Mr. Haley und Tom zuckelten in ihrem Wagen dahin, beide eine Zeitlang ihren eigenen Gedanken nachhängend.
Haley dachte vor allem an Toms Länge und Breite und Höhe, welchen Preis er wohl erzielen würde, wenn er ihn fett und in gutem Zustand auf den Markt brächte. Er dachte weiter an den Transport, den er zusammenstellen wollte, an den jeweiligen Wert all der Männer, Frauen und Kinder, die ihn bilden sollten, und an ähnliche geschäftliche Dinge. Dann dachte er an sich selber und wie human es war, daß, während andere Händler ihre Nigger an Hand und Fuß fesselten, er Tom nur Fußschellen angelegt und ihm den Gebrauch seiner Hände gelassen hatte, solange er sich gut benahm, und Mr. Haley seufzte bei dem Gedanken, wie undankbar doch die Menschen waren, daß er nicht einmal sicher sein konnte, ob Tom auch seine Wohltat zu würdigen wisse. Er hatte schon manchen Nigger begünstigt, und immer hatten sie ihn betrogen, es blieb ein wahres Wunder, daß er immer noch so gutmütig war.
Was Tom anging, so kreisten seine Gedanken immer wieder um die Worte eines alten Buches, welche lauteten: »Denn wir haben hier keine bleibende Stätte, sondern die zukünftige suchen wir. Darum schämt sich Gott nicht, zu heißen unser Gott, denn er hat uns eine Stätte zubereitet.« Diese Worte aus dem alten Buch, von unwissenden und einfachen Männern geschrieben, haben zu allen Zeiten auf die Gemüter armer, einfacher Menschen so wie Tom eine seltsame Macht ausgeübt. Sie rühren die Seele in ihrer Tiefe auf und erwecken wie mit Trompetenklang Mut und Begeisterung, wo vorher nichts war als nackte Verzweiflung.
Mr. Haley zog aus seiner Tasche einige zerknüllte Zeitungen hervor und vertiefte sich in die Anzeigen. Da er das Lesen nicht gerade fließend beherrschte, war es seine Gewohnheit, jeden Text halblaut vor sich hin zu murmeln, damit seine Ohren ihm bestätigten, was seine Augen lasen. So las er langsam folgenden Wortlaut:
»Nachlaßversteigerung — Negersklaven — Auf gerichtlichen Befehl werden Dienstag, am 20. Februar, vor dem Gerichtsgebäude in Washington — Kentucky, folgende Neger verkauft: Hagar, 60 Jahre; John, 30 Jahre; Ben, 21 Jahre; Saul, 25 Jahre; Albert, 14 Jahre. Verkauft im Interesse der Gläubiger und Erben des Gutes von Jesse Blutchford, Esq.
Samuel Morris, Thomas Flint, Testamentsvollstrecker.«
»Die muß ich mir ansehen«, sagte er zu Tom, aus Mangel an anderen Gesprächspartnern. »Weißt du, ich werde einen erstklassigen Transport zusammenstellen, den nehmen wir mit nach Süden. Dann hast du Gesellschaft, das macht die Sache angenehmer und unterhaltender für dich. Wir fahren stracks nach Washington, da steck' ich dich solange ins Gefängnis, während ich meine Geschäfte erledige.«
Tom nahm diese erfreuliche Nachricht in Demut auf. Er fragte sich nur in seinem schlichten Herzen, wie viele dieser unglücklichen Männer auch Frauen und Kinder hätten und ob sie sich auch so grämten, sie verlassen zu müssen wie er. Auch ließ es sich nicht leugnen, daß den armen Mann die unverblümte Ankündigung, ins Loch gesteckt zu werden, keineswegs beglückte. Er hatte sich immer etwas eingebildet auf seinen ehrlichen und rechtschaffenen Lebenswandel. Ja, es ist nicht zu verheimlichen, Tom war stolz auf seine Ehrlichkeit — der arme Kerl, worauf sollte er sonst stolz sein? Der Tag verstrich, und der Abend sah beide wohlbehalten in Washington untergebracht, den einen im Gasthaus, den anderen im Gefängnis.
Am nächsten Tage, gegen elf Uhr vormittags, versammelte sich eine bunte Gesellschaft vor den Stufen des Gerichtsgebäudes, rauchend, Tabak kauend, fluchend und schwatzend, entsprechend dem jeweiligen Geschmack — warteten sie alle zusammen auf den Beginn der Versteigerung. Die Männer und Frauen, die zum Verkauf bestimmt waren, saßen in einer Gruppe für sich und unterhielten sich leise. Die Frau, die man unter dem Namen Hagar angezeigt hatte, war nach Gestalt und Antlitz eine echte Afrikanerin, sie mochte sechzig Jahre sein, aber harte Arbeit und Krankheit ließen sie älter erscheinen, sie war halb blind und gichtgekrümmt. Neben ihr stand ihr letzter und einziger Sohn. Albert, ein aufgeweckter, kleiner Bursche von vierzehn Jahren. Der Knabe war der einzige Überlebende einer großen Familie, von denen alle der Reihe nach auf südlichen Märkten verkauft worden waren. Die Mutter klammerte sich an ihn mit zitternden Händen und blickte gespannt auf jeden, der vorüberkam und den Jungen prüfend musterte.
»Hab' keine Angst, Tante Hagar«, sagte der Älteste der Schar. »Ich habe mit Herrn Thomas gesprochen, und er sagte, er wolle versuchen, euch zusammen zu verkaufen.«
»Sie brauchen nicht zu denken, ich sei alt und abgerackert«, sagte sie und hob zitternd die Hände hoch. »Ich kann noch kochen und scheuern und waschen. Ich bin meinen Preis noch wert, wenn er nicht zu hoch ist. Sagt es den Leuten, sagt es ihnen«, fügte sie dringend hinzu.
Jetzt trat Haley unter die Gruppe, schritt auf den alten Mann zu, sperrte ihm den Mund auf, sah hinein, befühlte die Zähne, hieß ihn dann aufstehen, sich recken und bücken und verschiedene Übungen ausführen, um seine Muskelkraft zu zeigen. Sodann schritt er zum nächsten und ließ ihn dieselbe Handlung vollziehen. Zuletzt kam er zu dem Jungen, dem er die Arme befühlte, die Hände geradebog und die Finger betrachtete, dann ließ er ihn springen, um seine Gewandtheit zu prüfen.
»Er wird nicht verkauft ohne mich«, sagte die Alte mit leidenschaftlichem Nachdruck. »Er und ich gehen zusammen. Ich bin baumstark, gnädiger Herr, und kann noch mächtig schaffen, mächtig, gnädiger Herr.«
»Auf der Plantage?« entgegnete Haley mit geringschätzigem Blick, »kaum glaubwürdig.« Und, als sei er befriedigt mit seiner Musterung, löste er sich aus der Menge und blieb, die Hände in den Taschen, die Zigarre im Mund und den Hut auf die Seite geschoben, abwartend stehen. Er hatte die Wahl getroffen.
»Was haltet Ihr davon?« fragte ein Mann, der Haleys Prüfung genau verfolgt hatte, als ob er sich danach zu richten gedachte.
»Na«, sagte Haley ausspuckend. »Ich werde auf den jüngeren Mann bieten und auf den Jungen.«
»Sie wollen den Jungen und die Alte zusammen verkaufen«, sagte der Mann.
»Das wird schwer halten. Sie ist ja der reine Kleiderständer — ihr Salz nicht wert.«
»Ihr würdet sie nicht nehmen?«
»Ich bin doch nicht verrückt. Sie ist halb blind, gichtgekrümmt und im Kopf nicht richtig.«
»Manche nehmen gerade diese alten Weiber und sagen, sie taugen mehr als man denkt«, sagte der Mann nachdenklich.
»Lohnt sich nicht«, versetzte Haley, »nehme sie nicht geschenkt. Ich habe sie angesehen, das genügt mir.«
»Tut mir leid, wenn man sie nicht mit dem Bengel zusammen nimmt. Scheint doch sehr an ihm zu hängen. Man will sie billig ablassen.«
»Wer sein Geld verschleudern will, soll es tun. Ich werde auf den Jungen bieten als Plantagen–Neger. Die Alte kommt gar nicht in Frage, und wenn man sie mir nachwirft.«
»Sie wird sich's bös zu Herzen nehmen.«
»Natürlich wird sie«, sagte Haley ungerührt.
Hier wurde die Unterhaltung unterbrochen, der allgemeine Lärm verstärkte sich, und der Versteigerer, ein stämmiger, gewichtiger und geschäftiger Mann, bahnte sich mit beiden Ellenbogen den Weg durch die Menge. Das alte Weib atmete schwer und griff unwillkürlich nach ihrem Sohn.
»Bleib bei Mammi, Albert, bleib dicht hier. Sie müssen uns zusammen ausbieten.«
»O Mammi, ich fürchte, sie tun es nicht«, sagte der Junge.
»Sie müssen, Kind, wie soll ich leben ohne dich?« erwiderte heftig die Alte.
Mit lauter Stimme forderte der Versteigerer die Kauflustigen auf, Platz zu machen, die Versteigerung könne beginnen. Ein Platz wurde geräumt, und das Bieten hob an. Die verschiedenen Leute gingen bald zu Preisen ab, die eine starke Nachfrage verrieten, zwei von ihnen fielen Haley zu.
»Jetzt kommst du dran, Kleiner«, sagte der Versteigerer und puffte den Jungen mit dem Hammer, »komm her und zeig, wie du springen kannst.«
»Nimm uns beide zusammen, bitte gnädiger Herr, nimm uns beide«, flehte die Alte und hielt den Jungen fest.
»Laß los«, sagte der Mann barsch und stieß ihre Hände weg. »Du kommst zuletzt dran. Nun los, Kerl, spring!« Und damit schob er den Jungen auf den Klotz, während ein tiefes Stöhnen in seinem Rücken ertönte. Der Junge zögerte und sah zurück, aber es blieb ihm keine Zeit; sich die Tränen aus den großen, hellen Augen wischend, sprang er hinauf.
Seine gute Figur, seine flinken Glieder und sein aufgewecktes Gesicht erregten sogleich starkes Interesse; ein halb Dutzend Angebote schwirrten dem Versteigerer sofort um die Ohren. Ängstlich und halb erschrocken blickte der Junge von einem zum anderen, als er die aufeinanderplatzenden Angebote hörte, bis der Hammer fiel. Haley hatte ihn erstanden. Man schob ihn von dem Klotz hinunter seinem neuen Herrn zu, aber er stockte und sah sich nach seiner alten Mutter um, die die zitternden Arme nach ihm ausstreckte.
»Kauft mich auch, Herr, um Christi Barmherzigkeit — kauft mich–ich sterbe sonst auf der Stelle.«
»Du würdest sterben, wenn ich es täte, das ist der Haken«, sagte Haley, — »nein!« und er drehte sich auf dem Absatz um.
Die Versteigerung der armen Alten ging schnell vor sich. Der Mann, der mit Haley gesprochen hatte, schien doch ein Herz zu haben: er kaufte sie für einen Pfifferling, und die Zuschauer begannen sich zu verlaufen.
Die armen Opfer der Versteigerung, die jahrelang auf einem Gut zusammen gelebt hatten, scharten sich um die verzweifelte alte Mutter, deren Seelenpein herzzerreißend mitanzusehen war.
»Konnten sie mir nicht den einen lassen? Der Herr hat immer gesagt, den einen dürfte ich behalten, nur den einen«, wiederholte sie immer wieder mit gebrochener Stimme.
»Vertrau auf Gott, Tante Hagar«, sprach einer der Leute bekümmert.
»Was habe ich davon?« fragte sie und weinte bitterlich.
»O Mutter, nicht doch, nicht doch«, sagte der Junge. »Sie sagen, du kriegst einen guten Herrn.«
»Das ist mir gleich, das ist mir gleich. O Albert, mein Sohn, du bist mein letztes Kind, o Gott, wie soll ich das ertragen?«
»Kommt, jagt sie fort, einer von euch«, sagte Haley trocken, »es schadet ihr, wenn sie sich so aufregt.«
Die älteren Männer in der Gesellschaft bewogen die arme Alte teils durch Überredung, teils durch Gewalt, ihren verzweifelten Widerstand aufzugeben, mit vielen tröstenden Worten brachten sie sie zu dem Wagen ihres neuen Herrn.
»Los«, rief Haley und schob seine drei neugekauften Neger zusammen; er zog ein Bündel Handschellen hervor, die er um ihre Handgelenke schloß, befestigte jede Handschelle an einer langen Kette und trieb die Neger vor sich her zum Gefängnis.
Einige Tage später sah man Haley mit seinen neuerworbenen Sklaven sicher an Bord eines Flußdampfers. Es war der Anfang seines großen Transportes, der sich unterwegs durch weitere Einkäufe, teils durch ihn, teils durch seine Agenten längs der Küste, ständig vergrößerte.
Der Dampfer >La belle Riviere< war ein schönes und stattliches Schiff, unter strahlendem Himmel schwamm es munter stromabwärts, die Flagge mit den Streifen und Sternen des freien Amerika flatterte lustig im Winde; Soldaten mischten sich unter die wohlgekleideten Herren und Damen, die an Deck auf und ab spazierten und den herrlichen Tag genossen. Alle waren voll schäumenden Lebens, strahlend und froh, alle außer Haleys Negertrupp, den man mit anderem Frachtgut auf dem Zwischendeck verstaute. Keiner von ihnen schien die Schönheit zu beachten, als sie da zusammenhockten und leise miteinander sprachen.
»Hört mal, Leute«, sagte Haley, mit raschen Schritten hinzukommend, »ich hoffe, ihr laßt mir nicht den Kopf hängen. Immer munter. Nur nicht schlecht gelaunt. Haltet die Ohren steif, Burschen, steht ihr zu mir, steh ich zu euch.«
So angeredet, erwiderten die Leute ihr unvermeidliches »Ja, Herr«, das seit Jahrhunderten das Losungswort des armen Afrika ist. Aber es ließ sich nicht verhehlen, keiner von ihnen sah heiter aus. Sie grämten sich um ihre Frauen, Mütter, Schwestern und Kinder, die sie zum letztenmal gesehen hatten. So schnell ließ sich da keine Heiterkeit kommandieren.
»Ich habe ein Weib«, sprach einer mit Namen John und legte seine gefesselte Hand auf Toms Knie, »und sie weiß noch gar nichts, das arme Mädchen!«
»Wo wohnt sie denn?« fragte Tom.
»In einem Gasthaus, ein Stück flußab«, antwortete John. »Ich wollte, ich könnte sie noch einmal sehen auf dieser Welt«, setzte er hinzu.
Armer John! Die Tränen, die er beim Sprechen vergoß, flossen ihm so natürlich die Wangen herab wie einem weißen Mann. Tom seufzte aus beklommenem Herzen und versuchte, so gut er konnte, zu trösten.
Und über ihnen, in Kabinen, da saßen Eltern, Männer und Frauen. Um sie sprangen fröhliche Kinder. Dort gab es keine Sorgen und keinen Kummer.
»O Mammi«, sagte ein Junge, der gerade von unten heraufkam, »da ist ein Negerhändler an Bord, er hat dort unten vier oder fünf Sklaven.« »Arme Menschen«, erwiderte die Mutter halb entrüstet, halb bekümmert.
»Was gibt's denn?« fragte eine andere Dame.
»Unten sind ein paar arme Sklaven«, antwortete die Mutter.
»Und sie liegen in Ketten«, sagte der Junge.
»Welche Schande für das ganze Land, so etwas mitanzusehen«, meinte die andere Dame.
»Oh, die Sache hat durchaus ihre zwei Seiten«, sagte eine vornehme Dame, die vor der Tür ihrer Kabine saß und handarbeitete, während ihre zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, neben ihr spielten. »Ich komme aus dem Süden und muß sagen, die Neger haben es da besser, als wenn sie frei wären.«
»In mancher Hinsicht geht es gewiß einigen ganz gut«, sagte die Dame, der die Antwort gegolten hatte. »Das Schrecklichste an der Sklaverei ist meiner Ansicht die Art, wie man auf den Neigungen und Gefühlen der Armen herumtrampelt, wie man die Familien zum Beispiel auseinanderreißt.«
»Das ist zweifellos nicht richtig«, stimmte die erste Dame eifrig zu, sie hielt ein Babyröckchen in die Höhe, das sie gerade fertiggestellt hatte, und musterte die Stickerei. »Aber ich bin sicher, das kommt nur selten vor.«
»Weit gefehlt«, sagte die erste Dame nachdrücklich. »Ich habe viele Jahre sowohl in Kentucky wie in Virginia gelebt, was ich gesehen habe, kann einem das Herz umdrehen. Stellen Sie sich vor, Madam, man nähme Ihre lieben Kinder dort und verkaufte sie?«
»Wir können Leute dieser Klasse nicht nach unseren Gefühlen beurteilen«, sagte die andere Dame und sortierte die Seidenfäden auf ihrem Schoß.
»Wahrhaftig, Madam, wenn Sie so sprechen können, haben Sie keine Ahnung von den Negern«, antwortete die erste Dame mit großer Wärme. »Ich bin unter Negern geboren und erzogen worden. Ich weiß, sie fühlen so heiß wie wir, vielleicht noch heißer — «
Die Dame sagte: »Tatsächlich?«, gähnte und blickte zum Kabinenfenster hinaus, um abschließend ihre anfängliche Bemerkung zu wiederholen: »Letzten Endes geht es ihnen besser, als wenn sie frei wären.«
»Zweifellos ist es der Wille der Vorsehung, die afrikanische Rasse in Knechtschaft und Niedrigkeit verharren zu lassen«, sagte ein feierlich aussehender Herr in Schwarz, ein Geistlicher, der neben der Kabinentür saß. »Verflucht sei Kanaan und sei ein Knecht aller Knechte, sagt die Heilige Schrift.«
»Legt man den Text wirklich so aus?« fragte ein langer Mann, der daneben stand.
»Zweifellos. Aus unerklärlichem Grunde hat es der Vorsehung gefallen, diese Rasse vor Jahrhunderten in Bande zu schlagen, daran dürfen wir nicht rütteln.«
»Na, dann können wir ja alle darangehen und lustig Neger kaufen, wenn die Vorsehung es so haben will — nicht wahr, Meister?« sagte der lange Mann zu Haley gewandt, der mit den Händen in den Taschen neben dem Ofen gestanden hatte und der Unterhaltung aufmerksam gefolgt war.
»Ja«, fuhr er fort, »wir müssen uns alle dem Willen der Vorsehung fügen. Nigger müssen halt verkauft, vertauscht und unterdrückt werden, dazu sind sie da. So verstanden sind das schöne Ansichten, nicht wahr, Herr?« sagte er wiederum zu Haley.
»Da kenne ich mich nicht aus«, antwortete Haley. »Ich kann das selbst nicht behaupten, da bin ich zu ungebildet. Ich trat in den Sklavenhandel ein, um mir meinen Unterhalt zu verdienen; wenn es unrecht ist, so habe ich die Absicht, es noch rechtzeitig zu bereuen, versteht Ihr.«
»Aber nun werdet Ihr Euch die Mühe sparen, was?« sagte der lange Mann. »Es lohnt sich, wenn man die Heilige Schrift kennt. Hättet Ihr Eure Bibel studiert wie dieser gute Mann, hättet Ihr Euer Gewissen beruhigen können. Ihr hättet nur zu sagen brauchen >Verflucht sei< - wie hieß es doch? — , dann wäre alles in Ordnung gewesen.« Und der Fremde, der niemand anders war als der ehrliche Pferdezüchter, den wir unseren Lesern in dem Kentuckywirtshaus vorstellten, setzte sich hin und fing an zu rauchen, ein spöttisches Lächeln auf seinem Gesicht.
Jetzt mischte sich ein hochgewachsener, junger Mann, mit einem Gesicht, das Intelligenz und Mitgefühl verriet, in die Unterhaltung und sprach die Worte: »Was du willst, das dir die Leute tun, das tu du ihnen auch!« »Ich sollte meinen«, setzte er hinzu, »das steht ebenso gut in der Heiligen Schrift wie >Verflucht sei Kanaan<.«
»Na, der Text scheint mindestens ebenso eindeutig zu sein«, sagte John, der Pferdezüchter, »wenigstens für solch arme Teufel wie wir«, und John rauchte wie ein Vulkan.
Der junge Mann hielt inne und sah aus, als wollte er noch weiter sprechen, als plötzlich der Dampfer anhielt und die ganze Gesellschaft wie üblich an die Reling stürzte, um zu sehen, wo man anlegte.
»Sind die beiden Pastoren?« fragte John im Hinausgehen einen der Männer. Der Mann nickte.
Als der Dampfer anhielt, kam ein schwarzes Weib in heller Aufregung die Planke heraufgestürzt, warf sich in die Menge, flog zum Sklavenstand, umhalste mit beiden Armen den unglücklichen Kaufartikel, den man zuvor mit - >John, dreißig Jahre alt< bezeichnet hatte, und begrüßte ihn unter Tränen und Schluchzen als ihren Ehemann.
Aber was brauchen wir diese herzergreifende Geschichte zu erzählen, die jeder Tag aufs neue erzählt — von den Schwachen, die gebrochen und getreten werden zum Nutzen und Gewinn der Starken! Da bedarf es keiner Worte mehr — jeder Tag meldet sie uns–meldet sie auch dem Ohr des Einen, der nicht taub ist, wenn er auch lange schweigt.
Der junge Mann, der vorhin für die Sache Gottes und der Menschlichkeit gesprochen hatte, hatte die Arme über die Brust gekreuzt und sah der Szene zu. Als er sich abwandte, entdeckte er Ha–ley neben sich. »Mein Freund«, sagte er und sprach bewegten Herzens, »wie könnt Ihr es, wie dürft Ihr es wagen, einen solchen Handel zu treiben? Da seht die armen Menschen! Und ich stehe hier und freue mich von Herzen, daß ich heimkomme zu Weib und Kind, dieselbe Glocke aber, die für mich ein Signal ist, daß ich ihnen immer näherkomme, wird diese armen Eheleute für immer voneinander trennen. Verlaßt Euch darauf, Gott wird Euch hierfür einst zur Rechenschaft ziehen.«
Der Händler drehte sich schweigend um.
»Das kann man sagen«, erklärte der Pferdehändler und faßte ihn am Ellbogen, »das ist aber ein Unterschied zwischen diesen Pastoren, nicht wahr? >Verflucht sei Kanaan< scheint dieser nicht durchzulassen, was?«
Haley brummte unwirsch.
»Das will noch nichts besagen«, fuhr John fort, »vielleicht läßt es der Herrgott auch nicht durchgehen, wenn er einst mit Euch abrechnet, wie er es ja vermutlich mit uns allen vorhat.«
Haley wanderte nachdenklich auf die andere Seite des Dampfers.
»Wenn ich bei den nächsten Transporten einen hübschen Pfennig zur Seite legen kann«, überlegte er, »werde ich dieses Geschäft wohl aufgeben müssen, es wird ja geradezu gefährlich.« Und er zog sein Notizbuch hervor und fing an, seinen Gewinn zu überschlagen–eine Beschäftigung, mit der auch andere Leute schon ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen verstanden.
Der Dampfer stieß stolz vom Ufer ab, und das Leben an Bord nahm wieder fröhlich seinen Verlauf. Die Männer schlenderten plaudernd einher, lasen und rauchten. Die Frauen machten Handarbeiten, die Kinder spielten, und der Dampfer zog auf seiner Bahn dahin.
Eines Tages, als er für längeren Aufenthalt bei einer kleinen Stadt in Kentucky anlegte, begab sich Haley in den Ort, um geschäftliche Dinge zu erledigen. Tom, dessen Fesseln ihm eine gewisse Bewegungsfreiheit gestatteten, war an die Reling getreten und blickte trübselig auf das Ufer. Nach einer Weile sah er den Händler eiligen Schrittes in Begleitung einer farbigen Frau zurückkehren, die ein kleines Kind auf dem Arm trug. Sie war ganz ordentlich gekleidet, und ein Neger trug ihr einen kleinen Koffer nach. Die Frau schritt fröhlich einher, sprach mit dem Mann, der ihr den Koffer trug, und gelangte über die Planke auf das Schiff. Die Glocke tönte, der Dampfer tutete, die Maschinen stöhnten keuchend, und weiter ging die Fahrt flußabwärts.
Die Frau suchte sich einen Platz zwischen den Kisten und Ballen des Zwischendecks, ließ sich nieder und fing an, ihr Kind zu herzen.
Haley machte ein-, zweimal die Runde um den Dampfer, kam dann heran, setzte sich zu ihr und teilte ihr halblaut in gleichgültigem Tone etwas mit.
Tom gewahrte bald, daß sich die Stirn der jungen Frau umwölkte und daß sie hastig und mit großer Heftigkeit antwortete.
»Das glaube ich nicht — das kann ich nicht glauben!« hörte er sie sagen. »Ihr wollt mich nur zum Narren halten.«
»Wenn du es nicht glaubst, sieh her!« sagte der Mann und zog ein Papier hervor. »Dies ist der Kaufkontrakt und darunter steht der Name deines Herrn, und ich habe gutes, bares Geld dafür bezahlt, daß du es nur weißt — also!«
»Ich glaube nicht, daß der Herr mich so betrogen hat; das kann nicht stimmen!« sagte die Frau in steigender Erregung.
»Da kannst du hier jeden fragen, der lesen kann. Hier!« sagte er zu einem Mann, der vorüberkam. »Lest das doch einmal. Das Mädchen will mir nicht glauben, wenn ich ihr sage, was darin steht!«
»Na, das ist ein Kaufvertrag, unterzeichnet von John Fosdick«, sagte der Mann, »der Euch das Mädchen Lucy mit ihrem Kind abtritt. Soweit ich sehe, ist das alles klar.«
Der leidenschaftliche Widerspruch der Frau lockte eine schaulustige Menge herbei, der der Händler kurz den Grund ihrer Erregung mitteilen mußte.
»Er hat mir gesagt, daß ich nach Louisville käme und in demselben Wirtshaus, wo mein Mann beschäftigt ist, einen Posten als Köchin bekäme — das hat mir mein Herr gesagt, mit eigenen Worten; und ich kann nicht glauben, daß er mich angelogen hat«, sagte die Frau.
»Aber er hat dich verkauft, arme Frau, da besteht kein Zweifel«, sagte ein gutmütiger Mann, der die Papiere überflogen hatte; »daran läßt sich nicht drehen und deuteln.«
»Dann hat auch alles Reden keinen Zweck«, erklärte die Frau und wurde plötzlich ganz ruhig. Ihr Kind fest in die Arme schließend, setzte sie sich auf ihre Kiste, kehrte sich ab und starrte bedrückt auf das Wasser.
»Scheint es sich nicht weiter zu Herzen zu nehmen«, meinte der Händler. »Das Mädel hat Verstand.«
Die Frau sah gefaßt aus, während der Dampfer weiterfuhr. Ein leichter, weicher Sommerwind glitt wie ein mitfühlender Geist um ihre Stirn — der sanfte Wind, der niemals fragt, ob die Stirn, die er umfächelt, schwarz oder weiß ist. Und sie sah den hellen Sonnenschein in goldenen Wellen auf dem Wasser glänzen und hörte die heiteren Stimmen, sorglos und unbeschwert, um sich in der Runde plaudern; aber ihr war das Herz schwer, als sei ein großer Stein darauf gefallen. Das Baby richtete sich empor und streichelte ihr mit seinen Händchen die Wangen. Es zappelte, es krähte und plapperte und schien auf alle Weise seine Mutter ermuntern zu wollen. Sie drückte es plötzlich heftig an sich, nahm es in die Arme und ließ langsam eine Träne nach der anderen auf sein verwundertes, ahnungsloses Gesichtchen fallen, allmählich schien sie sich etwas zu beruhigen und machte sich daran, es zu stillen und zu versorgen.
Das Kind, ein Junge von zehn Monaten, war ungewöhnlich groß und stark für sein Alter und von sehr kräftigen Gliedern. Es hielt nicht einen Augenblick still, seine Mutter hatte alle Hände voll zu tun, es zu hüten.
»Das ist aber ein feines Kerlchen«, sagte ein Mann, der plötzlich vor ihr stehenblieb, beide Hände in den Taschen. »Wie alt ist er?«
»Zehn und einen halben Monat«, antwortete die Mutter, und Stolz leuchtete aus ihren Augen.
Der Mann pfiff dem Kleinen und hielt ihm eine Zuckerstange hin, nach der er eifrig angelte, um sie alsbald in dem allgemeinen Aufbewahrungsort der kleinen Kinder, nämlich im Munde, verschwinden zu lassen.
»Großartiges Bürschchen!« sagte der Mann. »Der weiß, was er will.« Und er pfiff wieder und ging dann weiter. Als er an der anderen Schiffsseite anlangte, stieß er auf Haley, der rauchend über einem Haufen Kisten lehnte.
Der Fremde zog ein Streichholz hervor, zündete sich eine Zigarre an und sagte dabei: »Nettes Mädel habt Ihr da.«
»Ja, ich glaube, sie ist nicht übel«, antwortete Haley und blies den Rauch aus dem Mund.
»Nehmt Ihr sie hinunter in den Süden?« fragte der Mann. Haley nickte und rauchte schweigend.
»Als Plantagenhilfe?« fragte der Mann.
»Nun«, sagte Haley, »ich habe den Auftrag für eine Plantage auszuführen, und dabei kann ich sie wohl unterbringen. Sie behauptet ja, sie sei eine gute Köchin; sie können sie dafür einsetzen oder zum Baumwollpflücken nehmen. Dafür hat sie die richtigen Finger, ich habe sie mir angesehen. So oder so, die verkauft sich gut.« Und Haley widmete sich aufs neue seiner Zigarre.
»Den Kleinen werden sie auf der Plantage kaum gebrauchen können«, fing der Mann wieder an.
»Den werde ich bei der nächsten Gelegenheit verkaufen«, entgeg–nete Haley und zündete sich eine neue Zigarre an.
»Wahrscheinlich werdet Ihr ihn preiswert ablassen«, sagte der Fremde, bestieg eine der Kisten und ließ sich darauf nieder.
»Das will ich nicht sagen«, erwiderte Haley; »es ist ein besonders hübsches Kind — gerade, dick und kräftig; das Fleisch so fest wie ein Ziegelstein!«
»Stimmt schon, aber es bleiben die Scherereien und die Kosten des Aufziehens.«
»Unsinn!« sagte Haley. »Das zieht sich so mühelos auf wie alles Lebendige; das macht nicht mehr Umstände als junge Hunde. In einem Monat wird das Kerlchen laufen können.«
»Ich hätte eine gute Gelegenheit, es aufzuziehen«, sagte der Mann. »Eine Köchin bei mir verlor ihr Kleines vorige Woche — ertrank im Waschzuber, während sie draußen Wäsche aufhing — und ich denke, es wäre nicht schlecht, wenn ich ihr diesen Kleinen mitbrächte.«
Haley und der Fremde rauchten eine Weile schweigend, niemand schien gewillt, die strittige Frage anzuschneiden. Schließlich hub der Mann wieder an:
»Ihr werdet nicht mehr als zehn Dollar für den Kleinen verlangen, wo Ihr ihn doch losschlagen müßt.«
Haley schüttelte den Kopf und spuckte bedeutungsvoll aus.
»So geht das auf keinen Fall«, sagte er und rauchte weiter.
»Also Fremder, was verlangt Ihr denn?«
»Na, seht her«, sagte Haley. »Ich könnte das Kerlchen ja selber aufziehen oder aufziehen lassen; es ist ungewöhnlich hübsch und gesund, in einem halben Jahr brächte er mir schon hundert Dollar; und in ein, zwei Jahren bereits zweihundert, wenn ich es nur geschickt anstellte; also werde ich jetzt nicht einen Cent unter fünfzig Dollar ablassen.«
»O Fremder! Das ist ja zum Lachen!« sagte der Mann.
»Tatsache«, erwiderte Haley mit entschlossenem Kopfnicken.
»Ich werde dreißig für ihn geben«, sagte der Fremde.
»Na, dann werde ich Euch sagen, was ich tun will«, sprach Haley und spuckte mit erneuter Entschlossenheit aus. »Ich werde die Differenz teilen und fünfundvierzig sagen, weiter kann ich Euch nicht entgegenkommen.«
»Gut, abgemacht!« antwortete der Mann nach einer Pause.
»Erledigt!« sagte Haley. »Wo landet Ihr?«
»In Louisville.«
»Louisville«, wiederholte Haley. »Sehr schön. Dann kommen wir bei Einbruch der Dunkelheit an. Da schläft der Kleine — geht alles in Butter — man nimmt ihn leise — ohne Geschrei — macht sich großartig — ich erledige gern alles im stillen — Lärm und Aufregung sind mir verhaßt.« Nachdem einige Banknoten aus der Tasche des Mannes in die des Händlers gewandert waren, nahm dieser seine Zigarre wieder auf.
Es war ein heller ruhiger Abend, als der Dampfer an der Landestelle von Louisville anlegte. Die Frau hatte mit dem Kind im Arm, das jetzt in tiefem Schlummer lag, still dagesessen. Als sie den Namen der Stadt ausrufen hörte, legte sie das Kind hastig in eine kleine Wiege, die sie sich in dem Zwischenraum zweier Kisten zurechtgemacht hatte, nicht ohne vorher ihren Mantel daruntergebreitet zu haben, und dann eilte sie an die Reling in der Hoffnung, daß sie unter den verschiedenen Hoteldienern an der Landungsstelle ihren Mann entdecken könnte. In dieser Hoffnung drängte sie sich an das äußerste Geländer, lehnte sich weit hinüber und sah sich die Augen aus nach den Menschen am Ufer. Die Menge hatte sich zwischen sie und das Kind geschoben.
»Jetzt ist der rechte Augenblick«, sagte Haley, nahm das schlafende Kind auf und übergab es dem Fremden. »Weckt ihn ja nicht auf, sonst fängt er an zu schreien, und es gibt einen Höllenspektakel mit dem Mädchen.« Der Mann nahm das Bündel vorsichtig entgegen und war bald in der Menge verschwunden, die zur Landungsstelle drängte.
Als sich der Dampfer keuchend, pustend und stöhnend vom Kai entfernte und langsam seine Fahrt stromabwärts aufnahm, kehrte die Frau zu ihrem alten Platz zurück. Dort saß der Händler — das Kind war verschwunden!
»Warum, warum — wohin?« stammelte sie in bestürzter Überraschung.
»Lucy«, sagte der Händler, »dein Kind ist fort, du magst es nur gleich erfahren. Siehst du, du konntest es nicht mit in den Süden nehmen, und ich hatte Gelegenheit, es an eine erstklassige Familie zu verkaufen, die wird es besser aufziehen, als du es kannst!«
Die Frau schrie nicht, der Schuß hatte zu unmittelbar ihr Herz getroffen, Tränen und Geschrei halfen ihr nicht mehr.
Ganz betäubt setzte sie sich nieder. Schlaff ließ sie die Hände sinken. Ihre Augen starrten vor sich hin, aber sie sprach nichts. Der ganze Lärm, die Unruhe auf dem Schiff, das Stöhnen der Maschinen drangen an ihr Ohr; das arme schmerzerstarrte Herz hatte keine Tränen, keine Klage, seinen grenzenlosen Jammer zu äußern. Sie war ganz ruhig.
»Ich weiß, zuerst erscheint es sehr hart, Lucy«, sagte er, »aber so ein flottes, verständiges Mädchen wie du läßt sich nicht unterkriegen. Du wirst einsehen, daß es nötig war und nicht zu ändern ist!«
»Oh! Hört auf, Herr, hört auf!« bat die Frau mit erstickter Stimme.
»Du bist doch ein schmuckes Mädchen, Lucy«, fuhr er hartnäckig fort. »Ich meine es doch gut mit dir und will dir einen guten Posten stromabwärts besorgen, da wirst du bald einen neuen Mann finden — so ein stattliches Mädchen wie du — «
»O Herr, wenn Ihr nur jetzt nicht reden wolltet!« sagte die Frau mit einer Stimme von solch ergreifender Seelenqual, daß selbst der Händler spürte, hier war seine gewöhnliche Taktik fehl am Platze. Er erhob sich, und die Frau wandte sich und vergrub ihr Gesicht in ihrem Mantel.
Der Händler schritt eine Weile auf und ab, hielt gelegentlich inne und betrachtete sie.
»Nimmt es sich doch zu Herzen«, überlegte er, »wenn sie auch still ist; - mag sie sich grämen, mit der Zeit wird sie schon zu sich kommen.«
Tom hatte den ganzen Vorgang mitangesehn. Er kam heran und versuchte, sie zu trösten, aber sie stöhnte nur. In aufrichtiger Trauer, wobei ihm selber die Tränen über die Backen liefen, sprach er von dem liebevollen Herzen im Himmel, von Jesus, der mitleidet, und von der ewigen Heimat, aber ihr Ohr war betäubt in seinem Schmerz, und ihr Herz hatte kein Gefühl außer seiner namenlosen Qual.
Die Nacht brach herein — die ruhige, unbewegte herrliche Nacht, die mit ungezählten feierlichen Engelsaugen, schön und funkelnd herniederstrahlte. Aus diesem fernen Himmel drang kein Wort, keine Rede, keine mitleidige Stimme, keine helfende Hand. Eine nach der anderen erstarben die geschäftigen, die fröhlichen Stimmen; auf dem Dampfer schlief alles, deutlich schlugen die Wellen gegen den Bug. Tom streckte sich auf einer der Kisten aus. Im Liegen hörte er ab und zu das unterdrückte Schluchzen des verzweifelten Geschöpfs. — »Ach! Was soll ich nur machen! — O Herrgott, erbarme dich!«, so klang es fort, bis das Gemurmel verstummte.
Um Mitternacht fuhr Tom erschrocken aus seinem Schlummer auf. Etwas Schwarzes glitt rasch an ihm vorbei, zur Schiffsseite hin, und er hörte ein Plätschern im Wasser. Niemand sonst hatte etwas gesehen oder gehört. Tom hob den Kopf — der Platz der Frau war leer. Er erhob sich und spähte vergeblich umher. Das arme blutende Herz hatte endlich seine Ruhe gefunden, und der Strom rauschte und glitzerte so hell, als ob er sich erst gerade über ihm geschlossen hätte.
Der Händler erwachte frisch und frühzeitig und kam herauf, um nach seiner Menschenherde zu sehen.
»Wo, zum Kuckuck, ist das Mädchen?« sagte er zu Tom.
Tom, der die Weisheit des Schweigens gelernt hatte, fühlte keine Veranlassung, seinen Verdacht und seine Beobachtungen preiszugeben, und erklärte, er wüßte es nicht.
»Sie konnte sich in der Nacht bestimmt nicht davonstehlen an den Landeplätzen, denn ich war wach und stand auf der Lauer, wenn der Dampfer hielt. Das ist ein Amt, das ich niemand anderem überlasse.«
Diese Mitteilung war vertraulich an Tom gerichtet, als sei sie für ihn von besonderem Interesse. Tom gab keine Antwort.
Der Händler durchsuchte das Schiff von vorn bis hinten, er blickte zwischen die Kisten, die Ballen und Fässer, er spähte in den Maschinenraum, er suchte bei den Schornsteinen, alles vergeblich.
»Also hör einmal, Tom, sei jetzt mal offen«, sagte er, als er nach seiner ergebnislosen Jagd zu Tom zurückkam. »Du weißt doch etwas davon, bestreit es nicht — ich weiß es. Ich sah das Mädchen hier liegen, ungefähr um zehn Uhr, und noch um zwölf und noch zwischen ein und zwei Uhr; und dann um vier Uhr war sie verschwunden. Du aber hast hier die ganze Zeit geschlafen. Also, du mußt etwas wissen.«
»Nun, Herr«, sagte Tom, »im Morgengrauen huschte etwas vorbei, und ich wurde halb wach; danach hörte ich ein Plätschern, da wachte ich vollends auf, und das Mädchen war verschwunden. Das ist alles, was ich weiß.«
Der Händler war weder entsetzt noch verwundert, denn wie wir bereits erwähnten, war er an manche Dinge gewöhnt, an die ein anderer nicht gewöhnt ist. Selbst die erhabene Gegenwart des Todes flößte ihm keine Ehrfurcht ein. Er hatte den Tod schon oft gesehen — geschäftlich, er kannte ihn gut. Der Tod war ihm ein unangenehmer Kunde, der ihm sein Geschäft böswillig verdarb. Also fluchte er nur, das Mädchen hätte nichts getaugt, er hätte teuflisches Pech, und daß er, wenn das so weiterginge, an dem ganzen Transport nicht einen Cent verdienen werde. Kurz gesagt, er fühlte sich entschieden betrogen; aber es ließ sich nicht ändern. Die Frau war in ein Reich geflüchtet, das keinen Flüchtling je herausgibt. Also setzte sich der Händler mit seinem kleinen Kontobuch mißvergnügt hin und trug die verlorene Summe unter der Überschrift >Verluste< ein.