vertreter des schönen Geschlechtes, ich habe Grundsätze. Ich bin stolz darauf. Sie sind ein Zeichen unserer Zeit. Aller Zeiten. Ich habe Grundsätze, und ich hatte sie. Grundsätze sind meine Leidenschaft, es kümmert mich nicht, wenn sie mich bei lebendigem Leib verbrennen. Ich würde freiwillig zum Scheiterhaufen treten und bekennen: ich komme, um meinen letzten Blutstropfen hinzugeben für meine Grundsätze, für mein Vaterland, für das Allgemeinwohl.«

»Na«, sagte Tante Chloe, »der beste Grundsatz wäre jetzt, daß du zu Bett gingst und die anderen nicht bis in den Morgen hinein auf den Beinen hältst. Und ihr Bande verschwindet, sonst knallt's.«

»Nigger, alle miteinander«, sagte Sam, würdevoll seinen Palmblatthut schwingend, »ich entlasse euch mit meinem Segen. Geht zu Bett und seid brav.«

Damit zerstreute sich die Versammlung.

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