15. Kapitel Von Toms neuem Herrn und manchen anderen Dingen

Nachdem sich der Lebensfaden unseres bescheidenen Helden in das Schicksal höher gestellter Menschen verwoben hat, sehen wir uns genötigt, diese erst einmal vorzustellen.

Augustin St. Clare war der Sohn eines reichen Pflanzers in Louisiana. Seine Familie stammte ursprünglich aus Kanada. Von zwei Brüdern, sehr ähnlich im Charakter und Temperament, hatte sich der eine auf einer blühenden Farm in Vermont niedergelassen, während der andere eben jener mächtige Pflanzer in Louisiana geworden war. Augustins Mutter stammte aus einer französischen Hugenottenfamilie, die in Louisiana eingewandert war, als dieses Land eben besiedelt wurde. Augustin und sein Bruder waren die einzigen Kinder ihrer Eltern. Er hatte von seiner Mutter die ungewöhnlich zarte Gesundheit geerbt, so daß man ihn während seiner Kindheit auf ärztlichen Rat für mehrere Jahre der Obhut seines Onkels in Vermont anvertraute, damit er sich in dem rauhen Klima kräftigen möge.

Während seiner Kindheit zeichnete er sich durch eine ungewöhnliche Weichheit des Charakters aus, wie man sie mehr bei der Sanftheit des weiblichen Geschlechts als bei der üblichen Härte seines eigenen vermutet. Mit der Zeit jedoch überzog sich diese Weichheit mit der rauhen Rinde seiner Männlichkeit, nur wenige ahnten, wie lebendig und frisch sie noch darunter fortbestand. Er besaß reiche Gaben des Geistes. In einem der Randstaaten lernte er ein hochgesinntes, schönes Mädchen kennen, gewann ihre Liebe und verlobte sich mit ihr. Er kehrte in den Süden zurück, um die Vorbereitungen zur Hochzeit zu treffen, als er völlig unerwartet seine Briefe durch die Post zurückerhielt und eine kurze Mitteilung ihres Vormundes ihn in Kenntnis setzte, daß seine Braut noch vor Eintreffen dieser Zeilen die Gattin eines anderen sein werde. St. Clare glaubte, den Verstand zu verlieren. Zu stolz, um Erklärungen zu erbitten oder einzuholen, warf er sich unverzüglich in den Strudel rauschender Geselligkeit und war schon vierzehn Tage nach Empfang des Briefes der Auserwählte der gefeierten Schönheit der Saison. Die Hochzeit wurde sogleich angesetzt, und schon war er der Gemahl einer Frau, die ihm eine blendende Figur, glänzende, dunkle Augen und hunderttausend Dollar in die Ehe brachte. Natürlich hielt ihn alle Welt für einen ausgemachten Glückspilz.

Das junge Paar verbrachte seine Flitterwochen im glänzenden Freundeskreis in einer herrlichen Villa am See Pontchartrein, als man ihm eines Tages einen Brief brachte, dessen Handschrift ihm nur allzu vertraut war. Er erhielt ihn, als er ausgelassen und sprühend eine ganze Gesellschaft unterhielt. Beim Anblick der Handschrift wurde er totenblaß, aber er bewahrte seine Fassung und beendete das Wortgeplänkel mit seiner reizenden Nachbarin, kurz danach vermißte man ihn im Kreise. Allein in seinem Zimmer öffnete und las er den Brief, der doch viel zu spät kam. Er war von ihr und enthielt einen langen Bericht über Verfolgungen, die sie von seiten der Familie ihres Vormundes hatte erdulden müssen, um sie zu veranlassen, sich mit dessen Sohn zu verbinden. Sie berichtete, wie seit längerer Zeit seine Briefe ausgeblieben waren, wie sie immer wieder geschrieben hatte, um endlich voll Zweifel und Elend zu verzagen. Der Brief schloß mit dem Ausdruck der Hoffnung und Dankbarkeit, mit Beteuerungen der unverbrüchlichen Liebe, die dem unseligen jungen Mann bitterer als der Tod erschienen. Umgehend schrieb er zurück:

»Ich habe Deinen Brief erhalten — aber zu spät. Ich habe alles geglaubt, was man mir sagte. Ich war vollkommen verzweifelt. Ich bin verheiratet, und alles ist aus. Du mußt vergessen — das ist alles, was uns beiden übrigbleibt.«

Und so endete das Lebensideal, die ganze Romantik des Lebens für Augustin St. Clare. Nur die Wirklichkeit war ihm verblieben, eine flache, leere Wirklichkeit.

Natürlich, in einem Roman bricht den Leuten das Herz, und sie sterben, damit endigt das Ganze, und in einer Geschichte ist das sehr praktisch. Aber im wirklichen Leben sterben wir nicht, wenn alles, was uns das Leben hell macht, zugrunde geht. Da bleibt noch immer der gewichtige Kreislauf von Essen und Trinken, von Ankleiden und Ausgehen, von Besuchen, von Kaufen und Verkaufen, von Reden und Lesen; was wir gemeinhin das Leben nennen bleibt übrig und ist zu bestehen, und dieses blieb auch Augustin übrig. Wäre seine Frau eine richtige Frau gewesen, hätte sie noch manches tun können — wie Frauen das verstehen -, um die zerrissenen Fäden seines Lebens wieder anzuknüpfen und sie aufs neue zu einem glänzenden Gewebe zu verarbeiten. Aber Marie St. Clare bemerkte nicht einmal, daß sie zerrissen waren. Wie wir bereits berichteten, bestand sie aus einer blendenden Figur, glänzenden Augen und hunderttausend Dollar. Keine dieser Eigenschaften war dazu angetan, ein krankes Gemüt zu pflegen.

Im Grunde seines Herzens war Augustin froh, daß er eine so wenig einsichtige Frau geheiratet hatte; aber als der erste Glanz der Flitterwochen verflogen war, entdeckte er, daß eine schöne, junge Frau, die ihr Leben lang nur verhätschelt und bedient worden war, im täglichen Leben eine sehr harte Herrin sein kann. Marie hatte nie viel Gefühl oder Gemüt besessen, das wenige aber, was sie hatte, wurde von einer großen Selbstsucht aufgesogen.

Als St. Clare anfing, in seinem Unglück die kleinen Aufmerksamkeiten zu unterlassen, kam es zu Tränenströmen, Schmollen und heftigen Ausbrüchen, zu Auftritten, Klagen und Beschwerden. St. Clare war gutherzig und nachgiebig und suchte sie mit Geschenken und Schmeicheleien zu beschwichtigen, und als Marie ihm eine süße, kleine Tochter schenkte, empfand er große Zärtlichkeit für sie.

St. Clares Mutter war eine Frau von ungewöhnlicher Hoheit und Reinheit des Charakters gewesen, daher gab er seinem Kind den Namen seiner Mutter in der zärtlichen Vorstellung, daß sie damit zu deren Ebenbild werde. Dies war seiner Frau nicht entgangen, sie betrachtete die hingebende Liebe ihres Mannes zu dem Kinde mit Argwohn und Abneigung.

Mit ihren Klagen nahm es kein Ende. Aber ihre ganze Stärke schien in der Migräne zu liegen, die sie zuweilen drei Tage in der Woche ans Zimmer fesselte. Damit fiel natürlich die Lenkung des Haushalts den Dienstboten zu, so daß St. Clare sein häusliches Leben keineswegs als behaglich empfand. Seine kleine Tochter war sehr zart. Da niemand sich um sie kümmerte und nach ihr sah, mußte er fürchten, daß ihre Gesundheit und ihr Leben der Unfähigkeit ihrer Mutter zum Opfer fallen könnte. Daher hatte er sie auf eine Reise nach Vermont mitgenommen und seine Kusine, Miß Ophelia St. Clare überredet, gemeinsam mit ihnen in die Südstaaten zurückzukehren. Auf unserem Dampfer, wo wir sie soeben vorstellten, befanden sie sich auf der Heimreise.

Während sich in der Ferne bereits die Türme und Dächer von New Orleans abzeichnen, bleibt uns noch Zeit genug, auch Miß Ophelia vorzustellen.

Auf einer Farm voll Ordnung und Sauberkeit, in einer Familie von strengen Grundsätzen und in einem Hause, das stets aussah, als ob gerade alles frisch aufgeräumt wäre, hatte Miß Ophelia ein ruhiges Leben von ungefähr fünfundvierzig Jahren zugebracht, als ihr Vetter kam und sie nach den Südstaaten einlud. Als Älteste einer großen Familie wurde sie von Vater und Mutter noch immer als >eins der Kinder< betrachtet, und der Vorschlag, nach Orleans zu reisen, war für den ganzen Familienkreis ein Ereignis. Der alte grauköpfige Vater holte den Atlas aus dem Bücherschrank und schlug den genauen Breiten–und Längengrad nach; er zog verschiedene Reiseführer zu Rate, um sich über das fremde Land eine Meinung zu bilden.

Die gute Mutter fragte ängstlich, ob >Orleans nicht ein gottloser Ort sei<, und erklärte, daß ihr eine solche Reise nicht anders vorkäme, als wenn sie nach den Sandwich–Inseln oder unter die Heiden führe.

Der Leser sieht Miß Ophelia jetzt in einem Reisekleid aus glänzend braunem Leinen, eine große, breitschultrige, eckige Gestalt. Ihr Gesicht war dünn, mit scharfen Umrißlinien, die Lippen zusammengepreßt wie bei Leuten, die gewohnt sind, über alle Dinge eine feste Meinung zu haben; während die lebhaften Augen einen merkwürdig forschenden und überlegten Ausdruck hatten und überall umherspähten, ob nicht etwas ihrer Obhut bedürfe.

Jede ihrer Bewegungen war scharf, bestimmt und energisch; und wenn sie auch nicht viel redete, so waren ihre Worte doch klar und unmißverständlich und trafen stets ins Ziel.

In ihren Gewohnheiten war sie die verkörperte Ordnung und Genauigkeit. Ihre Pünktlichkeit war so zuverlässig wie ein Uhrwerk und so unerbittlich wie eine Lokomotive, und sie verachtete und verabscheute entschieden alles, was in dieser Hinsicht ihrer Natur entgegengesetzt war.

Die Sünde aller Sünden in ihren Augen — die Summe aller Übel–gipfelte für sie in dem häufigen und wichtigen Ausdruck — Liederlichkeit^ In der Betonung des Wortes liederlich drückte sie ihre letzte und endgültige Verachtung aus, und damit bezeichnete sie jedes Verhalten, das nicht in direkter Beziehung zur Vollendung einer festen Absicht stand. Leute, die nichts taten oder nicht genau wußten, was sie eigentlich wollten, die nicht geradewegs auf ein festes Ziel zusteuerten, waren Gegenstand dieser völligen Verachtung, einer Verachtung, die sie weniger in Worten als in einem steinernen Ingrimm äußerte, als ob sie es verschmähte, der Sache Erwähnung zu tun.

Miß Ophelia war die absolute Sklavin des >du sollst<. War sie einmal überzeugt, in welcher Richtung der Pfad der Pflicht, wie sie es zu nennen liebte, verlief, so konnten weder Wasser noch Feuer sie davon abhalten. Sie würde stracks in einen Brunnen oder unbeirrt vor die Öffnung einer geladenen Kanone laufen, wenn sie nur wüßte, daß dieser Pfad dorthin führe. Ihr Rechtsbegriff war so hoch, so allumfassend und genau, er machte der menschlichen Schwäche so wenig Zugeständnisse, daß sie trotz heldenhafter Anstrengung ihn tatsächlich nie erfüllte und deshalb stets von dem nagenden Bewußtsein ihrer Unvollkommenheit besessen war. Dies gab ihrem religiösen Charakter einen strengen und düsteren Hintergrund.

Aber wie in aller Welt verträgt sich Miß Ophelia mit Augustin St. Clare — der so heiter, unbekümmert, unpünktlich, unpraktisch und skeptisch war? Der frech und liebenswürdig alle ihre behüteten Gewohnheiten und Meinungen über den Haufen warf?

Um die Wahrheit zu sagen: Miß Ophelia liebte ihn. Als Knabe hatte sie ihn im Katechismus unterwiesen, seine Kleider ausgebessert, ihm die Haare gebürstet und ihm den rechten Weg gezeigt; da auch ihr Herz eine weiche Stelle hatte, hatte sich Augustin, wie er das bei den meisten Menschen zu tun pflegte, dort sogleich eingenistet; daher war es ihm ein Leichtes gewesen, sie zu überzeugen, daß der Pfad der Pflicht nach New Orleans führte, daß sie ihn begleiten müsse, um Eva zu erziehen und seinen Hausstand vor Verfall und Ruin zu schützen, solange seine Frau noch kränklich war. Die Vorstellung eines Hauses, dem niemand vorstand, ging ihr zu Herzen, außerdem liebte sie das reizende kleine Mädchen, wie das den meisten Menschen erging, und wenn sie auch Augustin für einen Heiden hielt, so liebte sie ihn trotzdem, lachte über seine Späße und sah ihm seine Fehler in einer Weise nach, die alle, die sie kannten, für unmöglich hielten. Was nun noch weiter an Miß Ophelia zu erforschen ist, muß der Leser nach persönlicher Bekanntschaft selbst entdecken.

Wir finden sie jetzt in ihrer Kabine, umgeben von einer Unmenge von kleinen und großen Reisetaschen, Körben und Schachteln, alle gefüllt mit wichtigen Dingen, die sie mit ernstem Stirnrunzeln auf–und zuband, einpackte und befestigte.

»Na, Eva, hast du deine Sachen gezählt? Natürlich nicht, Kinder tun das nie. Also da ist die gepunktete Reisetasche und die kleine blaue Hutschachtel mit deinem besten Häubchen — das macht zwei, die Gummitasche sind drei, mein Nadelkästchen vier, meine Hutschachtel fünf und meine Kragenschachtel sechs und der kleine Koffer macht sieben. Wo hast du deinen Sonnenschirm? Gib ihn her, ich wickle ihn ein und befestige ihn an meinem Regenschirm–so geht es.«

»Aber Tantchen — wir gehen doch nach Hause; wozu das alles?«

»Damit alles hübsch in Ordnung bleibt, mein Kind; man muß seine Sachen schonen, wenn man es zu etwas bringen will im Leben. Und nun, Eva, ist dein Fingerhut eingepackt?«

»Wahrhaftig, Tantchen, das weiß ich nicht.«

»Na, das macht nichts; ich werde in deinem Handarbeitskästchen nachsehen; Fingerhut, Wachs, zwei Garnrollen, Schere, Messer, Bandnadel; gut, steck es ein. Was hast du nur angefangen, Kind, als du mit deinem Papa allein gereist bist? Ich könnte mir denken, du hast alles verloren.«

»Doch, Tantchen, ich habe auch eine Menge verloren. Wenn wir unterwegs anhielten, hat Papa mir dann alles wieder gekauft.«

»Gott bewahre mich, Kind! Was ist das für eine Art!«

»Das war eine höchst einfache Art, Tantchen«, sagte Eva.

»Das ist schrecklich liederlich«, erwiderte Tantchen.

»Aber, Tantchen, was tust du da?« fragte Eva. »Der Koffer ist zu voll, der geht nicht zu.«

»Er muß zugehen«, sagte Tantchen mit der Miene eines Generals, sie zwängte die Sachen hinein und setzte sich auf den Deckel, aber noch immer klaffte ein Spalt unter dem Kofferdeckel.

»Stell dich hier drauf, Eva!« sagte Miß Ophelia ermutigend, »was sein muß, muß sein. Dieser Koffer muß zugehen und zugeschlossen werden — da bleibt uns keine Wahl.«

Da gab der Koffer nach. Zweifellos hatte ihn dieser Ausspruch eingeschüchtert. Der Riegel schnappte ein; Miß Ophelia drehte den Schlüssel um und steckte ihn triumphierend in die Tasche.

»Jetzt sind wir soweit. Wo ist der Papa? Es wird Zeit, das Gepäck hinaufzutragen. Sieh einmal, Eva, ob du den Papa nicht findest.«

»Ja gewiß, er ist drüben in der Herrenkabine und ißt eine Apfelsine.«

»Dann weiß er nicht, daß wir gleich da sind«, sagte Tantchen; »willst du nicht lieber hinlaufen und ihm Bescheid sagen?«

»Papa hat es nie eilig«, antwortete Eva. »Wir haben ja noch nicht angelegt. Komm an das Geländer, Tantchen. Sieh dort! Da ist unser Haus, oben an der Straße!«

Der Dampfer machte jetzt Anstalten mit heftigem Stöhnen, wie ein riesiges müdes Ungeheuer, sich zwischen die zahlreichen Fahrzeuge an der Landungsstelle zu drängen. Eva deutete fröhlich auf die verschiedenen Türme, Dome und Wahrzeichen ihrer Heimatstadt.

»Ja, ja, mein Goldkind, sehr hübsch«, sagte Miß Ophelia. »Aber der Himmel bewahre uns! Das Schiff legt an! Wo ist dein Vater?«

Nun folgte der übliche Landungstrubel — Kellner, die zwanzig verschiedene Wege auf einmal liefen — Männer, die Koffer, Reisetaschen und Schachteln schulterten — Frauen, die ängstlich nach ihren Kindern riefen — alles das wälzte sich dichtgedrängt zum Landungssteg, der an Land führte.

Miß Ophelia setzte sich aufrecht auf den vorhin überwältigten Koffer, ließ alle ihre Habseligkeiten in schöner militärischer Ordnung aufmarschieren und schien entschlossen, sie aufs äußerste zu verteidigen.

»Soll ich Ihren Koffer tragen, Madam?« »Soll ich Ihr Gepäck befördern?« »Kann ich Ihr Gepäck versorgen. Missis?«

»Soll ich Ihre Sachen mitnehmen, Missis?« Die Fragen nagelten auf sie ein, sie beachtete sie nicht. Da saß sie in grimmiger Entschlossenheit, so aufrecht wie eine in ein Brett gesteckte Stopfnadel, hielt ihr Bündel Sonnen–und Regenschirme umklammert und antwortete den Trägern mit einer Entschiedenheit, die selbst einen Droschkenkutscher entrüsten konnte. Dazwischen äußerte sie Eva ihr Befremden, »was in aller Welt sich nur Papa denken mochte«; »er konnte doch nicht ins Wasser gestürzt sein« - »aber etwas mußte doch geschehen sein.« - Als sie gerade anfing, sich ernstlich Sorgen zu machen, kam St. Clare glücklich heran, sorglos und ohne Hast, wie immer. Er gab Eva ein Viertel seiner Apfelsine und sagte:

»Na, Kusine, bist du fertig?«

»Ich bin schon seit einer Stunde fertig und warte hier«, antwortete Miß Ophelia, »ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht.«

»Jetzt ist es eine Kleinigkeit«, sagte er. »Der Wagen wartet, und das Gedränge ist vorbei. Jetzt kann man bequem und auf christliche Weise an Land gehen und wird nicht geschubst und gestoßen. Hier«, wandte er sich an den hinter ihm stehenden Kutscher, »nimm die Sachen.«

»Ich werde mitgehen und sehen, wie er alles verstaut«, sagte Miß Ophelia.

»Ich bitte dich, Kusine, wozu denn?«

»Auf jeden Fall nehme ich dies und dies und dies lieber selber«, sagte Miß Ophelia und ergriff drei Schachteln und eine kleine Reisetasche.

»Teuerste Kusine, das ist hier unmöglich. Du mußt dich schon ein wenig an unsere südländischen Sitten gewöhnen und nicht mit solcher Last an Land gehen. Man hält dich ja für eine Kammerzofe. Überlaß das diesem Burschen, er wird es tragen, als seien es rohe Eier.«

Verzweifelt sah Miß Ophelia zu, wie ihr Vetter ihr alle Sachen wieder abnahm, und war überglücklich, als sie alles wohlbehalten in der Kutsche vorfand.

»Wo ist Tom?« fragte Eva.

»Oh, der sitzt draußen auf dem Bock, Mäuschen. Ich werde ihn Mutter als Versöhnungsgeschenk mitbringen für den betrunkenen Kerl, der neulich den Wagen umwarf.«

»Tom wird sich glänzend als Kutscher machen, das weiß ich«, sagte Eva. »Er wird sich nie betrinken.«

Der Wagen hielt jetzt vor einem alten Gebäude, erbaut in jenem gemischten, halb spanischen, halb französischen Stil, den man noch in manchen Stadtteilen von New Orleans findet. Es war nach maurischer Art gebaut — und umschloß mit seinen Seitenflügeln einen Hof, in den die Kutsche durch einen gewölbten Torweg einfuhr. Dieser Innenhof entsprach einer malerischen und üppigen Vorstellung. Breite Galerien umliefen ihn auf allen vier Seiten, deren maurische Bogen, schlanke Pfeiler und Arabeskenornamente die Phantasie wie in einem Traum zurück unter die Herrschaft orientalischer Romantik in Spanien versetzten. In der Mitte des Hofes warf ein Springbrunnen seinen Silberstrahl hoch empor, der in ein Marmorbecken zurückfiel, dessen Rand mit einem Kranz zartblühender Veilchen umgeben war. Um den Brunnen führte ein Weg, der mit einem Mosaik von Kieselsteinen zierlich geschmückt war, dieser wiederum war von Rasen eingefaßt, weich wie grüner Samt, während der Fahrweg das Ganze umschloß. Zwei große Orangenbäume, jetzt von Blüten duftend, spendeten köstlichen Schatten; den Rasen in einem Kreis umgebend, standen Marmorvasen in maurischem Stil, angefüllt mit den herrlichsten tropischen Blumen. Riesige Blumen. Riesige Granatbäume mit ihrem glänzenden Laub und geflammten Blumen, dunkelblättriger arabischer Jasmin mit seinen silbrigen Sternen, Geranien, üppige Rosensträucher, deren Zweige sich unter der Fülle der Blüten bogen, Goldjasmin, zitronenduftendes Verbenum vereinigten ihren Duft und ihre Blütenpracht, während hier und da eine geheimnisvolle alte Aloe mit ihren seltsamen, massigen Blättern wie ein alter Hexenmeister hervorsah.

Die Galerien, die den Hof umgaben, waren mit Vorhängen aus arabischem Stoff versehen, die sich nach Belieben zuziehen ließen, um die Sonnenstrahlen auszuschließen. Das Ganze machte einen überwältigenden Eindruck von Luxus und Romantik.

Als die Kutsche einbog, schien Eva vor grenzenloser Freude wie ein Vogel aus einem Käfig ausbrechen zu wollen.

»Ach, ist es nicht ein herrliches Zuhause, schön und wunderbar«, sagte sie zu Miß Ophelia.

»Es ist ganz hübsch«, antwortete Miß Ophelia beim Aussteigen, »es kommt mir allerdings etwas alt und heidnisch vor.«

Tom stieg herab und sah sich mit einem Ausdruck ruhiger, stiller Freude um. Man darf nicht vergessen, der Neger ist exotischen Ursprungs und stammt aus den prächtigsten und üppigsten Ländern der Welt; im tiefsten Herzen hegt er eine Leidenschaft für alles Glänzende, Reiche und Phantastische; eine Leidenschaft, die sich bei einem ungeschulten Geschmack nur unbeholfen äußert und daher der kühlen und korrekten weißen Rasse lächerlich erscheinen muß.

St. Clare, der in seinem Herzen ein praktischer Genußmensch war, lächelte zu Miß Ophelias Bemerkung und, sich an Tom wendend, der sich mit strahlendem Gesicht, leuchtend vor Bewunderung umsah, sagte er:

»Na, Tom, mein Junge, hier scheint's dir zu gefallen?«

»Ja, Herr, das scheint mir das Richtige zu sein.«

Dies alles geschah in einem Augenblick, während man die Koffer ins Haus schleppte, den Kutscher entlohnte und eine Schar von Menschen jeden Alters, jeden Geschlechts — Männer, Frauen und Kinder — die Galerien entlang gestürzt kam, von oben, von unten, um die Ankunft des Herrn mitzuerleben. Voran kam ein junger Mulatte, auffallend nach der letzten Mode gekleidet, ein parfümiertes Taschentuch feierlich in der Hand schwenkend, anscheinend eine besondere Persönlichkeit.

Dieser junge Mensch hatte mit großer Behendigkeit die ganze Dienerschaft an das andere Ende der Veranda gedrängt.

»Zurück mit euch! Ich muß mich ja schämen«, rief er befehlend. »Wollt ihr den Herrn schon in der ersten Stunde seiner Rückkehr belästigen?«

Alles schien von dieser gewandten Rede betroffen zu sein und drängte sich in respektvoller Entfernung zusammen bis auf zwei stämmige Träger, die herbeikamen und das Gepäck ergriffen.

Dank Mr. Adolfs hoheitsvoller Anordnung war also, als St. Clare sich nach der Entlohnung des Kutschers umwandte, niemand sonst zugegen als Mr. Adolf selber, in Atlasweste, mit goldener Uhrkette und weißen Hosen; er verbeugte sich mit höchster Anmut und Liebenswürdigkeit.

»Ach, Adolf, bist du's?« sagte sein Herr und gab ihm die Hand, »wie geht es dir, mein Junge?«, während Adolf mit größter Zungenfertigkeit eine Stegreifrede vom Stapel ließ, die er schon seit vierzehn Tagen auf das sorgfältigste vorbereitet hatte.

»Schon gut, schon gut«, wehrte St. Clare mit seinem üblichen amüsierten und spöttischen Ausdruck ab. »Das geht ja wie am Schnürchen, Adolf. Sieh, daß sie das Gepäck gut hereintragen. Ich werde gleich die Leute begrüßen«, und damit begleitete er Miß Ophelia über die Veranda zu einem großen Wohnzimmer.

Während dies geschah, war Eva wie ein Vogel durch das Tor und das Wohnzimmer in ein kleines Boudoir geflogen, das ebenfalls auf die Veranda führte.

Eine große, dunkeläugige, bleiche Dame richtete sich halb von ihrem Ruhelager auf.

»Mama!« sagte Eva und warf sich ihr leidenschaftlich um den Hals, sie immer aufs neue umarmend.

»Na, na — nimm dich in acht, Kind — damit ich kein Kopfweh bekomme!«, sagte die Mutter, nachdem sie das Kind matt geküßt hatte.

Dann kam St. Clare herein, umarmte seine Frau nach Art eines treuen, altmodischen Ehemannes und stellte ihr hierauf nur Ophelia vor. Marie schlug nicht ohne Neugier ihre großen Augen zu der Kusine auf und begrüßte sie mit müder Höflichkeit. Zahlreiche Diener drängten jetzt zur Tür herein, darunter eine Mulattin in reiferen Jahren, von sehr ehrbarem Äußeren, die vor Freude und Erwartung zitterte.

»Ach, da ist Mammy!« sagte Eva und flog durch das Zimmer, sie warf sich der Mulattin in die Arme und küßte sie wiederholt.

Diese Frau erklärte nicht, daß ihr Kopf schmerze, sondern im Gegenteil, sie herzte das Kind und lachte und weinte, als sei sie rein von Sinnen, bis Eva sich freimachte und nun von einem zum anderen sprang und so viele Hände schüttelte und Küsse austeilte, daß Miß Ophelia hinterher erklärte, ihr sei beinahe schlecht geworden.

»Wahrhaftig«, sagte Miß Ophelia, »ihr Kinder des Südens bringt allerhand fertig.«

»Und das wäre?« fragte St. Clare.

»Nun, ich will gewiß auch zu jedem freundlich sein und niemandem zu nahe treten. Aber was das Küssen angeht — «

»Bei Niggern hört es auf, was?«

»Ja, in der Tat. Wie bringt sie das bloß fertig?«

St. Clare trat lachend auf den Flur. »Hallo, was ist hier los? Ihr alle — Mammy, Jimmy, Polly, Sucky — freut ihr euch, daß euer Herr wieder da ist?« sprach er, als er händeschüttelnd von einem zum anderen ging. »Nehmt die Kleinen in acht«, setzte er hinzu, als er über einen kleinen, schwarzen Bengel stolperte, der auf allen vieren entlangkroch. »Sollte ich versehentlich jemand getreten haben, mag er sich melden.«

Als St. Clare nun gar kleine Münzen unter die Anwesenden verteilte, da wollten das Gelächter und die Segenswünsche kein Ende nehmen.

»So, nun verschwindet alle miteinander«, sagte er, und die ganze Gesellschaft, hell und dunkel, entfernte sich durch die Tür auf die große Veranda, gefolgt von Eva, die eine große Tasche trug, die sie unterwegs auf der Heimfahrt mit Äpfeln und Nüssen, Bonbons und bunten Bändern, mit Spitzen und allerhand Spielsachen gefüllt hatte.

Als St. Clare sich zum Gehen wandte, fiel sein Blick auf Tom, der unten stand und unruhig von einem Fuß auf den anderen trat, während Adolf, nachlässig gegen das Geländer gelehnt, ihn durch ein Opernglas betrachtete; seine herablassende Miene hätte jedem Stutzer zur Ehre gereicht.

»Weg damit, du Affe«, sagte sein Herr und schlug ihm das Glas herunter: »Ist das eine Art, deinesgleichen zu behandeln? Mir scheint, Dolf«, setzte er hinzu und legte prüfend seine Finger auf die elegant gemusterte Seidenweste, in der Adolf prunkte, »mir scheint, das ist meine Weste.«

»Oh, Herr, diese Weste war voller Weinflecke! Der Herr konnte eine solche Weste doch nicht länger tragen! Ich dachte, ich könnte sie nehmen. Für einen armen Niggerknaben reicht sie noch.«

Und Adolf warf seinen Kopf zurück und fuhr mit zierlichen Fingern durch sein parfümiertes Haar.

»So, so«, sagte St. Clare. Er war nicht entrüstet. »Also jetzt führe ich Tom seiner Herrin vor, und du nimmst ihn dann mit in die Küche, aber wehe, wenn du dich noch weiter aufspielst! Er ist zweimal soviel wert wie ein Affe wie du.«

»Der Herr muß immer spaßen«, sagte Adolf lachend. »Ich bin entzückt, daß der Herr so guter Dinge ist.«

»Komm, Tom«, rief St. Clare und winkte ihm.

Tom kam ins Zimmer herein. Er blickte verwirrt auf die samtenen Teppiche und die nie geschaute Pracht der Spiegel, Bilder, Statuen und Vorhänge, und wie die Königin von Saba vor Salomon verließ ihn aller Mut. Er traute sich nicht mehr, den Fuß zu heben.

»Sieh hier, Marie«, sagte St. Clare zu seiner Frau, »ich habe dir einen Kutscher nach deinem Geschmack gekauft. Ich kann dir sagen, ein wahres Wunder an Schwärze und Gesittung. Er wird dich fahren wie zu einem Begräbnis, du brauchst es bloß zu sagen. Mach deine Augen auf und sieh ihn dir an. Und sage nicht mehr, ich dächte nicht an dich, wenn ich unterwegs bin.«

Marie öffnete die Augen und heftete sie prüfend auf Tom.

»Ich weiß, er wird sich betrinken«, sagte sie.

»Nein, nein. Er wurde mir als ein frommes und nüchternes Stück empfohlen.«

»Na, hoffentlich macht er sich«, erwiderte die vornehme Dame; »wenn ich es auch kaum erwarte.«

»Dolf«, befahl St. Clare, »führe Tom nach unten und nimm dich zusammen. Denke dran, was ich dir gesagt habe.«

Adolf tänzelte zierlich davon, während Tom ihm mit schwerem Schritt folgte.

»Er ist der reine Elefant!« sagte Marie.

»Nun, Marie, sei gnädig«, bat St. Clare und setzte sich auf einen Stuhl neben ihrem Ruhelager. »Spende deinem Mann ein freundliches Wort.«

»Du bist vierzehn Tage länger geblieben, als du vorhattest«, sagte die Gnädige schmollend.

»Gewiß, aber ich schrieb dir die Ursache.«

»In einem so kurzen, kalten Brief«, entgegnete sie.

»Nun, ja doch. Die Post ging gerade ab, sonst hätte ich es lassen müssen.«

»So geht es immer«, antwortete sie. »Du hast immer einen Anlaß, deine Reisen auszudehnen und deine Briefe abzukürzen.« »Schau einmal her«, lenkte er ab und zog ein elegantes Etui aus der Tasche und öffnete es, »ich habe dir ein Geschenk aus New Orleans mitgebracht.« Es war ein Daguerrotyp[1], klar und weich wie ein Kupferstich, und stellte Eva mit ihrem Vater dar, die Hand in Hand zusammensaßen.

Marie betrachtete es unzufrieden.

»Warum habt ihr euch so unvorteilhaft hingesetzt?« fragte sie.

»Nun, die Stellung mag Ansichtssache sein; aber was hältst du von der Ähnlichkeit?«

»Wenn du im ersten Fall keinen Wert auf meine Ansicht legst, wirst du es in diesem Fall auch nicht tun«, sagte sie und schloß das Etui.

»Soll sie der Henker holen«, dachte St. Clare im stillen. Aber laut sagte er: »Ach, komm. Marie, sag, ob du es ähnlich findest. Sei doch nicht kindisch.«

»Es ist rücksichtslos von dir, St. Clare«, versetzte Marie, »daß du mich zum Sprechen und Betrachten verleitest. Du weißt doch, daß ich den ganzen Tag mit Migräne liege. Seit deiner Ankunft herrscht hier ein solcher Trubel, ich bin halbtot davon.«

»Sie leiden an Migräne, Madam?« fragte Miß Ophelia und erhob sich plötzlich aus den Tiefen eines Sessels, wo sie still gesessen und ein Verzeichnis der Einrichtungsgegenstände aufgenommen hatte, heimlich die Kosten überschlagend.

»Ja, ich leide Qualen.«

»Wacholderbeerentee ist gut gegen Migräne«, sagte Miß Ophelia. »Auguste, die Frau von Pfarrer Abraham Percy, behauptete es wenigstens, und sie verstand sich darauf.«

»Ich werde die ersten Wacholderbeeren, die im Garten am See reif werden, zu diesem Zweck ernten lassen«, sagte St. Clare und zog mit todernstem Gesicht die Klingel. »Inzwischen, teure Kusine, wirst du dich auf dein Zimmer zurückziehen und nach der Reise ein wenig erfrischen wollen. Dolf«, setzte er hinzu, »ich lasse Mammy bitten.« Kurz darauf trat die nette Mulattin ein, die Eva so stürmisch begrüßt hatte; sie war sauber gekleidet und trug einen hohen rot und gelben Turban auf dem Kopf, den Eva ihr soeben geschenkt und eigenhändig umgebunden hatte. »Mammy«, sprach St. Clare, »ich vertraue dir diese Dame an; sie ist müde und soll sich ausruhen. Führe sie auf ihr Zimmer und sieh zu, daß sie alle Bequemlichkeiten findet«, und Miß Ophelia begab sich unter Mammys Fittiche.

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