Lieber Freitag!
Hier bin ich.
Wo bist du?
Fidschi.
Lieber Freitag, wir machen jetzt ein Experiment: Ich sage dir, wo. Und du sagst mir, wie.
Wie?
Ich sage, wo wir uns befinden (Fidschi Inseln, Viti Levu), und du sagst, wie es dort aussieht (gesehen 1826 von dem sich annähernden Dreimastschoner «Endeavor».)
Viti Levu?
Viti Levu?
Das ist leicht.
So?
Die Insel sieht aus wie ein schlafender Mann.
– –
Aus der Ferne.
– –
Wie ein Riese, auf dem Rücken liegend, Nase, dicker Bauch, und zwei Bergkegel als Fußspitzen, stimmt’s? — Das stimmte allerdings, gesehen 1906 von dem Postschiff «Flying Perth» bei Annäherung an Viti Levu. Das hätte er sich aber ebensogut aus dem Internet herunterladen können. — Ich übrigens auch.
Bist du Männchen oder Weibchen?
Das kannst du dir aussuchen.
*
In dieser Zeit waren wir sehr oft umgezogen, von einer Stadt in die andere, zuletzt nach Minden. Nicht Minden an der Aller, das andere Minden — ich war damals zehn Jahre alt — es hatte für meinen Vater eine Reihe beruflicher Fehlschläge gegeben, die uns, meiner Mutter und mir, damals noch verborgen blieben. Wir wohnten «Am Färbergraben» Nr. 10, hatten hinten im Hof ein eigenes kleines Flüßchen, einen langsamen dunklen Wasserlauf, wo gelegentlich ein altes Kinderbett oder eine Blechtonne vorbeizogen und wo ich an heißen Sommertagen bis zum Hals im Wasser stehen konnte — auf einer eisernen Leiter. Es gab sogar noch den eisernen Querträger mit Rollketten, an denen die Färber ihren Rupfen ins Wasser gelassen hatten, an denen ich hing und tiefgehendes Schiff spielte. Einen ozeantüchtigen niederländischen Teeclipper. Keine Schadstoffe damals, allenfalls weiße Blasen, die aber nach Seife rochen. Gelbe auch.
Mein Vater arbeitete in einer Bank im Zentrum, der «Westfälischen Kredit und Hypo», er war neu dort, ging jeden Morgen aus dem Haus und kehrte abends geduldig zurück. Ich will sagen, er machte noch nicht den gehetzten Eindruck, der uns Sorge bereitete. Wechselte dann zur kleineren «Mindener Sparkasse» über, ich glaube, so hieß sie. Oder «Mindener Volkssparkasse», hatte dort wohl einen Direktionsposten inne, ich erinnere mich vor allem an die blaue Markise an der Vorderfront, die nicht farbecht war.
Ich hatte als «Neuer» in der Schule keinen leichten Stand. Da war zunächst die Sprache, der schwer einfühlbare Dialekt dieser Gegend mit merkwürdigen ä- und ö-Lauten, die überall dort im Gestrüpp hingen, wo man sie nicht erwartete. Auch trugen sie in der Schule alle diese merkwürdigen Hosen, irgendwie breit geschnitten aus ganz grobem Drillich. Hosen wie die Stauer. Alle trugen sie, nur kaufen konnte man sie nicht, denn so kurz nach Kriegsende gab es nichts zu kaufen. Schließlich konnte ich meine Mutter von der Notwendigkeit überzeugen, mir eine solche Stauerhose aus einer alten Decke zu nähen, die dann auch entsprechend ausfiel, eher dazu beitrug, meine Stellung in der Klasse weiterhin zu schwächen.
Wat soll’n dat vorställen?
Von meiner Mutter war auch sonst wenig Beistand zu erwarten, sie füllte nur weiß und lymphatisch unsere zwei Wohnräume aus, wie eine Wolke, weiß und weich: Deine Klassenkameraden, ach ja, mit denen wirst du dich sicherlich gut verstehen.
Hast du denn schon einen Freund?
Nein.
Das war ein trauriges Kapitel, ich saß allein, ganz vorn Mitte, weil alle anderen Bänke besetzt waren. Und ich hatte auch gleich anfangs keine glückliche Hand, wenn ich zum Beispiel das exakte Gewicht des Erdballs oder die Jahreszahlen des ersten und auch des zweiten punischen Krieges freihändig hersagen konnte. Oder besonders unglücklich, wenn die Klasse hoffnungslos über einer fünfseitigen Pyramide brütete und ich, vortretend, eine solche freihand an die Tafel zeichnete. Jawohl, und ich diese, zur Tafel vortretend, freihand korrigierte, jawohl.
Wer war Savonarola?
– –
Wer war Savonarola?
Ich hob den Finger.
Mein Hintermann pflegte mich dann in den Rücken zu pieken, er benutzte dazu einen überlangen Bleistift, den er unter seiner Tischplatte in die Ritze meiner Rückenlehne steckte. Er piekte aber auch zwischendurch, gelegentlich, wie um mich daran zu erinnern, daß ich sowohl die punischen Kriege als auch das Gewicht des Erdballs besser vergessen sollte. Pieken — was sage ich, es waren Dolchstöße, die mein Herz trafen. Wie gern hätte ich ihn zum Freund gehabt. Er war sehr hübsch, Noswitz war sein Name, gebräunt und schlank war er, wohlmöglich Kind reicher Eltern. Ausgestattet mit einer ganz besonders großen und breiten Stauerhose.
Heul doch!
Ich heule ja gar nicht.
Heul doch!
Wenn ich mich nach einem Pieken schnell umdrehte, saß er da, aufrecht mit gespitztem Mund, den Blick zur Decke gerichtet. Noswitz. Und hinter ihm, Reihe auf Reihe, saßen sie, die Pohlmanns, die Görzen, die Kuhnerts, alle mit gespitztem Mund, alle gespannt, womit der Neue wohl jetzt wieder aufwarten würde: Geburtsdatum und Todestag Mozarts?
Doch, einen armen Jungen gab es, ein Häufchen, das in der äußersten Ecke saß und mir von dort aus zulächelte. Aber der wiederum war mir zu arm, der kleine Dämel, zu ärmlich mit seinen dünnen Ellenbogen und dem grasgrünen Pullover. Der Junge war ja schon froh, wenn niemand ihm sein Pausenbrot wegnahm (rohe Gurke wahrscheinlich). Das Jahr schritt voran und mit ihm alle gleichschenkligen und rechtwinkligen Dreiecke, alle Wallensteins Lager und Tode, während er mich mit seinen himmelblauen Augen aus seiner Ecke anflehte. Helfen konnten weder er mir noch ich ihm, grausam, ja, zeigt es doch wieder einmal, wie Kinder sind. Auch war sein grüner Pullover am Bündchen stark ausgebessert.
*
Es geschah am letzten Tag vor den großen Ferien.
Ich hatte längst gelernt, hinten herum über die Wiesen nach Hause zu gehen, um die massierte Gruppierung der Stauer vor der Schule zu vermeiden. Sie hingen dort regelmäßig nach Schulschluß herum, genauer gesagt, vor dem Lakritzenladen gegenüber. Sie taten mir ja nichts, im allgemeinen, aber es war wieder ein solcher Tag gewesen, an dem ich unglücklicherweise den genauen Lichtweg oder die Lichtwege konvexer und konkaver Linien gewußt hatte, was ja nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Ging also besser hinten herum, bog soeben um die Mauerecke an der Ziegelei, immer noch relativ wachsam nach meinen Erfahrungen — — doch da stand das Komitee. Ich wurde bereits erwartet.
Da war der Pohlmann, der riesige Flegel, der Görtz — auch nicht viel netter —, die Brüder Mittag, Heiner und Jan, beide ziemlich das Übelste, was die Parallelklasse zu bieten hatte, und natürlich Schulte, Fasser, Bähr, die immer dabei waren. Alle großmächtig in Stauerhosen, von denen die meisten hätten von selbst stehen können. Noswitz war nicht dabei.
Ich sollte also in die «Kuhle» springen?
Genau das!
Die «Kuhle» war eine jenseits der Wiesen gelegene Sandgrube von beträchtlicher Tiefe — erst ging es die Wiesen hinan, dann kam ein steiler Abriß, im freien Fall glatte zehn Meter hinab von der Grasnarbe bis zum schräg auslaufenden Sandhang unten. Ein Hochgebirge. Ich hatte dort niemals jemanden springen sehen, aber angeblich sollte das ja eine Mutprobe sein.
Der man sich unterziehen mußte.
Für was?
Für die Stauer.
Ich sollte also — laßt mich das einmal zusammenfassen — zehn Meter im freien Fall in die «Kuhle» springen, um bei den Stauern (oho!) aufgenommen zu werden?
Schulte, Fasser, Bähr nickten sehr ernsthaft, und auch der Görtz. Pohlmann — soviel bemerkte ich — nickte nicht. Die Brüder Mittag blickten beiseite.
«Tja Kinder», sagte ich, «das ist natürlich ein verlockendes Angebot, dem ich schwerlich widerstehen kann.»
Jetzt nickten auch die Brüder Mittag.
«Nur ist es im Augenblick nicht ganz opportun», ich hatte tatsächlich opportun gesagt, «der Zeitpunkt ist nicht ganz glücklich gewählt, da ich von Mutter und Vater zu Hause zum Kaffee erwartet werde (Vater war seit Tagen verreist), warum verschieben wir die Sache nicht ein wenig?»
Erntete damit nur drohendes Starren. Selbst der verhältnismäßig menschliche Görtz starrte wie Nero persönlich.
«Warum vereinbaren wir nicht einen Termin», schlug ich vor, «einen, an dem Vater und Mutter nicht auf mich warten, sagen wir, nächste Woche, Montag zum Beispiel, an dem ich in die Kuhle springe (springen werde, korrekterweise).»
Sie starrten mich drohend an.
«Großer Schwur», beteuerte ich, «beim Zeus und gekochten Mäuseeiern.»
Das hatte wohl den Ausschlag gegeben, anscheinend überzeugten sie die Mäuseeier. — Jedenfalls bis zum Montag.
*
Am Montag tauchte ich unter.
Ich nahm die Sache sehr ernst. Am Montag begannen die großen Ferien, alle Kinder gingen schwimmen, gingen zum Abkochen, Wandern im Odenwald, Obstlese mit fröhlichen Feriengenossen, und ich — ich tauchte unter. Nicht ahnend, wie tief und auf welch lange Dauer dieses sein sollte. Dauer eines ganzen künftigen Lebens.
Eigentlich hatte ich gar keine Chance. Draußen würden sie mich überall finden und drinnen, also drinnen, in der Stube, in den großen Ferien, im Sommer bei badeblauem Sommerwetter hätte ich es unter gar keinen Umständen durchgestanden. Nicht in der Stube und nicht sechs Wochen lang.
Im Hof? Also, der Hof war mit einem Durchgang frei von der Straße her zugänglich, bot keine Deckung — einen kleinen toten Winkel unter der Kellertreppe vielleicht und einen zweiten hinter dem alten verrosteten Badeofen, der in der linken, der Straße abgewandten Ecke stand. Dort hätte ich sogar hineinkriechen können. Nachdem ich aber eine Stunde lang — es war der Dienstag — drinnen gekauert hatte, taten mir die Knie weh. Mein Stolz war auch verletzt.
Am Mittwoch kamen sie.
Einer, es war der Schulte, kam sogar an die Wohnungstür und fragte nach mir. Zufällig war ich gerade dabei, einen Topf fürs Abkochen zu suchen, und konnte mich knapp hinter dem Schrank verbergen, sehr knapp. Während meine weiße Mutter, die mich nicht sah, behauptete, ich sei ausgegangen, jedenfalls glaubte sie, mich nicht gesehen zu haben. Möglicherweise.
Das durfte natürlich kein Dauerzustand bleiben.
Abkochen war drinnen nicht möglich, dazu brauchte man ein Feuer und genügend Freiraum für die ganze Schweinerei, die da entstand. Aber das sollte ich vielleicht erklären, Abkochen war damals das ultimative Spiel, das zu einer Zeit gespielt wurde — als es nichts zum Abkochen gab, ultimativ nichts. Ich hatte mich für den toten Winkel hinter dem verrosteten Badeofen entschieden, und hatte meine Ingredienzien bereits gesammelt — es war am nächsten Vormittag, am Donnerstag —, alles, was man brauchte, Sägespäne, Zeitungsschnipsel, einen Haufen rostiger Nägel, alte Leimreste, die ich aufweichen würde, dazu Brennessel, Löwenzahn und zwei verlassene Wespennester vom Dach. Oh, als besondere Zutat grüne Schmierseife, die hatte ich als Rest in einer Tonne gefunden. War soeben damit beschäftigt, mit dem Topf etwas Wasser aus dem Kanal zu schöpfen, als ich drei von ihnen sah.
Sie schauten von der Straße her in den Hof, konnten mich aber nicht sehen, weil ich unten auf der eisernen Leiter stand, um das Wasser zu schöpfen. Um mich aber jetzt noch in meinen Badeofen zu verziehen, war es eindeutig zu spät. Görtz, Pohlmann und einer von den Mittagbrüdern, glaube ich, vielleicht auch noch ein Vierter.
Jetzt kamen sie den Durchgang entlang.
Lieber Gott.
Und richtig, sie kamen in den Hof — ich sah sie durch die Grashalme am Grabenrand, jetzt bis zur Brust im Wasser stehend —, sie untersuchten als erstes den Badeofen, und den toten Winkel hinter dem Badeofen, dann, als sie mich offensichtlich nicht entdecken konnten, den toten Winkel unter der Kellertreppe. Kamen jetzt direkt auf mich zu, ich tauchte unter.
Ich sagte ja, daß es ernst zu nehmen war. Ich tauchte ganz unter, indem ich mich mit den Füßen festhakte und mich unter Wasser zog. Gegen den Auftrieb. Diese technische Leistung muß ich vollbracht haben, ohne mir über die gegenläufigen Kräfte überhaupt im Klaren zu sein. Ich hatte mir den Topf über meinen Kopf gestülpt, hatte mir somit einen genügenden umgestülpten Luftvorrat mit nach unten genommen — — es war ein großer Topf, also sagen wir, drei Minuten Vorrat?
Und dann nur noch Dröhnen.
Nur noch Schwärze mit einem blassen Lichtstreifen am unteren Topfrand, die kompakte Luft dröhnte in meinen Ohren. Sie hätten mich trotzdem leicht entdecken können, senkrecht unter sich, aber darauf, so senkrecht, sind sie wohl nicht gekommen, die Vollpflaumen. Drei Minuten und noch eine vierte, eine fünfte, dann barst mir die Lunge — dann ist sie geborsten.
Sie waren weg.
*
Mein Vater war gar keine Hilfe, er war in letzter Zeit viel abwesend, meist auf Geschäftsreisen, die ihn über ganze Wochen fernhielten. War eigentlich auch abwesend, wenn er sich vorübergehend einmal zu Hause aufhielt. Dann stand er nur untätig herum, oder er betätigte sich auf seine Weise, kehrte zum Beispiel den Gehsteig vor dem Haus, Papier und altes Laub, das er auf einen Haufen kehrte, um dann den Haufen nach einer Weile wieder zu verteilen. Er nannte das «Umschmutzen», sehr eigen —, meine Mutter und auch ich sahen es mit Besorgnis —, dann war er wieder eine ganze Woche lang verschwunden.
Während ich mich eigenem Überleben widmete. Genauer gesagt, war ich so völlig von meiner neuesten großen Erfindung überwältigt, daß ich zwei ganze Nächte lang nicht schlafen konnte. Man denke: Ein Leben unter Wasser, und das ganz ohne Stauer und Gebrüder, ein überwältigender Gedanke.
Ich habe mich ausführlich darüber belesen. Anscheinend hatte ich die Taucherglocke erfunden, den Caisson. Es gibt eine ganze Wissenschaft, die sich ausschließlich mit diesen Phänomen beschäftigt, oder jedenfalls gab es sie, nachzulesen im Großen Meyers Lexikon von 1892, ganz unten im Bücherschrank, mit wunderschönen Stahlstichen, Druckverhältnissen und sonstigen Tabellen. Vor allem die Relation von Lunge-Herz-Kreislauf und erhöhtem Druck im Caisson betreffend. Denen ich Rechnung trug, den Verhältnissen, indem ich eine ganze Nacht lang im Bett mit aller Kraft gegen die zugehaltene Nase blies, als Preßatmung, sozusagen, zum Training für den Überdruck. Sicherlich ganz falsch, aber eigentlich doch einleuchtend, wie man sich gut vorstellen kann. In großen Tiefen wird durch den Druck Sauerstoff in das Blutplasma gepreßt, welches dann beim Auftauchen entweicht und zu Luftembolien führt. Die sogenannte Taucherkrankheit. Die ich im Bett simulierte — immerhin habe ich keinen Schaden davongetragen.
In dreißig bis vierzig Metern Tiefe …
In hundert Metern Tiefe.
Zweihundert?
Ich nahm an, daß ich im Färbergraben mit etwa zwei bis drei Metern zu rechnen hatte, und damit schlief ich durch bis zum Morgen. Das war dann der Freitag.
*
Am Freitag, also am fünften Ferientag, begutachtete ich den verrosteten Badeofen im Hof, ein großes Ding, das heißt, es war kein ganzer Ofen mehr, nur noch das Blechgehäuse, der untere Heizteil fehlte. Ich wuchtete es aus seinem Grasbett hoch, einst hatte es wohl seine drei- bis vierhundert Liter Badewasser gefaßt, eine Art Haube, unten offen, aus diesem geriffelten bronzebraunen Blech, innen emailliert, um Wasser zu halten. Und nicht einmal schlecht, wahrscheinlich.
Es war vormittags gegen neun an diesem schönen Sommertag, die Sonne stand schon hoch und heiß im viereckigen Stück Himmel über dem Hof und versprach noch heißer zu werden. Jede Art der Arbeit unterliegt Gesetzen von Kraft und Zeit: Zeit mal Kraft ist gleich Entfernung, in die ein Gewicht zu transportieren ist — und natürlich das Gewicht selber — oder: Entfernung dividiert durch Zeit ist gleich der Kraft, die dazu benötigt wird. Oder: Gewicht durch Kraft ist gleich Zeit — laß mich nachdenken. Es war jetzt neun Uhr und es waren fünfzehn Meter.
Bei verhältnismäßig ebenem Boden.
Aber eben nicht eben genug, um das Ding zu rollen. Wie gesagt, die Sonne stand hoch und würde bald noch höher stehen. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit wurde ein solches Gewicht jemals bewältigt, ein schier menschenunmögliches Unternehmen. Ein Obelisk vom Ausmaß eines Stadtviertels. Dreitausend Sklaven des Pharao, dunkel getönt und nur mit Lendenschurz bekleidet, wuchteten hoch, legten flach und wuchteten wieder hoch. Dreitausend sehnige, ausgemergelte, zu Höchstleistung angepeitschte Körper.
In sengender Sonne rhythmisch singend.
Hochwuchtend, flachlegend, hochwuchtend, flachlegend.
Ich schwöre, ich war tief kupferfarben, ich war bis aufs Blut ausgemergelt und überlebte fünfzehn Meter. Ja, aber ausgestattet mit der menschlichen Ingeniosität bezüglich Hebelwirkung, Rampeneffekt und schiefer Ebene, die hier ja nach Lage und immer im rechten Moment zur Anwendung kam. Die Ingeniosität.
Bis meine Mutter um zwölf zum Mittagessen rief:
Kommst du!
Ich komme.
*
Am Nachmittag ließ ich die Taucherglocke zu Wasser.
Ich will jetzt nicht allzu technisch werden, nur soviel, daß das ganze Unternehmen ohne die Färber vom Färbergraben natürlich nie möglich gewesen wäre. Ich will mir nichts vormachen, ohne Rollenzug, ohne Querträger, ohne überhaupt das ganze eiserne Gestänge meiner Färber hätte es gar nicht stattgefunden. — Die Rollen machte ich mit der Schmierseife, die an sich zum Abkochen bestimmt war, einigermaßen gangbar. Die Kette benutzte ich nicht, sie schien mir allzu verrostet (Bruch?), stattdessen eine doppelt gelegte Wäscheleine, durch die Nute des Badeofens gezogen, also im Effekt viermal Wäscheleine als Aufhängung. Die ich mit etwas Teer schwärzte. Sowohl zur Haltbarkeit als auch wegen der Sicht.
Die Welt unter Wasser. Sie ist in sich geschlossene, für den Menschen nicht zugängliche Existenzform, Schönheit sowohl als auch Grauen vereinend. Die aber, wie ich mich belesen hatte, sei es aus politischen oder sonstigen Notwendigkeiten zugänglich gemacht werden könne — oder auch zum Zweck des Abtauchens. Ich durfte mich da auf «Viertausend Meilen unter dem Meer» beziehen, nicht ganz mein Lieblingsbuch, immerhin glaubwürdig genug. Hatte auch «Hydropolis» gelesen und «Tödliche Sargassosee», auch «Jan und Hein, die Rabenknaben» und «Sea-Woman», letztes nicht ohne Erotik. Hatte ich alles gelesen und auch verstanden, und war auf die «Große grüne Dämmerung» ausreichend vorbereitet.
Und was das rein Technische anging, die laufenden Rollen und Blöcke, die Tampen und Taue, mit denen das Absenken des Tauchbehältnisses vor sich gehen sollte — ich spüre Zweifel —, so hatte ich auch meinen «Billy Budd» gelesen, meine «Weißjacke» und war seemännisch-nautisch nicht ganz ohne Fachkenntnisse. Was das Luven, das Brassen und Reffen und langsame Abfieren anging.
Einzig das Luftvolumen war eine unbekannte Größe und als solche zu berechnen, ich spreche von der in der Haube gefangenen Luft, die nach unten mitgenommen werden mußte. Zu berechnen und zu der verdrängten Wassermenge in Bezug zu setzen. Man versteht, daß es dementsprechend auch einiger subnautischer Kenntnisse bedurfte —, Gewicht der Wassermenge plus Gewicht des Behältnisses plus zusätzlicher Senkgewichte, die ich auch noch zu berechnen hatte.
Letztere übrigens brachten mich dann noch einigermaßen in Schwierigkeiten. Die Senkgewichte.
Der Nachmittag war bereits fortgeschritten, die Sonne stand schon tief, immerhin hatten sich meine Stauer zwei ganze Tage lang nicht blicken lassen und waren so spät kaum noch zu erwarten. Der Schrottplatz allerdings, auf dem ich geeignete Eisenteile oder Rohrstücke zu finden hoffte, war nicht ganz nahe, es war kein eigentlicher Schrottplatz, mehr ein wildes Gelände auf dem die Leute ihr Zeug abstellten, Autowracks, alte Kühlschränke, Fensterkreuze, derartiges. Ich war nicht gerade erpicht, mich hier in Gefahr zu begeben, aber ich brauchte meine Senkgewichte.
Nun war dieses Gelände von mehreren Seiten her zugänglich, vom Bahnübergang, von der Lankower Chaussee, und, für mich am nächsten gelegen, vom Prinzenweg, einer Kleingärtneranlage. Eine zipfelige Angelegenheit, im Inneren völlig unübersichtlich, vollgestellt, zugewachsen, die reinste Mördergrube, und ich hatte gerade meine Eisen beisammen, zwei dicke Rohrwinkel und den oberen Teil eines Motorblocks, als ich an der Bahnseite am Ausgang jemanden stehen sah. Jemanden? Einen der Mittagbrüder. Und ich denke noch, daß dann der andere nicht sehr weit sein dürfte …
Sie waren mir gefolgt.
Hatten mir aufgelauert wie einem dummen Huhn.
Durch meine Eisen, die ich mitschleppen mußte, einigermaßen behindert — ich hatte mir eine Art Hucke zurechtgemacht — bewegte ich mich so schnell und so leise, wie es mir möglich war, zum Ausgang Kleingärten, der am meisten vollgestellt und überwachsen war, wo ich am ehesten untertauchen konnte. Wo mich also der zweite Bruder bereits erwartete.
Vorläufig sah er mich noch nicht.
Ich habe es bereits erwähnt, die Brüder Mittag aus der Parallelklasse waren so ziemlich das Übelste, und nicht nur in der Parallelklasse. Beide fürchterliche Schlakse mit rohen nackten Armen, beide grobhäutig und picklig mit Händen groß wie Zigarrenschachteln. Jetzt pfiff der eine.
Die rote Farbe der Panik.
Ich lief so schnell und so leise wie möglich den ganzen Weg zurück, immer noch durch meine Eisen belastet, die ich nicht aufgeben wollte, fand sogar auf dem Weg noch eine Pieke, einen eisernen Zaunstachel. Und ich nehme an, es wäre zu einem Blutbad gekommen.
Aber dann pfiff der andere als Antwort auf die Lerche zurück. Hast du ihn, ja, du Idiot, dann schieß ihn rüber, du Idiot. Sie hatten mir gar nicht aufgelauert, die Idioten.
Es gibt ja auch Fußbälle.
So war der dunkelblaue Himmel wunderschön, die Welt war schön, der Hof war schön, der langsam fließende Färbergraben, als ich das Ding zu Wasser brachte. Und da hing es. Komplett mit Luftblase, berechneten Senkgewichten und vierfacher Wäscheleine. Ein Fuß tief unter der Wasseroberfläche und fertig zum Einstieg, als Mutter zum Abendessen rief:
Kommst du?
Ich komme.
*
Aber der Morgen.
Am frühen Morgen stand ein Flimmern über dem Horizont, bereit für einen heißen Tag. Ich packte meine Badesachen zusammen, versprach, mittags rechtzeitig zurückzukommen, und meine liebe Mutter, die mich ein Leben lang treu umsorgt hatte, winkte noch einmal von der Küche her: Komm wieder, Junge. Werde wiederkommen, ich versprach’s, während der Blick aber bereits in die Ferne gerichtet war, die unendliche Weite im Auge, ich meine damit, daß sich die Unendlichkeit in meinen blauen Augen gespiegelt haben muß, als ich mit Seebeinen und bewegtem Herzen aus dem Haus stapfte. Von Salzgeruch umwittert, ja, aber auch vom Anflug einer fernen Zimtküste. Komm wieder, Junge, werde mein Bestes tun, nicht jeder Seefahrer fand sein nasses Grab.
Der Hof lag noch im Schatten als ich hinaustrat, aber am Graben, wo die eiserne Leiter hinabführte, hatte sich eine Sonnenecke gebildet, wie bestellt zum festlichen Auftakt — ich habe mich über dieses kosmische Zeichen, das eine ganze Kette nachfolgender Ereignisse einleiten sollte, nie genug wundern können. Ein Festakt am frühen Morgen: Die Schiffskapelle spielte «Fare well, fare well …» und dann noch «Gipsy Moth …», Wimpel wehten, gelbblau, schwarzweiß, rotgrün, eine fröhliche Menschenmenge winkte zum Abschied, dicht gedrängt, als ob hier die ganze Stadt auf den Beinen wäre — anscheinend hatte mein Unternehmen doch größere Popularität gewonnen. Und ich, mit einem letzten Blick, einem letzten tiefen Atemzug, stieg die Sprossen hinab in ein neues unbekanntes Abenteuer (Taucher von Surabaja).
Die Südsee hat hier, im berüchtigten «Tiefen Loch» zwischen den Marshal Inseln und Samoa eine Auslotung von zwölfhundert Metern, eine unvorstellbare dunkle Tiefe. Der Abstieg erfolgt durch immer schwächer beleuchtete Zonen, abhängig vom Abstand zur Oberfläche als auch von den im Wasser schwebenden Partikeln. Vom hellsten Türkis über flaschengrüne, seegrasverhangene Hallen hinab zu schwerem dunkelblauen Dämmern bis ganz hinab zu absoluter Schwärze, wo nur noch selbsttätige Lichtpunkte leuchten, die Feueralgen, Martinslampen, Korallenfische mit blinkenden Punkten auf den Flossenspitzen und Seeaugen. Hier schafft der wachsende Druck zunehmend eigene Verhältnisse, die Köpfe werden größer, alle Körper dickwandiger. Man kann sagen, daß es sich um eine umgekehrte Welt handelt, eine Welt, die in ihrer tiefsten Tiefe die höchste Höhe widerspiegelt, wo die Luft dünn wird.
Ich hatte nächtelang die Luft angehalten, mit großer Anstrengung und eisernem Willen unter meiner Bettdecke, zwanzig Sekunden, vierzig Sekunden, sechzig! Während fern im Elternschlafzimmer mein Vater schnarchte und meine Mutter unruhig von Zeit zu Zeit aufstand und zur Toilette ging. Ich hatte gezählt, einundsechzig, zweiundsechzig, bis ich glaubte zu platzen. Ich glaube, am Ende hatte ich es auf anderthalb Minuten gebracht. Bin mir mit dem Zählen nicht ganz sicher.
So ausgestattet, mit solcher Taucherfahrung — die Bettdecke hatte auch noch mitgeholfen — stieg ich also an diesem denkwürdigen Morgen in meinen ganz eigenen Ozean, füllte meine Lunge zum letzten Mal, ich glaube mit fast doppeltem Volumen (das ist in diesem Alter möglich) und dann: Grün, grüne kühle Dämmerung, grün wie das Innere einer Bierflasche und genauso still.
– —
Ich hatte mir den Tod anders gedacht. Denn es war ein Tod, ein kleiner zumindest. Mit den Füßen, eingehakt in die eisernen Sprossen, zog ich mich hinab, ganz hinab, und noch weiter — erfuhr eine kurzdauernde Panik, die sich auf das Oben und Unten bezog, als ich den unteren Rand des Behälters spürte, der merkwürdig aufgebogen war, und wieso hatte ich das nicht vorher feststellen können —, schob mich darunter hindurch und tauchte drinnen wieder auf.
So einfach.
Nicht einfach. Ich glaube, ich sollte das mit großem Ernst behandeln: Ich konnte atmen! Die Möglichkeit des Unmöglichen, dröhnend und totenstill! Kann man sich das vorstellen, ich atmete eine unbegreifliche Luft, die sich dort unten befand, wo sie nicht sein konnte, und sie klang wie Donnerhall. Ich glaube, diese allererste Sekunde war reine Religion. Ich befand mich plötzlich in einem, (in meinem) Selbst, das ich mir selbst geschaffen hatte, und es war schwarz mit einer hohlen grünen Unterfläche. Später — das erste Mal hielt ich es kaum eine Minute aus — bei meinem täglichen Tauchgängen später war es nur ein Umsteigen, ein Ein- und Aussteigen ohne wesentliche Religion, sozusagen, so wie man morgens zum Dienst geht. — Doch diese erste Sekunde, dieses allererste Atmen, werde ich immer im Gedächtnis behalten, sie hatte einhundert Jahre gedauert, und vielleicht stimmt das sogar.
*
Drinnen brachte ich ein Sitzbrett an, so daß ich, wenn ich die Beine anzog, im Trocknen saß. Auch ein Brettchen zum Aufstellen der Taschenlampe sowie eines Kompasses und einiger einschlägiger Bücher. Zwei kleine Bilder von Helgoland, ein größeres der Doumotu-Insel und ein ganz großes blasender Wale hatte ich an die Innenwandung geheftet; auch ein kleines Steuerrad aus Pappmaschee und ein von mir ausgefertigtes Kapitänspatent mit Siegel und Unterschrift — das alles wasserdicht in Plastiktüten transportiert und transferiert, glatt und fachmännisch (seemännisch).
Proviant war auch vorhanden. Vier Flaschen Limonade, eine Büchse Kekse, Kaugummi und ein Glas Rollmöpse, die ich allerdings nie aufaß. Ich hatte Schreibpapier zum Aufzeichnen submariner Begegnungen, zum Beispiel mit einem alten Motorradstiefel, der plötzlich in meiner Taucherglocke erschien und sich weigerte, wieder abzutauchen — wer weiß, woher er kam. Offenbar hielt ihn eine dicke Luftblase in der Schwebe. Ich schickte ihn dann weiter auf die Reise. Oder die Begegnung mit dem kleinen Karpfen, einem Baby, das neugierig war, und eine Weile in meinem Wasser schwamm. Ich muß das erklären: Dieser innere Wasserspiegel stand etwa eine Handbreit höher als der untere Rand des Behälters; höher konnte er nicht steigen, bedingt durch den Gegendruck meines Luftvorrats, der wiederum durch die Tauchtiefe bestimmt wurde. Ein selbsttätiger Balanceakt, sozusagen. Während ich, auf meinem Sitzbrett im Trocknen sitzend, auf einen kreisrunden Wasserspiegel herabsah. In welchem ein Karpfen schwamm. Ein Babykarpfen.
Das eigentliche Problem war der Luftvorrat selbst. Der Luftvorrat bestimmte die Länge des Aufenthalts dort unten, und die war dementsprechend beschränkt. Eine knappe halbe Stunde etwa. Ich versuchte einen Austausch mittels eines Gummischlauchs und einer Fahrradpumpe, aber das erwies sich als zu zeitraubend und auch anstrengend, wobei ich nur noch mehr Luft verbrauchte. Besser war ein kurzes Hochhieven und Kippen des Behälters, eine ganz kurze Hieve und gleich wieder ins Wasser, das erwies sich als weitaus praktischer — nicht ganz ungefährlich allerdings.
Von meiner Mutter erfuhr ich, wie oft und in welcher Zusammensetzung die Stauer erschienen, das Paar Fasser und Büntig oder die zwei Mittag, oder Pohl alleine, dieser Flegel, wie auch meine Mutter übel vermerkte. Oder sie standen alle zusammen vor der Tür. Wie wenn sie mich beim «Lüften», wie wir Fachleute es nennen, erwischt hätten!
Ich lernte, mit dem Luftvorrat hauszuhalten, entwickelte ein Zeitgefühl, wann ich dort unten an die Grenze geriet, Klopfen an den Schläfen, beginnendes Ohrensausen. Oder noch besser: Der Luftvorrat war meine Uhr, allerdings glaube ich, daß es nur meinen zehn Jahren zu verdanken war, auf lange Sicht keinem Hirnschaden zu erliegen — immerhin handelte es sich um sechs Wochen Sauerstoffnot —, ein Erwachsener wäre wohl kaum so glimpflich davongekommen.
Sechs Wochen auf dem Grund des Korallenmeeres.
Zum Glück war draußen durchgehend heißes Wetter und das Flußwasser auf seinem langen Weg durch sommerliche Wiesen genügend erwärmt, so daß ich auch mit ausgestreckten Beinen immer noch im Warmen saß. Ich las den «Nautilus» und «Tödliche Sargasso-See», ich las «Unter Kraken und Haien» — wie sie mir gefielen, kann ich nicht mehr sagen, bißchen altmodisch vielleicht. Meine Stauer hätte ich gerne da oben stehen sehen, hatte aber leider kein Fenster zur Verfügung. Hätte mich sehr gefreut.
Sechs Wochen (unter Kraken und Haien).
Ich las «Die Perle» und «Kapitän Hornblower», lernte eine Menge. Vor allem aber las ich den «Seehund», Leben und Wirken des königl. preuß. Marineingenieurs Wilhelm Bauer, der 1850 ein erstes Tauchgefährt baute, mit dem er sich mit Hilfe eines Kurbelwerks freischwebend unter Wasser bewegen konnte. Dieses ausgeklügelte Kurbelwerk, einem Fahrradantrieb mit Pedalen nicht unähnlich, nahm für mindestens zwei Wochen meine ganze Vorstellungskraft in Anspruch. Sich unter Wasser weiterkurbeln! Ein kühner, wenn nicht kühnster Gedanke und ein Sprung in eine andere Dimension.
Ursprünglich als Spionagetaucher gedacht, sollte Wilhelm Bauers Gefährt der königl. preuß. Seekriegsführung einen neuen geheimen Impuls geben und lief unter dem Namen «Seehund», entsprechend damaligen Taktiken, als deklarierter Tauchbrander oder Brandtaucher, las ich. Es hatte die Form eines menschlichen Magens, vorn mit einer nasenartigen Ausbuchtung mit zwei Gucklöchern und zwei außen angebrachten dicken Gummihandschuhen an langen Stulpen zum Plazieren von Bomben an der Hülle feindlicher Schiffe, las ich.
Ich glaube fest, daß sich bis zum heutigen Tag noch magenähnliche Zeichnungen mit Zahnrädern, Pleuelstangen und Pedalen irgendwo in meinem Besitz befinden. Angefertigt unter seinerzeit erschwerten Umständen bei Taschenlampenlicht auf einer eigens angebrachten Zeichenplatte vor dem Sitzbrett. Auf dem ich völlig authentisch saß. Gleich mir saß nämlich auch der Ingenieur mit den Füßen im Wasser, welches er zum Einhalten der Senkhöhe entweder einließ oder auspumpte, je nachdem. So wie auch ich mit Wassermengen verfuhr, die ich berechnet hatte. Wie, wenn ich mich nun gleich ihm unerkannt durch den Färbergraben kurbeln könnte?
Unsichtbar durch den Stadtgraben und sogar ein Stück die Pregnitz hinab? Durch die Grünanlagen und ein anschließendes Fischbecken? Um mich dann an die Schule oder wenigstens den Schulweg heranzukurbeln, um ein paar Brandsätze zu legen. Ich sah die ganze Sippschaft rennen, die Pohlmanns, Görtzen, Brüder Mittag, die Schulten, Fassers, Bährs und Büntigs. Verstört und wie von Sinnen aus der brennenden Schule flüchten. Vorsichtshalber fügte ich noch die Lehrer Rabemus und Meckel hinzu, die mir ebenfalls das Leben schwergemacht hatten. Außerdem war das Schulhaus immer ausnehmend häßlich gewesen — ein rotes Backsteingebäude mit unglaublich häßlichen gotischen Fenstern.
Was soll ich sagen, drei volle Tage kurbelte ich tatsächlich und körperlich in meinem tiefgehenden Gehäuse. Immer voran und voraus, immer mit dem Ziel vor Augen, und war danach so erschöpft, als hätte ich tatsächlich die ganze Strecke bewältigt.
Die Sache nahm leider ein unrühmliches Ende. Als nämlich der Ingenieur Wilhelm Bauer (1851) mit seinem «Seehund» eine erste Tauchfahrt im Kriegshafen von Kiel (Kieler Förde) unternahm und spurlos verschwand. Jedenfalls wurde das eigenwillig gebaute, mehr einem menschlichen Magen als einem Kriegsgerät gleichende Wasserfahrzeug künftighin nie wieder gesehen. Versank es, barst es in der Tiefe? Wurde es von den Engländern unter Wasser gekapert und nach Plymouth entführt? Man weiß es nicht. Im übrigen zogen wir, Vater, Mutter und ich, schon im darauffolgenden Herbst aus dem unseligen Minden fort — Vater hatte entweder seine Stellung in der Filiale verloren oder die Filiale wurde ganz geschlossen —, und das löste dann alle Probleme. –
Einzig mein kleiner Freund von der hinteren Bankreihe, den hatte es doch noch erwischt, er brach sich ein Bein. Angeblich war er eines schönen Tages in die «Kuhle» gesprungen — Natur kann grausam sein.