Der Bodenspeicher in Legrees Haus war wie die meisten Speicher ein großer, öder, staubiger Raum, von Spinnweben durchzogen und vollgestellt mit altem Gerümpel. Die reiche Familie, die das Haus in der Zeit seines Glanzes bewohnte, hatte eine Menge prächtiger Möbel angeschafft, von denen sie einige mitgenommen, andere in den unbenutzten, modrigen Räumen zurückgelassen oder hier oben verstaut hatte. Zwei von den riesigen Holzverschlägen, in denen diese Möbel verpackt gewesen, standen auf beiden Seiten des Speichers. Durch die trüben, schmutzigen Scheiben eines kleinen Fensters fiel ein unsicheres Licht auf große, hochlehnige Stühle und verstaubte Tische, die einst bessere Tage gesehen. Im ganzen war es ein wenig einladender, spukhafter Ort, und es fehlte auch nicht an Schauermärchen bei den abergläubischen Negern, um seine Schrecken noch zu steigern.
Allmählich wurde die Treppe, die zum Speicher führte, ja selbst der Flur vor der Treppe von allen im Hause gemieden; jeder scheute sich, davon zu sprechen. Da fiel es Cassy plötzlich ein, sich Leg–rees abergläubische Erregbarkeit zum Zwecke ihrer und ihrer Leidensgenossin Flucht zunutze zu machen.
Cassys Schlafgemach befand sich unmittelbar unter dem Speicher. Eines Tages machte sie sich plötzlich daran, ohne Legree weiter zu fragen, mit großem Aufwand ihre Möbel und Habseligkeiten aus diesem Raum in einen weit entlegeneren zu transportieren. Die Dienstboten, die sie zu diesem Wechsel bestellt hatte, rannten mit großem Eifer und Getöse hin und her, als Legree von seinem Ritt zurückkehrte.
»Hallo, Cass!« rief er, »woher weht denn jetzt der Wind?«
»Von nirgends; ich habe mir nur eine andere Stube ausgesucht«, erwiderte Cassy trotzig.
»Und weshalb, bitte schön?« fragte Legree.
»Weil es mir so paßt«, sagte Cassy.
»Zum Teufel! Weshalb?«
»Um hin und wieder auch einmal zu schlafen.«
»Zu schlafen? Wer hindert dich am Schlafen?«
»Ich könnte es dir schon sagen, wenn du es wissen willst.«
»So sprich doch!« drängte Legree.
»Oh, es ist nichts weiter. Dich würde es vermutlich nicht stören. Ich hörte nur ein Stöhnen da oben und Leute, die mit den Füßen schlurfen und die halbe Nacht über den Speicherboden rollen.«
»Leute auf dem Speicher?« fragte Legree beunruhigt, aber mit erzwungenem Lachen; »was für Leute, Cassy?«
Cassy schlug ihre scharfen, schwarzen Augen auf und sah Legree mit einem Ausdruck ins Gesicht, der ihm durch alle Knochen fuhr, während sie zur Antwort gab: »Ja, Simon, was für Leute? Ich hätte gern, wenn du es mir sagtest. Du wirst es aber wahrscheinlich nicht wissen! Aber wenn du in dem Zimmer schlafen willst, wirst du wissen, was los ist. Vielleicht versuchst du es einmal!« Und sofort hatte sie die Tür geschlossen und verriegelt.
Legree tobte, fluchte und drohte, die Tür einzubrechen; aber anscheinend besann er sich eines Besseren und ging beunruhigt in sein Wohnzimmer. Cassy stellte fest, daß ihr Pfeil getroffen hatte; und seit dieser Stunde versäumte sie nie wieder, mit aller Umsicht an diesem Faden weiterzuspinnen.
In einem Astloch des Speichers befestigte sie einen alten Flaschenhals derart, daß bei dem geringsten Lufthauch ein trauriges, langgezogenes Wehgeheul entstand, welches bei stärker werdendem Wind zu einem Kreischen anschwoll und abergläubischen Ohren leicht als ein Schreien des Entsetzens und der Verzweiflung erscheinen konnte.
Auch die Dienerschaft vernahm diese Geräusche von Zeit zu Zeit, und die Erinnerung an die alte Spukgeschichte erstand zu neuem Leben. Ein schleichendes Entsetzen schien durch das Haus zu kriechen; wenn keiner wagte, es Legree gegenüber zu erwähnen, so fand er sich doch davon eingehüllt wie von einer Luftschicht.
Durch seinen Zusammenprall mit Tom war in Legree das schlummernde moralische Element geweckt worden — geweckt nur, um von der Kraft des Bösen entschlossen bekämpft zu werden; aber in die Verstocktheit und Finsternis seiner Seele war Bewegung gekommen. Jedes Wort, Gebet oder Choral, löste in ihm eine abergläubische Furcht aus.
Neuerdings war Cassy ihm gegenüber gereizter und entschlossener geworden, der halbe Wahnsinn ihres Gemüts gab jedem ihrer Worte eine seltsame, schillernde, unstete Bedeutung.
Zwei Nächte später saß Legree unten in seinem alten Wohnzimmer neben einem flackernden Holzfeuer, das seinen unruhigen Schein ins Zimmer warf. Es war eine von den stürmischen, windbewegten Nächten, die in jedem alten, windschiefen Hause unzählige unbestimmte Geräusche hervorrufen. Fenster rüttelten, Läden klapperten, der Wind heulte und rumpelte, fuhr polternd in den Schornstein hinein und blies immer wieder Rauch und Asche hoch, als ob eine ganze Teufelshorde hinter ihm drein stolperte. Legree hatte einige Stunden mit Aufstellen von Rechnungen und Zeitungslesen zugebracht, während Cassy in ihrer Ecke saß und finster ins Feuer starrte. Jetzt legte Legree die Zeitung fort und sah ein altes Buch auf dem Tisch liegen, das Cassy zuvor gelesen hatte; er nahm es auf und blätterte darin. Es war eine jener Sammlungen von Erzählungen blutiger Mordtaten, Spukerscheinungen und Geisterbeschwörungen, die roh zurechtgezimmert und illustriert jeden Leser seltsam faszinieren, sobald er mit Lesen angefangen.
Legree rümpfte verächtlich die Nase, aber er las und wendete eine Seite nach der andern um, bis er das Buch schließlich halb durchgelesen mit einer Verwünschung hinwarf.
»Du glaubst doch nicht an Geister, Cass, wie?« sagte er, den Feuerhaken aufnehmend, um das Feuer zu schüren. »Ich hätte ja nicht gedacht, daß du so unvernünftig bist und dich von Geräuschen ängstigen läßt.«
»Es ist doch wohl egal, was ich glaube«, erwiderte Cassy abweisend.
»Die Kameraden auf See wollten mir mit ihren Geschichten auch immer einen Schrecken einjagen«, sagte Legree. »Damit kamen sie aber bei mir an den Verkehrten. Für solchen Unfug war ich zu abgebrüht, kann ich dir sagen.«
Cassy blickte ihn von ihrer Ecke aus durchdringend an. Wieder erschien das seltsame Licht in ihren Augen, das Legree immer mit Unruhe erfüllte.
»Der Lärm neulich rührte nur von Ratten und vom Wind her«, fing er wieder an. »Ratten können ja einen Höllenspektakel machen. Im Schiff hatten wir welche, die hörte ich auch; und der Wind — bei Gott, aus Wind kann man alles raushören.«
Cassy wußte, daß es Legree bei ihrem Blick nicht geheuer war, deshalb gab sie keine Antwort, sondern saß nur unbeweglich und starrte ihn mit seltsamen, unwirklichen Augen an.
»Komm, sag etwas — bist du anderer Meinung?«
»Können Ratten Treppen steigen und über den Flur gehen? Können sie eine verriegelte Tür öffnen, wenn man innen einen Stuhl dagegenlehnt?« fragte Cassy; »können sie mit langen, langen Schritten an dein Bett treten und dir eine Hand auflegen, so?«
Cassy hatte beim Sprechen Legree mit ihren glitzernden Augen fest angeblickt, und er starrte sie wie unter einem schweren Alpdruck an, bis sie geendet und ihre eiskalte Hand auf die seine legte; da sprang er mit einer Verwünschung in die Höhe.
»Was soll das heißen! Das hat doch niemand getan?«
»Oh, nein — gewiß nicht — hab ich das behauptet?« erwiderte Cas–sy und lächelte in eiskaltem Spott.
»Aber — haben sie — hast du sie wirklich gesehen? Komm, Cass, nun sprich schon!«
»Du kannst ja selbst da schlafen, wenn du es wissen willst!«
»Kam es vom Speicher, Cassy?«
»Es? Was?«
»Na — du sagtest doch.«
»Ich sagte gar nichts«, sagte Cassy in störrischem Eigensinn.
Legree ging jetzt unruhig im Zimmer auf und ab.
»Ich werde dieser Sache nachgehen. Ich werde es noch heute nacht feststellen. Ich werde meine Pistole mitnehmen.«
»Tu das, schlaf in dem Zimmer. Das würde ich gern sehen. Schieß deine Pistole ab — tu das!«
Legree stampfte mit dem Fuß auf und fluchte heftig.
»Fluche nicht«, sagte Cassy; »niemand kann wissen, wer zuhört. Horch! Was war das?«
»Was?« fragte Legree auffahrend.
Die schwere, alte Holländeruhr in der Zimmerecke schlug zwölf Uhr. Aus unerklärlichen Gründen blieb Legree stehen, er verstummte und rührte sich nicht; eine unbestimmte Angst befiel ihn, während Cassy, in den Augen noch immer das harte, höhnische Grinsen, ihn ansah und die Schläge zählte.
»Zwölf Uhr; ja jetzt wollen wir sehen«, sagte sie; sie öffnete die Tür zum Flur und blieb lauschend stehen.
»Horch, was ist das?« fragte sie und hob den Finger.
»Nur der Wind!« antwortete Legree. »Hörst du nicht, wie wild er bläst?«
»Simon, komm mal her!« flüsterte Cassy, berührte seine Hand und führte ihn zur Treppe. »Weißt du denn, was das ist? Horch!«
Ein wildes Kreischen ertönte durchs Treppenhaus. Es kam vom Speicher. Legrees Knie schlotterten; sein Gesicht war leichenblaß vor Angst.
»Holst du nicht lieber deine Pistole?« fragte Cassy mit einem Lachen, das Legree durch Mark und Knochen fuhr. »Man muß der Sache doch einmal nachgehen. Mir wäre es am liebsten, du gingst jetzt hinauf; jetzt sind sie dabei.«
»Jetzt will ich nicht hinauf!«
»Warum nicht? Du weißt doch, daß es Geister und dergleichen nicht gibt! Komm doch!« und Cassy floh lachend die gewundene Treppe hinauf und rief zurück: »Komm doch!«
»Ich glaube, du bist selbst der leibhaftige Teufel! Komm zurück! Komm zurück, Cass! Du sollst auch nicht hinaufgehen.«
Aber Cassy eilte mit wildem Lachen weiter. Er hörte, wie sie die Flurtür öffnete, die zum Speicher führte. Ein heftiger Windstoß fuhr herab und löschte die Kerze aus, die er in der Hand hielt, dabei erklangen grausige, unwirkliche Schreie; es war, als gellten sie ihm direkt in die Ohren. Legree stürzte ins Wohnzimmer zurück, wohin Cassy ihm einige Minuten später folgte, blaß, ruhig und kalt wie ein Racheengel, noch immer das entsetzliche Licht in den Augen.
»Ich hoffe, es hat dir genügt«, sagte sie.
»Die Pest soll dich holen, Cass!« erwiderte Legree.
»Weshalb? Ich bin nur hinaufgegangen und habe die Türen geschlossen. Was hat es mit dem Speicher für eine Bewandtnis, Simon, was denkst du?« fragte sie.
»Das geht dich gar nichts an!«
»So? Na gut«, sagte Cassy, »auf jeden Fall bin ich heilfroh, daß ich nicht mehr darunter schlafe.«
Cassy, die vorausgesehen hatte, daß der Wind sich noch am Abend erheben würde, war am Nachmittag oben gewesen und hatte die Bodenfenster geöffnet. Als sie nun vorhin die Tür aufmachte, war natürlich der Wind mit aller Gewalt heruntergefahren und hatte das Licht ausgeblasen.
In dieser Weise trieb Cassy ihr loses Spiel mit Legree, bis er soweit war, daß er eher seinen Kopf in den Rachen eines Löwen gesteckt, als den Speicher untersucht hätte. Inzwischen aber legte sie nachts, wenn alles schlief, dort oben langsam und umsichtig einen Vorrat an, groß genug, um sie einige Tage lang mit allem Notwendigen zu versorgen; Stück für Stück trug sie auch den größten Teil von Emmelines und ihrer eigenen Garderobe hinauf. Nachdem alles vorbereitet war, warteten sie nur auf eine günstige Gelegenheit, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.
Zuletzt hatte sie Legree bei guter Laune gehalten und, sich seine bessere Gemütswandlung zunutze machend, ihn bewogen, daß er sie auf einer seiner Fahrten in die nächste Stadt mitnahm, die direkt am Red River lag. Mit ihrem zu äußerster Schärfe angespannten Gedächtnis prägte sie sich jede Straßenbiegung ein und überschlug in Gedanken die Zeit, die für einen Fußmarsch erforderlich war.
Da nun die Zeit zum Handeln herangereift war, möchte der Leser vielleicht einen Blick hinter die Kulissen werfen, um zu sehen, wie endlich der Handstreich vonstatten ging.
Es war gegen Abend. Legree war am Nachmittag zu Pferde bei einem entfernten Nachbarn gewesen. Seit vielen Tagen schon hatte sich Cassy ungewöhnlich gnädig und umgänglich gezeigt; sie befand sich mit Legree scheinbar in bestem Einvernehmen. Gegenwärtig treffen wir sie bei Emmeline, in deren Kammer sie eilig zwei kleine Bündel auswählt und zusammenschnürt.
»Das wär' geschafft; sie sind groß genug«, sagte Cassy. »Und nun setz dein Häubchen auf und laß uns aufbrechen; jetzt ist der richtige Augenblick gekommen.«
»Aber noch können sie uns sehen«, entgegnete Emmeline.
»Das sollen sie ja«, meinte Cassy kaltblütig. »Weißt du nicht mehr, daß sie uns auf jeden Fall verfolgen müssen? Die Sache soll sich folgendermaßen abspielen: Wir schleichen uns zur Hintertür hinaus und laufen unten beim Quartier vorbei. Sambo und Quimbo werden uns bestimmt erkennen. Sie werden die Jagd aufnehmen, und wir verschwinden in den Sümpfen. Dann können sie uns nicht länger folgen, bevor sie nicht Lärm geschlagen und die Hunde geholt haben; während sie alle durcheinanderrennen und übereinanderpurzeln, wie das immer der Fall ist, werden wir beide uns zu dem Bächlein durchschlängeln, das hinter dem Haus vorbeifließt, und darin zurückwaten, bis wir wieder an der Hintertür angelangt sind. Das wird die Hunde irreleiten, denn im Wasser verliert sich die Spur. Jeder wird aus dem Haus gestürzt sein, um uns zu suchen, wir stehlen uns zur Hintertür hinein und laufen zum Speicher, wo ich uns in den großen Holzverschlägen ein behagliches Lager aufgeschlagen habe. Auf dem Speicher werden wir längere Zeit bleiben müssen; denn, das kann ich dir sagen, Himmel und Erde wird er in Bewegung setzen, um uns zu finden. Er wird sich einige Aufseher von den Nachbarfarmen holen und eine große Jagd veranstalten, zentimeterweise werden sie das Gelände, jeden Busch und die Sümpfe absuchen.«
»Cassy, wie gut habt Ihr das alles geplant!« sagte Emmeline. »Wer hätte sich das wohl sonst so großartig ausgedacht?«
Aber in Cassys Augen spiegelten sich weder Freude noch Triumph — nur eine verzweifelte Entschlossenheit.
»Komm«, sagte sie und nahm Emmeline bei der Hand.
Lautlos glitten die beiden Flüchtlinge aus dem Hause und huschten bei einbrechender Dunkelheit unten am Quartier vorbei. Die zunehmende Mondsichel stand wie ein Silberzeichen am westlichen Abendhimmel und zögerte noch ein wenig die Ankunft der Nacht hinaus. Wie Cassy erwartet hatte, hörten sie, als sie sich dem Rande der Sümpfe näherten, welche die Plantage umgab, wie eine Stimme sie anrief und zum Halten aufforderte. Es war allerdings nicht Sambo, sondern Legree, der sie mit wilden Flüchen verfolgte. Bei diesem Klang gaben Emmelines schwache Nerven nach; sie umklammerte Cassys Arm und sagte: »O Cassy, ich werde ohnmächtig!«
»Untersteh dich! Dann bring ich dich um!« erwiderte Cassy und zückte einen kleinen, blitzenden Dolch, den sie dem Mädchen drohend vor die Augen hielt.
Damit hatte sie ihre Absicht erreicht. Emmeline wurde nicht ohnmächtig, sondern brachte es fertig, mit Cassy in die Sumpfwildnis einzudringen, wo es so dicht und dunkel war, daß Legree zunächst die Verfolgung als hoffnungslos aufgeben und Hilfe holen mußte.
»Na«, sagte er mit brutalem Grinsen, »auf jeden Fall ist mir das Pack in die Falle gegangen. Da sind sie sicher. Das sollen sie mir büßen!«
»Heda! Sambo! Quimbo! Hallo, Leute!« rief Legree, beim Quartier angekommen, als gerade alle Frauen und Männer von der Arbeit zurückströmten. »Da sind zwei Ausreißer in den Sümpfen. Ich geb' jedem Nigger, der sie mir fängt, fünf Dollar, hört ihr, fünf Dollar! Laßt die Hunde los. Laßt Tiger und Wutgeheul laufen.«
Bei dieser Nachricht brach augenblicklich ein Aufruhr los. Viele der Leute sprangen eilfertig herbei und boten ihre Dienste an, teils in der Hoffnung auf die Belohnung, teils aus jener servilen Kriecherei, eine der beschämendsten Folgen ihrer Knechtschaft. Einige rannten hierhin, andere dorthin. Einige besorgten sich Kienfackeln, andere banden die Hunde los, deren heiseres, wütendes Gebell nicht wenig zu dem allgemeinen Trubel beitrug.
»Herr, sollen wir schießen, wenn wir sie aufspüren?« fragte Sambo, als sein Herr ihm ein Gewehr aushändigte.
»Du kannst auf Cassy schießen, wenn du willst; es wird Zeit, daß man sie in die Hölle befördert, wo sie hingehört; aber nicht auf das Mädchen«, sagte Legree. »Und nun Jungens, munter und flink! Fünf Dollar für den, der sie fängt; und für jeden ein Glas Schnaps obendrein.«
Nun brach die ganze Horde im Schein der lodernden Fackeln unter dem wütenden Gebell der Tiere und dem gellenden Geschrei der Menschen zu den Sümpfen auf, gefolgt von dem gesamten Hauspersonal. Infolgedessen lag das ganze Gebäude völlig verlassen da, als Cassy und Emmeline es von rückwärts betraten. Noch war die Luft angefüllt von dem Lärmen ihrer Verfolger; durch die Wohnzimmerfenster konnten die beiden Frauen den Trupp mit seinen Fackeln sehen, wie er sich am Rande der Sümpfe in langer Kette auflöste.
»Da sieh!« sagte Emmeline und deutete hinaus, »die Jagd hat begonnen! Sieh, wie die Lichter tanzen! Horch! Die Hunde! Hörst du sie nicht? Wenn wir jetzt da unten wären, stünde es schlecht um uns! O Gott, wir wollen uns bloß verstecken. Schnell doch!«
»Jetzt eilt es nicht«, antwortete Cassy kaltblütig; »die sind alle auf der Jagd — das ist das Vergnügen des Abends. Langsam werden wir uns hinaufziehen. Inzwischen«, sagte sie und zog vorsichtig einen Schlüssel aus der Jackentasche, die Legree in der Eile über einen Stuhl geworfen hatte, »inzwischen werde ich mir hier unser Reisegeld besorgen.«
Sie schloß den Schreibtisch auf und nahm ein Bündel Banknoten heraus, das sie eilig nachzählte.
»Ach, das wollen wir doch lieber nicht tun!« sagte Emmeline.
»Nicht?« fragte Cassy, »warum nicht? Willst du in den Sümpfen verhungern oder hiermit die Reise in die freien Staaten bezahlen? Geld vermag alles, Mädchen.« Und schon hatte sie das Geld in ihren Kleidausschnitt gesteckt.
»Es wäre doch Diebstahl«, flüsterte Emmeline in ängstlichem Flüsterton.
»Diebstahl!« Cassy lachte zornig. »Wer uns an Leib und Seele bestiehlt, darf nicht davon sprechen. Jeder einzelne dieser Scheine ist gestohlen — gestohlen von armen, verhungerten Geschöpfen, die für ihn schuften und schließlich seinetwegen vor die Hunde gehen müssen. Laß ihn von Diebstahl reden! Aber komm jetzt, wir können nun ebensogut hinaufgehen; ich habe da oben auch Kerzen aufgehoben und ein paar Bücher, damit uns die Zeit nicht lang wird. Du kannst ganz beruhigt sein, dort wird uns niemand suchen; sonst werde ich als Gespenst umgehen.«
Als Emmeline den Speicher betrat, fand sie den riesigen Holzverschlag, in dem einst schwere Möbel transportiert worden waren, auf die Seite gerückt, so daß die Öffnung sich der Wand oder vielmehr der Dachrinne gegenüber befand. Cassy zündete eine kleine Lampe an, dann krochen sie unter der Dachrinne entlang und richteten sich in dem Verschlag häuslich ein. Er war mit ein paar kleinen Matratzen und Kissen ausgelegt, eine Kiste daneben trug einen reichlichen Vorrat von Kerzen, Lebensmitteln und den nötigen Reisekleidern, die Cassy in zwei erstaunlich kleinen Bündeln untergebracht hatte.
»Dies wird also eine Zeitlang unsere Bleibe sein«, sagte Cassy und hängte die Lampe an einen kleinen Haken, den sie zu diesem Zweck in die Holzwand geschlagen hatte. »Wie gefällt sie dir?«
»Seid Ihr auch ganz sicher, daß man den Speicher nicht durchsucht?«
»Ich möchte Simon Legree wohl dabei sehen«, antwortete Cassy. »Nein, er wird wahrhaftig heilfroh sein, daß er sich fernhalten kann. Und was das Personal angeht, so wird sich jeder eher an die Wand stellen und erschießen lassen, als daß er sich hier herauf wagt.«
Etwas beruhigter lehnte sich Emmeline in die Kissen zurück.
»Was meintet Ihr damit, Cassy, als Ihr sagtet, Ihr wolltet mich töten?« fragte sie.
»Ich wollte dich am Ohnmächtigwerden hindern, und das ist mir gelungen. Laß dir das gesagt sein, Emmeline, du mußt dir fest vornehmen, nicht in Ohnmacht zu fallen, was auch immer kommen mag; dafür haben wir jetzt keine Verwendung. Hätte ich dich nicht gehindert, wärest du dem Bösewicht jetzt in die Hände gefallen.«
Emmeline fuhr schaudernd zusammen.
Beide verstummten für eine Weile. Laute Rufe, Pferdegetrappel und Hundegebell weckten sie; mit einem unterdrückten Schrei fuhr sie in die Höhe.
»Das sind nur die zurückgekehrten Jäger«, sagte Cassy beruhigend; »hab keine Angst, schau hier durch das Astloch. Siehst du sie nicht alle da unten? Simon muß es für heute abend aufgeben; sieh nur, wie schlammbedeckt sein Pferd ist von dem Umherstreifen im Sumpf; auch die Hunde sehen recht abgekämpft aus. Ach, lieber Herr, und wenn Ihr die Jagd aufs neue wagt — das Wild ist dort längst entschlüpft!«
»Oh, sprecht doch nicht!« bat Emmeline; »was geschieht, wenn Euch jemand hörte?«
»Wenn sie wirklich etwas hören, haben sie allen Grund, sich fernzuhalten«, sagte Cassy. »Da besteht keine Gefahr; wir können jeden Lärm machen, das wird unsere Wirkung nur steigern.«
Schließlich senkte sich die Stille der Mitternacht über das Haus, und Legree ging, sein Pech verwünschend, zu Bett; für den morgigen Tag schwor er bittere Rache.