Die verräterischen Kräfte, die Eva für kurze Zeit belebten, schwanden jetzt rasch dahin; immer seltener hörte man ihren leichten Schritt auf der Veranda, immer häufiger lag sie auf ihrer kleinen Liegestatt am offenen Fenster, die großen, tiefen Augen auf die steigenden und fallenden Wasser des Sees gerichtet.
Als sie eines Nachmittags dort ruhte, die durchsichtigen Finger kraftlos zwischen den Seiten ihrer halbgeöffneten Bibel — hörte sie mit einmal die Stimme ihrer Mutter in scharfem Ton auf der Veranda.
»Was soll das, du garstiges Ding? Was hast du wieder ausgeheckt? Blumen abgepflückt, wie?« und Eva hörte eine klatschende Ohrfeige.
»Großer Gott, gnädige Frau, sie sind doch für Fräulein Eva«, hörte sie eine andere Stimme, die sie unschwer als diejenige Topsys erkannte.
»Fräulein Eva, schönste Ausrede! Bildest du dir ein, sie will deine Blumen, du nichtsnutziger Nigger! Pack dich weg!«
Im selben Moment war Eva aufgesprungen und erschien in der Veranda.
»Nicht doch, Mutter! Ich hätte die Blumen sehr gern; komm, gib sie her; ich freu mich!«
»Aber Eva! Dein ganzes Zimmer ist doch voll davon!«
»Blumen hab ich nie genug«, sagte Eva. »Komm, Topsy, bring sie mir.«
Topsy, die mit gesenktem Kopf trotzig dagestanden, kam jetzt heran und reichte ihr die Blumen hin. Sie tat es zögernd und verlegen, gar nicht mehr mit der koboldartigen Keckheit, die man sonst an ihr gewöhnt war.
»Welch schöner Strauß!« sagte Eva und betrachtete ihn.
Es war ein ungewöhnliches Arrangement — eine leuchtende, scharlachrote Geranie und eine einzige Kamelie mit ihren glänzenden Blättern, offensichtlich im Hinblick auf den Farbkontrast und die Wirkung jedes einzelnen Blattes zusammengestellt.
Topsys Gesicht verklärte sich, als Eva sagte: »Topsy, du bindest aber hübsche Sträuße. Hier in dieser Vase habe ich noch keine Blumen. Könntest du mir da nicht jeden Tag ein paar bringen?«
»Wie merkwürdig!« sagte Marie. »Wozu in aller Welt willst du das?«
»Ach, laß nur, Mama; du hast doch nichts dagegen, wenn Topsy das übernimmt?«
»Aber gerne, liebes Kind. Topsy, du hast gehört, was deine junge Herrin wünscht; nun besorge es auch!«
Topsy machte einen kurzen Knicks und schlug die Augen nieder; als sie sich umdrehte, sah Eva eine Träne über die dunkle Wange rinnen.
»Siehst du, Mama, ich wußte doch, daß Topsy mir einen Gefallen tun wollte«, sagte Eva zu ihrer Mutter.
»Ach, Unsinn! Sie wollte nur wieder Unheil stiften. Sie weiß, sie darf keine Blumen pflücken — darum tut sie es gerade. Aber wenn du es möchtest, meinetwegen.«
»Mama, ich glaube, Topsy hat sich geändert; sie will jetzt ein braves Mädchen sein.«
»Da muß sie sich noch eine Weile üben, bis ihr das gelingt«, sagte Marie und lachte mitleidlos.
»Nun, du weißt doch, Mama, alles war immer gegen die arme Topsy.«
»Nicht mehr, seitdem sie hier ist, sollt' ich meinen. Man hat ihr zugeredet, gepredigt, ihr alles Erdenkliche angetan, und sie ist immer noch garstig wie am Anfang. Mit diesem Geschöpf kann man nichts anfangen!«
»Aber, Mama, es ist doch ein Unterschied, ob man so wie ich aufwächst mit vielen Freunden und so vielem, was gut und glücklich macht, oder so wie sie aufwuchs, bevor sie zu uns kam.«
»Das mag schon sein«, sagte Marie und gähnte. — »Du liebe Zeit, wie heiß ist es heute!«
»Mama, du glaubst doch auch, daß Topsy ein Engel werden könnte, wenn sie getauft wäre?«
»Topsy? Was für eine lächerliche Vorstellung! Darauf kannst auch nur du verfallen. Doch ist es wohl möglich.«
»Aber Mama, ist nicht der liebe Gott auch ihr Vater, genauso wie unserer? Ist nicht Jesus auch ihr Heiland?« »Nun, das mag sein. Gott hat wahrscheinlich alle geschaffen«, sagte Marie, »wo ist denn mein Riechfläschchen?«
»Es ist ein Jammer — oh, so ein Jammer!« sagte Eva, über den fernen See hinausblickend und halb zu sich selbst sprechend.
»Was ist ein Jammer?« fragte Marie.
»Ach, daß einer, der ein heller Engel werden und mit andern Engeln leben könnte, so tief, tief sinken muß und daß keiner ihm hilft!«
»Nun, das kann man nicht ändern; da mußt du dich nicht grämen, Eva. Ich wüßte nicht, was man da tun sollte; wir müssen dankbar sein, daß wir es besser haben.«
»Das kann ich beinah nicht«, sagte Eva, »wenn ich an die armen Leute denke, denen es so schlecht geht.«
»Wie merkwürdig«, sagte Marie. »Meine Religion heißt mich dankbar sein für alle Vorteile.«
»Mama«, sagte Eva, »ich möchte mir einen Teil meines Haares abschneiden lassen.«
»Wozu?« fragte Marie.
»Ach, ich möchte meinen Freunden eine Locke schenken — solange ich das noch selber kann. Willst du nicht Tantchen bitten, es mir abzuschneiden?«
Marie rief mit erhobener Stimme nach Miß Ophelia im Nebenzimmer. Als sie hereinkam, richtete das Kind sich ein wenig in seinen Kissen auf, schüttelte seine goldbraunen Locken und sagte scherzend: »Komm, Tantchen, schere das Lamm.«
»Was soll das?« fragte St. Clare, der gerade mit etwas Obst dazukam, das er für seine Tochter geholt hatte.
»Papa, ich möchte nur, daß Tantchen mir ein paar Locken abschneidet; sie sind so schwer und heiß. Außerdem möchte ich ein paar verschenken.«
Miß Ophelia kam mit der Schere.
»Aber vorsichtig, man darf es nicht sehen!« sagte der Vater;
»schneide von unten, wo man es nicht merkt. Evas Locken sind mein ganzer Stolz.«
»Oh, Papa!« sagte Eva traurig.
»Ja, und ich möchte, daß sie schön gepflegt werden bis zu der Zeit, wenn ich dich mitnehme auf des Onkels Plantage zu Vetter Henrique«, sagte St. Clare heiteren Tones.
»Da werde ich nie hinkommen, Papa; ich gehe in ein besseres Land. Oh, glaube mir doch! Siehst du denn nicht, daß ich jeden Tag schwächer werde?«
»Warum willst du durchaus, daß ich so etwas Furchtbares glaube?«
»Nur, weil es wahr ist, Papa; wenn du es jetzt glaubst, siehst du es vielleicht so an wie ich.«
St. Clare preßte seine Lippen zusammen und starrte düster auf die langen, schönen Locken, die ihr abgeschnitten einzeln in den Schoß gelegt wurden. Sie hob sie hoch, betrachtete sie ernsthaft, schlängelte sie sich um ihre dünnen Finger und sah von Zeit zu Zeit ängstlich auf den Vater.
»Ich habe es ja vorausgeahnt«, sagte Marie; »das nagt ja Tag für Tag an meiner Gesundheit, obgleich niemand es beachtet. Ich habe es lange kommen sehen. St. Clare, du wirst es nach einer Weile auch einsehen.«
»Das scheint dir großen Trost zu bringen«, sagte St. Clare in trockenem, bitterem Ton. Marie lehnte sich auf ihr Sofa zurück und bedeckte ihr Gesicht mit ihrem feinen Taschentuch.
Eva blickte mit klaren, blauen Augen ernsthaft von einem zum andern. Es war offensichtlich, daß sie den Unterschied zwischen beiden Eltern wohl verstand. Sie winkte ihrem Vater mit der Hand. Er kam und setzte sich zu ihr.
»Papa, meine Kräfte werden weniger, ich weiß, ich muß sterben. Ich möchte noch manches sagen und tun, was ich tun muß, aber du wirst immer ungehalten, wenn ich davon rede. Jetzt muß es sein; es läßt sich nicht länger aufschieben. Laß es mich doch jetzt tun.«
»Mein Kind, ich lasse dich ja«, erwiderte St. Clare, bedeckte seine Augen mit der Hand und hielt Evas Hand mit der anderen.
»Dann möchte ich, daß alle unsere Leute hierherkommen. Ich muß ihnen einiges sagen.«
»Also gut«, sagte St. Clare tief bewegt.
Miß Ophelia schickte einen Boten, und bald war das ganze Personal im Zimmer versammelt.
Eva legte sich in ihre Kissen zurück, ihr Haar hing aufgelöst um ihr Gesicht, ihre geröteten Wangen hoben sich in traurigem Gegensatz von der weißen Blässe ihrer Haut und den zarten Umrissen ihrer Glieder ab; mit großen seelenvollen Augen blickte sie jeden einzelnen an.
Die Leute wurden von einer plötzlichen Bewegung ergriffen. Das vergeistigte Gesichtchen, die langen, abgeschnittenen Locken, die neben ihr lagen, das abgekehrte Gesicht des Vaters, das Schluchzen der Mutter rührte sofort die Herzen dieser gefühlvollen und empfänglichen Rasse.
Eva richtete sich auf und sah, daß alle sie traurig und verständnisvoll anblickten. Viele Frauen verbargen ihr Gesicht.
»Ich habe euch rufen lassen, meine lieben Freunde«, sagte Eva, »weil ich euch liebhabe, alle; und ich möchte euch etwas sagen, was ihr nicht vergessen dürft — ich werde euch verlassen.«
Jetzt wurde das Kind unterbrochen von dem Klagen, Seufzen und Schluchzen aller Anwesenden, in welchem ihre kleine Stimme völlig unterging. Sie wartete einen Augenblick und sprach dann in einem Ton, der alles Schluchzen erstickte:
»Wenn ihr mich liebhabt, müßt ihr mich nicht so unterbrechen. Hört zu, was ich euch sage. Ich will von eurer Seele sprechen. Ich fürchte, viele von euch machen sich da keine Gedanken. Ihr denkt nur an diese Welt. Ich möchte aber, daß ihr auch an die schöne Welt denkt, in der Jesus Christus lebt. Dorthin werde ich gehen, und ihr könnt auch dorthin kommen, es ist ein Reich für euch wie für mich. Aber wenn ihr das wollt, dürft ihr kein faules, leichtsinniges Leben führen. Ihr müßt immer daran denken, daß jeder von euch ein Engel werden kann, ein Engel für immer.
Versucht nur euer Bestes, betet alle Tage, und laßt euch immer aus der Bibel vorlesen, dann werde ich euch alle im Himmel wiedersehen.«
»Amen«, klang es als leise Antwort von den Lippen Toms und Mammys und der Älteren, die der Methodistengemeinde angehörten. Die jüngeren und leichtsinnigeren schluchzten fassungslos, die Köpfe auf die Knie gebeugt.
»Ich weiß ja«, sagte Eva, »ihr habt mich alle lieb.«
»Ja, o ja! Ganz gewiß!« ertönte es von allen Seiten.
»Ja, ich weiß. Es ist keiner unter euch, der nicht zu mir freundlich war, und ich will euch jetzt etwas schenken, wenn ihr das anseht, sollt ihr an mich denken. Ich will jedem von euch eine Haarlocke geben, da habt ihr eine Erinnerung an mich und wißt, daß ich euch später im Himmel wiedersehen möchte.«
Unmöglich, die Szene zu beschreiben, als sich alle weinend um die kleine Gestalt drängten und aus ihrer Hand das letzte Liebeszeichen empfingen. Sie fielen auf die Knie, schluchzten und beteten und küßten den Saum ihres Gewandes; unter Gebet und Segenswünschen stammelten die Älteren nach Art ihrer Rasse zärtliche Koseworte.
Sobald einer seine Gabe entgegengenommen, machte Miß Ophelia ihm ein Zeichen, das Zimmer zu verlassen; ihr war die Wirkung der allgemeinen Erregung auf ihre kleine Patientin nicht entgangen.
Schließlich waren alle bis auf Tom und Mammy verschwunden.
»Hier, Onkel Tom«, sagte Eva, »ist eine besonders schöne für dich. Ach, ich bin so glücklich, Onkel Tom, wenn ich denke, daß ich dich im Himmel wiedersehe; und Mammy, Liebe, Gute!« sagte sie zärtlich, ihre alte Kinderfrau umarmend, »ich weiß, du wirst auch dort sein!«
»Oh, Fräulein Eva, ich weiß nicht, wie ich hier ohne dich weiterleben soll!« sagte die treue Person. »Dann verschwindet hier alles Licht.« Leidenschaftlich gab sich Mammy ihrem Schmerz hin.
Miß Ophelia schob sie und Tom sanft zur Tür hinaus und dachte, daß nun alle gegangen wären; aber als sie sich umwandte, stand noch Topsy da.
»Wo bist du hergekommen?« fragte sie verblüfft.
»Ich war hier«, sagte Topsy und wischte sich die Tränen ab.
»Oh, Fräulein Eva, ich bin ein schlechtes Mädchen; aber darf ich nicht auch eine haben?«
»Ja, arme Topsy! Gewiß! Hier; und jedesmal, wenn du sie ansiehst, denke daran, daß ich dich lieb hatte und gern wollte, daß du dich besserst.«
»Oh, Fräulein Eva, ich versuche es ja!« beteuerte Topsy. »Aber o Gott, es ist so schwer. Ich bin eben gar nicht daran gewöhnt.«
»Das weiß der Herr Jesus auch, Topsy; er hat Mitleid mit dir; er wird dir helfen.«
Das Gesicht hinter der Schürze verborgen, wurde Topsy still von Miß Ophelia hinausgeleitet, noch im Gehen steckte sie die Locke in ihren Kleiderausschnitt.
Als alle draußen waren, schloß Miß Ophelia die Tür. Die würdige Dame hatte während dieser Szene manche heimliche Träne vergossen, aber die Sorge um die kleine Kranke verdrängte alle Rührung.
St. Clare hatte sich die ganze Zeit nicht gerührt. Er saß noch immer auf seinem Stuhl und hielt die Hand vor die Augen.
»Papa!« sagte Eva und legte sanft ihre Hand auf die seine.
Er fuhr jäh zusammen, ein Schauder packte ihn, aber er antwortete nicht. »Lieber Papa!« sagte Eva.
»Ich kann es nicht!« sagte St. Clare und erhob sich. »Ich kann es nicht hinnehmen! Der Allmächtige geht hart mit mir ins Gericht!« In großer Bitterkeit stieß St. Clare diese Worte hervor.
»Augustin! Hat Gott kein Recht, nach seinem Willen mit dem zu verfahren, was ihm gehört?« sagte Miß Ophelia.
»Vielleicht; aber dadurch läßt es sich nicht leichter tragen«, sagte er in einem trockenen, harten, tränenlosen Ton, als er sich abwandte.
»Papa, du brichst mir das Herz!« sagte Eva, richtete sich auf und warf sich in seine Arme; »du mußt nicht so empfinden!« Das Kind schluchzte so heftig, daß alle sich beunruhigten und die Gedanken ihres Vaters sofort abgelenkt wurden.
»Komm, Eva, mein Herzblatt, sei ruhig! Es war verkehrt von mir, ich war im Unrecht. Ich will ja alles tragen — gräm dich doch nicht; hör auf mit Weinen! Ich will mich ja fügen; ich will nie wieder so reden.«
Wie eine verirrte Taube lag sie in den Armen ihres Vaters, und er, über sie geneigt, suchte sie mit jedem Wort, das ihm einfiel, zu trösten und zu beruhigen.
Marie erhob sich und rauschte in ihr eigenes Zimmer, wo sie einen heftigen hysterischen Anfall bekam.
»Mir hast du keine Locke gegeben, Eva«, sagte ihr Vater und lächelte traurig.
»Sie gehören dir alle, Papa«, sagte sie lächelnd - »dir und Mama, und Tantchen mußt du auch welche geben. Nur unseren Leuten hab ich sie selbst gegeben, weißt du, man könnte sie vergessen, wenn ich nicht mehr da bin, und sie sollten doch etwas zur Erinnerung erhalten, du bist doch ein Christ, nicht wahr, Papa?« fragte Eva zögernd.
»Warum fragst du, mein Liebling?«
»Ich weiß nicht. Du bist so gut, du mußt es doch sein!«
»Was heißt das, ein Christ sein, Eva?«
»Christus über alles zu lieben«, antwortete Eva.
»Tust du das?«
»Ja, gewiß.«
»Du hast ihn doch nie gesehen«, sagte St. Clare.
»Das macht nichts«, erwiderte Eva. »Ich glaube an ihn, und in wenigen Tagen werde ich ihn sehen«; und das junge Gesicht erglühte in strahlender Freude.
St. Clare sagte nichts mehr. Er kannte dieses Gefühl noch von seiner Mutter her; aber keine Saite seines Innern erklang dabei.
Eva siechte jetzt schnell dahin. Kein Zweifel konnte mehr an dem Ausgang bestehen. Auch die zärtlichste Hoffnung konnte nicht länger blind bleiben. Ihr schönes Zimmer wurde zur Krankenstube; und Miß Ophelia versah Tag und Nacht ihren Pflegedienst — nie wußten ihre Freunde sie mehr zu schätzen als in dieser Eigenschaft. Mit ihrer erfahrenen Hand, ihrer vollkommenen Übung und Geschicklichkeit, Behagen und Sauberkeit herzustellen, jeden unangenehmen Anblick der Krankheit zu entfernen — mit der absoluten Pünktlichkeit und ihrem klaren, überlegten Denken, womit sie die ärztlichen Vorschriften befolgte -, bedeutete sie ihnen alles. Alle, die über ihre kleinen Sonderheiten und Schrullen, die von der Leichtigkeit südlicher Manieren so merkwürdig abstachen, die Achseln gezuckt hatten, gaben jetzt zu, daß sie die einzige Person war, die hier am richtigen Platze stand.
Onkel Tom hielt sich häufig in Evas Zimmer auf. Das Kind litt an nervöser Unruhe, und es gab ihr eine Erleichterung, wenn man sie umhertrug. Für Tom war es das größte Entzücken, die zarte, kleine Gestalt auf einem Kissen im Zimmer auf und ab oder auf die Veranda hinaus auf den Armen zu tragen.
Wenn das Kind sich am Morgen noch wohl fühlte und der frische Wind vom See herüberwehte, trug er sie zuweilen unter die Orangenbäume im Garten oder saß mit ihr auf den alten Bänken und sang ihr ihre Lieblingschoräle.
Ihr Vater trug sie auch oft, aber er war nicht so kräftig gebaut, und wenn er dann müde wurde, sagte Eva:
»O Papa, laß doch Tom mich tragen. Es macht ihm Spaß, und du weißt doch, es ist alles, was er mir tun kann, und er will mir doch etwas Liebes erweisen.«
»Das will ich auch, Eva«, sagte ihr Vater.
»Ach, Papa, du kannst alles und bist mir alles. Du liest mir vor–du wachst bei mir in der Nacht — und Tom hat nur dies eine und das Singen; und ich weiß, ihm fällt es leicht, wenn er mich trägt.«
Aber nicht nur Tom wollte ihr Liebesdienste erweisen. Jeder Dienstbote war dazu bereit, und jeder tat, was er konnte.
Das Herz der armen Mammy verzehrte sich nach ihrem Liebling. Aber Tag und Nacht fand sie keine Gelegenheit, länger bei ihm zu sein, denn Marie erklärte, ihr Gemütszustand ließe sie nicht zur Ruhe kommen, und natürlich verstieß es gegen ihre Prinzipien, dann den andern Ruhe zu gönnen. Zwanzigmal in der Nacht mußte Mammy kommen und ihr die Füße reiben, ihre Stirn kühlen, ein Taschentuch suchen, nachsehen, was das Geräusch in Evas Zimmer bedeutete, einen Vorhang herablassen, weil es zu hell, oder ihn aufziehen, weil es zu dunkel war; und am Tage, wenn es Mammy trieb, wenigstens ein klein wenig an der Pflege ihres Herzenskindes teilzuhaben, schien Marie ungewöhnlich erfinderisch, sie im ganzen Haus treppauf, treppab zu schicken oder mit ihrer eigenen Person zu beschäftigen, so daß sie nur gelegentlich einen Blick oder eine kleine Begegnung erhaschen konnte.
»Ich halte es für meine Pflicht, jetzt besonders auf mich zu achten«, sagte Marie, »wo ich so schwach bin und dazu die ganze Sorge und Pflege um das geliebte Kind trage.«
»In der Tat, meine Liebe«, entgegnete St. Clare; »ich dächte, das nimmt dir unsere Kusine ab.«
»Du redest wie ein Mann, St. Clare — als ob eine Mutter sich jemals die Sorge um ein Kind in diesem Zustand abnehmen ließe; aber es ist ja gleich — niemand vermag zu ahnen, was ich fühle! Ich kann die Sache nicht so abschütteln wie du.«
St. Clare lächelte. Wir müssen ihm verzeihen, er konnte nicht anders — denn St. Clare vermochte ja noch zu lächeln. Denn so hell und leicht war die Abschiedsreise der jungen Seele, daß man vergaß: es war der Tod, der sich näherte. Das Kind litt keine Schmerzen — empfand nur eine ruhige, sanfte Schwäche, die täglich und fast unmerklich zunahm; und Eva war so schön, liebevoll, vertrauend und glücklich, daß man sich dem tröstlichen Einfluß der Unschuld und des Friedens nicht entziehen konnte, der von ihr auszugehen schien. St. Clare fühlte, wie ihn eine seltsame Ruhe überkam. Es war nicht Hoffnung — das war unmöglich; es war wie die Stille der Natur, die wir in den strahlenden Herbstwäldern verspüren, wenn die helle Röte in den Wipfeln flammt und letzte Blumen noch zögernd an der Quelle verweilen, dann genießen wir alles um so mehr, als wir wissen, daß bald alles vergeht.
Der Freund, der am besten Evas Vorstellungen und Vorahnungen kannte, war Tom, ihr treuer Träger. Ihm teilte sie mit, was sie ihrem Vater ersparen wollte, ihm erzählte sie die geheimnisvollen Offenbarungen, die der Seele widerfahren, bevor sie ihre irdische Hülle verläßt. Schließlich wollte Tom nicht mehr in seinem Stübchen schlafen, sondern lag die ganze Nacht draußen auf der Veranda, bereit, bei jedem Ruf sich zu erheben.
»Onkel Tom, was in aller Welt ist in dich gefahren, daß du dich wie ein Hund zusammenrollst?« sagte Miß Ophelia. »Ich dachte, du gehörst zu denen, die auf christliche Weise zu Bett gehen?«
»Das tu ich auch, Miß Feely«, sagte Tom geheimnisvoll. »Das tue ich, aber jetzt…«
»Nun, was?«
»Wir dürfen nicht laut sprechen; sonst hört uns der gnädige Herr; aber wissen Sie, Miß Feely, einer muß den Bräutigam erwarten.«
»Was meinst du damit, Tom?«
»Sie wissen doch, in der Heiligen Schrift, >um Mitternacht ertönte ein großer Ruf, siehe, der Bräutigam naht!< Darauf warte ich jetzt jede Nacht, Miß Feely — ich muß draußen schlafen, sonst höre ich ihn nicht.«
»Aber, Onkel Tom, wie kommst du darauf?«
»Miß Eva spricht mit mir. Der Herrgott schickt der Seele seine Sendboten. Ich muß zur Stelle sein, Miß Feely; denn, wenn das selige Kind eingeht in das himmlische Reich, werden die Engel die Tore öffnen, daß wir alle einen Blick auf die himmlische Herrlichkeit werfen können, Miß Feely.«
»Onkel Tom, hat Eva gesagt, daß sie sich heute schlecht fühlt?«
»Nein; aber sie meinte heute morgen, daß sie näher kommt — man sagt es dem Kind, Miß Feely. Das sind die Engel. Es ist der Klang der Trompete, bevor der Tag anbricht«, sagte Tom und zitierte seinen Leibchoral.
Dieses Gespräch zwischen Miß Ophelia und Tom fand abends zwischen 10 und 11 Uhr statt, als die treue Pflegerin alle Vorbereitungen für die Nacht getroffen und beim Verriegeln der Außentür Tom auf der Veranda am Boden ausgestreckt gefunden hatte.
Sie war nicht nervös oder leicht zu beeindrucken, aber Toms feierliche, von Herzen kommende Art machte sie stutzig. Eva war am Nachmittag ungewöhnlich lebhaft und heiter gewesen, sie hatte sich im Bett aufgerichtet und alle ihre kleinen Schätze durchgesehen und die Freunde bestimmt, denen sie zugedacht waren; ihr Wesen war angeregter und ihre Stimme von frischerem Klang gewesen als seit Wochen. Ihr Vater hatte am Abend hereingeschaut und gesagt, daß Eva zum erstenmal seit ihrer Krankheit wieder wie früher wäre, und als er ihr den Gutenachtkuß gab, hatte er zu Miß Ophelia gesagt: »Kusine, vielleicht dürfen wir sie doch behalten, es geht ihr viel besser.« Mit leichterem Herzen als seit Wochen war er in sein Zimmer zurückgegangen.
Aber um Mitternacht — seltsame, geheimnisvolle Stunde, wenn sich der Schleier der zerbrechlichen Gegenwart und der ewigen Zukunft leise bewegt -, da kam der Sendbote! Im Zimmer entstand ein Geräusch, wie von schnellen Schritten. Es war Miß Ophelia, die sich entschlossen hatte, die Nacht über bei ihrem kleinen Pflegling zu wachen, und die in dieser Stunde bemerkt hatte, was Pflegerinnen so bezeichnend >eine Veränderung< nennen. Die äußere Tür wurde eilig geöffnet, und Tom, der wach gelegen, war im Nu zur Stelle.
»Lauf nach dem Doktor, Tom! Verliere keinen Moment«, sagte Miß Ophelia; und, das Zimmer durchquerend, klopfte sie an St. Clares Tür.
»Vetter«, sagte sie, »ich möchte dich bitten, komm herüber.«
Wie Erdschollen auf einen Sarg, so fielen diese Worte auf sein Herz. Im selben Augenblick aber stand er auf, trat ins Zimmer und neigte sich über Eva, die noch schlief.
Jedoch zeigten sich auf des Kindes Gesicht keine erschreckenden Spuren — nur ein hoher, fast göttlicher Ausdruck — die ahnende Gegenwart himmlischer Geister, der Anbruch unsterblichen Lebens in der kindlichen Seele.
Sie standen so still und blickten auf sie hinab, daß selbst das Ticken der Uhr zu laut erschien. In wenigen Minuten kehrte Tom mit dem Doktor zurück. Dieser trat ein, blickte kurz hin und verstummte wie die übrigen.
»Wann trat diese Veränderung ein?« fragte St. Clare jetzt im Flüsterton Miß Ophelia.
»Um Mitternacht«, war die Antwort.
Marie, aufgeweckt durch das Eintreten des Doktors, erschien eilig aus dem Nebenzimmer.
»Augustin! Kusine! — Was?« - stieß sie aufgeregt hervor.
»Pst!« sagte St. Clare heiser; »sie stirbt!«
Mammy hatte die Worte gehört und eilte davon, um die Leute zu wecken. Das ganze Haus erwachte, Lichter flammten auf, Schritte ertönten, ängstliche Gestalten erschienen auf der Veranda, umringten weinend die Glastür; aber St. Clare sah und hörte nichts von alledem. Er sah nur das Zeichen auf dem Gesicht der kleinen Schläferin.
»Ach, wenn sie doch erwachte und noch ein Wort sprechen wollte!« sagte er, und sich über sie neigend, hauchte er in ihr Ohr -»Eva, Liebling!«
Die großen blauen Augen öffneten sich — ein Lächeln huschte über das Gesicht; sie versuchte, den Kopf zu heben und zu sprechen.
»Lieber Papa«, sagte das Kind mit letzter Anstrengung und wollte die Arme um seinen Hals schlingen. Aber im selben Moment fielen sie zurück; und als St. Clare den Blick hob, sah er ein Zucken des Todeskampfes über ihr Gesicht gehen — sie rang nach Atem und warf ihre kleinen Hände nach oben.
»O Gott, dies ist furchtbar!« sagte er, wandte sich in Todespein ab, preßte Toms Hand, kaum wissend, was er tat. »O Tom, das bringt mich um!«
Tom hielt beide Hände seines Herrn; und während ihm die Tränen über die dunklen Wangen liefen, blickte er hilfeflehend nach oben.
»Bete, daß er es kurz macht!« sagte St. Clare; »dies preßt mir das Herz zusammen.«
»Oh, Dank sei dem Herrn! Es ist vorbei — es ist vorbei, lieber Herr!« sagte Tom. »Seht sie an!«
Das Kind lag schwer atmend in den Kissen — wie nach großer Erschöpfung -, die großen blauen Augen aufgeschlagen und starr. Ach, was sagten diese Augen, die so sehr vom Himmel sprachen? Die Erde und alle irdischen Schmerzen waren vorüber; aber so feierlich, so geheimnisvoll war der triumphierende Glanz dieses Gesichts, daß selbst die Trauernden ihr Schluchzen erstickten. In atemloser Stille drängten sie näher.
»Eva!« sagte St. Clare sanft.
Sie hörte nicht.
»Oh, Eva, was siehst du? Was ist es?« fragte ihr Vater.
Ein helles, strahlendes Lächeln glitt über ihr Gesicht, und sie sagte, abgerissen - »Ach, Liebe — Freude — Frieden!«, seufzte auf und schied vom Tod ins Leben.