22. Kapitel Henrique

Zu dieser Zeit kam St. Clares Bruder mit seinem ältesten Sohn auf ein, zwei Tage zu Besuch an den See. Beide Zwillingsbrüder boten einen ungewöhnlich schönen Anblick. Die Natur hatte anstatt einer Ähnlichkeit den Gegensatz zwischen beiden herausgearbeitet, jedoch waren beide durch ein geheimnisvolles Band in ungewöhnlich enger Freundschaft miteinander verbunden. Arm in Arm schlenderten sie zusammen durch den Garten — Augustin mit seinen blauen Augen, dem blonden Haar, den lebhaften Zügen und der biegsamen Gestalt und der dunkeläugige Alfred mit seinem stolzen römischen Profil, seinen stattlichen Gliedern und der entschlossenen Haltung. Sie hörten nicht auf, einander zu schmähen, und doch genossen sie ihr Zusammensein, ja ihre Gegensätzlichkeit schien sie wie die beiden Pole eines Magneten gegenseitig anzuziehen.

Henrique, Alfreds ältester Sohn, war ein vornehmer, dunkelhäutiger Knabe, aufgeweckt und lebhaft, schon nach der ersten Bekanntschaft war er von der vergeistigten Anmut seiner Kusine Evangeline hingerissen.

Eva hatte ein kleines, schneeweißes Lieblingspony, so sanft wie seine Herrin, und dieses Pony brachte jetzt Tom an die hintere Veranda, während ein Mulattenjunge von ungefähr dreizehn Jahren einen kleinen, schwarzen Araber heranführte, der erst vor kurzem für Henrique gekauft worden war.

Henrique war knabenhaft stolz auf diesen neuen Schatz; als er jetzt herantrat und dem kleinen Reitknecht die Zügel abnahm, musterte er das Pferd genau, und sein Gesicht verfinsterte sich.

»Was soll das heißen, Dodo, du Faulpelz, du hast mein Pferd heute morgen nicht abgerieben?«

»Doch, Herr«, sagte Dodo unterwürfig. »Er ist selber wieder staubig geworden.«

»Halt den Mund, du Spitzbube!« rief Henrique und hob heftig die Reitpeitsche. »Untersteh dich, noch ein Wort!«

Der Junge war ein hübscher, helläugiger Mulatte, genau von Hen–riques Größe, sein Haar ringelte sich um eine hohe, kühne Stirn. Er hatte >weißes< Blut in den Adern, was man an der jähen Röte seiner Wangen und dem Blitzen seiner Augen erkannte, als er eifrig anhub: »Junger Herr.«

Schon schlug ihn Henrique mit der Reitpeitsche über das Gesicht, ergriff ihn am Arm, zwang ihn auf die Knie und schlug ihn, bis er außer Atem war.

»Da hast du es, du unverschämter Hund! Wirst du jetzt den Mund halten, wenn ich rede? Führe das Pferd zurück, und reinige es, wie es sich gehört — ich werde dich lehren!«

»Junger Herr«, sagte Tom, »er wollte nur sagen, daß das Pferd sich auf dem Rücken gewälzt hat, als er es aus dem Stall brachte, es steckt voller Übermut — dabei ist es staubig geworden. Ich habe selbst das Reinigen beaufsichtigt.«

»Warte ab, bis du gefragt wirst«, sagte Henrique, drehte sich auf dem Absatz um und sprang Eva entgegen, die im Reitkleid an der Treppe stand.

»Liebstes Kusinchen, es tut mir leid, daß wir nun auf diesen Dummkopf warten müssen. Komm, wir setzen uns hier hin. Was ist denn los, Kusinchen? Du machst so ein merkwürdiges Gesicht.«

»Wie konntest du nur so grausam und böse zu Dodo sein?«

»Grausam — böse?« fragte der Knabe mit unverhohlener Überraschung. »Was meinst du denn, liebste Eva?«

»Ich will nicht, daß du mich >liebste Eva< nennst, wenn du so etwas tust«, sagte sie.

»Liebstes Kusinchen, du kennst den Dodo nicht, nur auf diese Weise wird man mit ihm fertig, er steckt voller Lügen und Ausflüchte. Man muß ihn sofort zum Schweigen bringen; so macht Papa das auch.«

»Aber Onkel Tom sagte, es war ein Versehen, und er sagt nie die Unwahrheit.«

»Dann ist er ein ungewöhnlicher alter Nigger!« sagte Henrique; »Dodo lügt, wenn er den Mund auftut.«

»Du zwingst ihn ja zum Lügen, wenn du ihn so behandelst, du hast ihn geschlagen, ohne daß er es verdiente.«

»Nun, das kann ich ihm ja fürs nächstemal anrechnen. Bei Dodo sind ein paar Schläge immer am Platze — er ist ein reiner Teufel, sage ich dir; aber ich werde ihn nicht wieder in deiner Gegenwart schlagen, wenn dir das Kummer macht.«

Eva war noch nicht zufrieden, aber sie gab es auf, ihrem hübschen Vetter ihre Empörung zu erklären.

Dodo kam alsbald mit den Pferden zurück.

»Na, Dodo, diesmal hast du deine Sache gut gemacht«, sagte sein junger Herr mit gnädiger Miene. »Komm her, halte Miß Evas Pferd, während ich sie in den Sattel hebe.«

Dodo trat heran und hielt Evas Pony. Er machte ein trauriges Gesicht.

Henrique, der stolz auf sein ritterliches Benehmen war, hatte seine schöne Kusine rasch in den Sattel gehoben und ihr die Zügel in die Hand gelegt.

Aber Eva beugte sich über die andere Seite ihres Pferdes, wo Dodo stand, und sagte, als er die Zügel freigab: »Du bist ein guter Junge, Dodo — ich danke dir!«

Staunend blickte Dodo empor in das süße junge Gesicht; das Blut stürzte ihm in die Wangen, die Tränen traten ihm in die Augen.

»Hierher, Dodo!« rief sein Herr gebieterisch.

»Hier ist ein Trinkgeld für Kandiszucker, Dodo«, sagte Henrique, »kauf dir welchen.«

Und Henrique trabte hinter Eva den Weg hinunter. Dodo stand und blickte den Kindern nach, eines hatte ihm Geld gegeben, das andere das, wonach er viel mehr verlangte, ein freundliches Wort in freundlichem Ton. Dodo war erst seit einigen Wochen von seiner Mutter getrennt. Sein Herr hatte ihn wegen seines hübschen Äußeren auf dem Sklavenmarkt gekauft, als passendes Gegenstück zu dem hübschen Pony; nun empfing er aus der Hand seines jungen Herrn seine erste Erziehung.

Vom Garten her hatten die beiden Brüder St. Clare die Prügelszene mitangesehen.

Augustin war die Röte ins Gesicht gestiegen, aber er bemerkte nur mit seiner gewohnten sarkastischen Leichtigkeit: »Ich vermute, das nennt man republikanische Erziehung, wie?«

»Henrique hat den Teufel im Leib, wenn er wütend wird«, sagte Alfred nachlässig.

»Anscheinend betrachtest du dies für ihn als sehr geeignete Übung?« sagte Augustin trocken.

»Ich kann da nicht viel ändern, Henrique ist ein Unband, seine Mutter und ich haben es längst mit ihm aufgegeben. Aber außerdem ist der Dodo ein kleines Biest — keine Prügel können ihn heilen.«

»Und dabei lernt Henrique das erste Gebot des republikanischen Katechismus, >Alle Menschen sind frei und gleich geboren<, wie?«

»Pah!« sagte Alfred. »Es ist einfach lächerlich, wie sich so ein Ausspruch bis auf unsere Tage erhält.«

»Ich kann dir sagen«, erklärte Augustin, »wenn sich etwas mit der Kraft eines göttlichen Gesetzes offenbart, dann ist es dieses, daß die Massen sich erheben und die unteren Klassen die Herrschaft erringen werden.«

»Das ist eine deiner roten Republikanerideen, Augustin! Warum gingst du nicht zur Rednertribüne? Du hättest einen glänzenden Volksredner abgegeben. Glaub mir, die angelsächsische Rasse ist die herrschende Rasse in der Welt und wird es auch bleiben.«

»Nun, unsere Sklaven haben eine gute Portion angelsächsisches Blut abbekommen. Viele unter ihnen sind nur noch so weit afrikanisch, um unserer berechnenden Vorausschau und Entschlossenheit tropische Wärme und Glut zu geben. Wenn jemals die Stunde von St. Domingo schlägt, angelsächsisches Blut wird sie anführen. Söhne weißer Väter, unseren Hochmut in ihren brennenden Adern, werden sich dann nicht länger kaufen, verkaufen und verschachern lassen. Sie werden sich erheben und die Rasse ihrer Mutter mit sich emporreißen.«

»Hirngespinste — Unfug!«

»Geh, alles Reden hat keinen Zweck, Alfred. Wir haben diese Pfade wohl schon öfter als fünfhundertmal verfolgt. Was hältst du von einer Partie Puff?«

Beide Brüder eilten die Verandastufen hinauf und saßen bald an einem Bambustischchen, das Spielbrett zwischen sich. Als sie die Figuren aufsetzten, bemerkte Alfred:

»Hör mal, Augustin, wenn ich deiner Meinung wäre, würde ich aber etwas tun.«

»Höchstwahrscheinlich — du gehörst zu den Tatmenschen; aber was?«

»Nun, zum Beispiel, deine Leute ausbilden lassen«, sagte Alfred mit einem halb zornigen Lächeln.

»Ebensogut könntest du den Ätna auf sie wälzen und sie dann aufstehen heißen, ein einzelner vermag nichts gegen eine Gemeinschaft. Soll Erziehung wirksam sein, muß sie vom Staat ausgehen; oder man muß allgemein darin übereinstimmen, ehe man sie in Umlauf setzt.«

»Du hast den ersten Wurf«, sagte Alfred, und die Brüder waren bald so in ihr Spiel vertieft, daß sie nichts mehr hörten, bis das Getrampel von Pferdehufen unter der Veranda zu vernehmen war.

»Dort kommen die Kinder«, sagte Augustin aufstehend. »Sieh doch, Alf! Hast du je ein so hübsches Bild gesehen?« Es war tatsächlich ein hübscher Anblick. Henrique, mit seiner kühnen Stirn unter dunklen, glänzenden Locken und seinen glühenden Wangen, lachte fröhlich, als er sich beim Näherkommen zu seiner Kusine beugte. Sie trug ein blaues Reitkleid mit einer Kappe in derselben Farbe. Die frische Luft hatte ihre Wangen gerötet und die Wirkung ihrer durchsichtigen Haut und des goldenen Haares gesteigert.

»Bei Gott, welch blendende Schönheit!« sagte Alfred. »Ich versichere dir, Augustin, sie wird eines Tages noch Herzen brechen.«

»Ja, das wird sie — Gott weiß, wie ich das fürchte!« sagte St. Clare in einem Ton plötzlicher Bitterkeit, als er hinuntereilte, um das kleine Mädchen vom Pferd zu heben.

»Eva, mein Liebling, bist du nicht zu müde?« fragte er, als er sie in die Arme schloß.

»Nein, Papa«, antwortete das Kind; aber ihr kurzer, harter Atem beunruhigte den Vater.

»Warum bist du so schnell geritten, mein Herzblatt? Du weißt doch, es ist nicht gut für dich.«

»Es ging mir so gut, Papa, und machte mir solch großen Spaß, da habe ich es vergessen.«

St. Clare trug sie auf seinen Armen ins Wohnzimmer und legte sie aufs Sofa.

»Henrique, du mußt auf Eva aufpassen«, sagte er, »sie darf nicht so schnell reiten.«

»Ich werde sie unter meinen Schutz nehmen«, antwortete Hen–rique, setzte sich neben das Sofa und ergriff Evas Hand.

Eva erholte sich rasch. Ihr Vater und Onkel kehrten zu ihrem Spiel zurück und ließen die Kinder allein.

»Weißt du, Eva, ich bin so traurig, daß Papa nur zwei Tage hier bleibt. Ich werde dich dann so lange nicht wiedersehen. Wenn ich bei dir bliebe, wollte ich schon gut sein und mich nicht über Dodo ärgern. Ich will Dodo nicht schlecht behandeln; ich gerate nur so schnell in Wut. Dabei bin ich gar nicht böse zu ihm. Ich gebe ihm immer mal ein Trinkgeld, und du siehst doch, er ist auch gut angezogen. Ich finde, im ganzen geht es Dodo gar nicht schlecht.«

»Würdest du auch denken, es ginge dir nicht schlecht, wenn du in der ganzen Welt niemand hast, der dich liebhat?«

»Ich? Nein, natürlich nicht!«

»Und doch hast du Dodo von allen Freunden weggenommen, und nun hat er niemand mehr: da kann keiner gut sein.«

»Aber das kann ich nicht ändern. Ich kann ihm seine Mutter nicht verschaffen, und ich selbst kann ihn nicht liebhaben.«

»Und warum nicht?«

»Dodo liebhaben? Aber Eva, das wirst du nicht verlangen. Ich kann ihn gern haben, aber seine Diener kann man nicht liebhaben.«

»Ich tue es.«

»Wie komisch.«

»Sagt nicht die Bibel, wir sollen alle liebhaben?«

»Ach, die Bibel! Sicher sagt sie viel dergleichen, aber niemand denkt daran, das zu befolgen — du weißt doch, Eva, niemand!«

Eva sagte nichts; ihre Augen blickten ihn nachdenklich an.

»Auf jeden Fall«, sagte sie, »lieber Vetter, hab du den armen Do–do lieb, und sei gut zu ihm, meinetwegen.«

»Deinetwegen, Kusinchen, tu ich alles; denn ich finde, du bist das lieblichste Geschöpf, das ich kenne.« Henrique hatte mit solchem Ernst gesprochen, daß sein hübsches Gesicht erglühte. Eva nahm es in aller Unschuld hin, ohne daß sich ihre Züge veränderten. Sie sagte nur: »Da bin ich sehr froh, Henrique. Hoffentlich vergißt du es nicht.«

Der Gongschlag beendete ihre Unterhaltung.

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