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Lieber Freund.

Wer kann sagen, was der Mensch zu seinem Glück braucht, ist es Geld oder ist es Liebe. Darüber haben sich schon ganz andere Geister ausgelassen. Ich sage dir:

Es ist Liebe.

– –

Und das Geld.

*

Mein Vater hatte den Wunsch, daß ich Bankkaufmann lernte, und arrangierte für mich eine Lehre in der Lübschen Kredit- und Handelsbank. Nicht, daß er mich zwang, das war nicht seine Art, aber er hatte den Ausbildungsplatz arrangiert, und ich war mir auch nicht ganz sicher in meinen Berufswünschen. Genauer gesagt, erschien mir eine diesbezügliche Zukunft etwas farblos, ich konnte den Höhenflug von Giro und Inkasso, der mir bevorstand, nicht ganz nachvollziehen. Kreditbanken machten mir ein wenig Angst, Pfand- und Leihbanken auch, und was das Verschreibungswesen anging, das Wechsel- und Schuldgeschäft, sah ich mich bereits gestrandet. Ich sah mich an einem Klappult sitzen.

Aber ich wollte ja meinen Vater nicht enttäuschen. Wir waren inzwischen in eine größere Stadt gezogen — welche, möchte ich nicht sagen —, wo ich keinerlei Schwierigkeiten mit der Schule hatte, ich war dort kein Zugezogener, weil jeder irgendwie zugezogen war. Die einen kamen von …, die anderen von …

Eines Tages im Oktober, es war ein verhangener Tag, trat ich meine Lehre an, und fand mich zusammen mit fünf weiteren Anwärtern, alle etwas betreten, in der Schalterhalle der «Lübschen» ein. Die ihrerseits mit ihren Granitsäulen und den hochangebrachten kunstvoll vergitterten Fenstern einiges zum Betretensein beisteuerte. Vater hatte mir zum Antritt einen korrekten dunklen Anzug ausgesucht, anthrazit mit feinen Streifen und irgendwie zu eng, ich meine, er paßte, er war speziell für meine Ausbildung in der Bank gekauft, nur daß ich mich darin nicht bewegen konnte. Tut mir leid. Und wie ich sah, waren meine fünf Kollegen in so ziemlich derselben Verfassung.

Nun muß man wissen, daß im Bankwesen entgegen aller Zeitmode auf seriöse Erscheinung gehalten wird. Korrekter Nadelstreifen auch für die Lehrlinge, ich will nicht sagen als Kleidervorschrift, aber eigentlich doch. Und so standen wir dann als kleine uniformierte Dunkelmänner in der Halle, als die Schalter geöffnet wurden, und sahen beklommen aus, in unseren Anzügen. Sechs blasse Lebenskünstler. Nachmittags gingen wir auf die Berufsschule.

«Was hattet ihr denn heute Schönes?»

«Den Lombard.»

Da war mein Vater dann zufrieden.

*

Vater gab selbst das beste Beispiel, ging Punkt acht Uhr zehn aus dem Haus, um acht Uhr dreißig bei seiner Bank einzutreffen — es war nicht die meine —, in der Vossischen Handelsbank, einer relativ kleinen Privatbank in der vierten Etage eines Geschäftshauses in der Kaiser Allee (jetzt weiß man, um welche Stadt es sich handelt). Ich habe ihn einmal dort besucht, ein Messingfahrstuhl brachte mich direkt in die Etage, die wie eine Unterwasserwelt bläulich beleuchtet war. Er hatte kein eigenes Arbeitszimmer, anscheinend bewegte er sich in mehreren Bereichen, jedenfalls tranken wir unseren Kaffee in einer bläulichen Nische im Flur.

Sagte ich acht Uhr zehn? Ich habe auf die Uhr gesehen, es war immer genau acht Uhr elf, wenn er die Wohnung verließ, und er trug immer den gleichen schwärzlichen Anzug, von dem er aber anscheinend mehrere gleiche besaß. Ich glaube, er hatte eine Methode, die blanken Stellen an Ellenbogen und Unterarm mit Hirschhornsalz zu behandeln, damit die Anzüge immer neu aussahen, jedenfalls sah ich ihn einmal in der Küche damit hantieren. Acht Uhr elf hin und Punkt fünf Uhr dreißig zurück, denn Mutter war damals schon sehr krank, und die Hilfe verließ fünf Uhr dreißig das Haus.

Jede Woche einmal, zumindest aber jede zweite Woche mußte mein Vater verreisen. Er blieb dann über Nacht weg und kam am zweiten Tag sehr spät nach Hause, von Mutter immer sehr besorgt empfangen — ich bin mir nicht sicher, ob sie Genaueres über seine Tätigkeit wußte, wahrscheinlich nicht. Ich wußte es auch nicht, einmal aber sah ich seinen Aktenkoffer, ein eckiges funktionelles Ding, offen auf dem Schreibtisch stehen: Innen war er mit einem Stahlnetz ausgeschlagen, er hatte zwei Zahlenschlösser, innen auch noch eines, das ein gesondertes Fach versperrte. Offenbar war der Mann mit größeren Geldbeträgen unterwegs. Eine Kette fürs Handgelenk gab es nicht, dafür aber einen merkwürdigen schwarzen Ring am Griff. Mein Vater transportierte Geld? Ein Geldträger?

*

Im übrigen gestaltete sich mein Werdegang in der Bank zunehmend erfolgreich. Mein Platz war im vierten Folgeraum hinter der Schalterhalle, zugänglich durch einen langen Gang, der aber nur durch schulterhohe Trennwände gebildet wurde, dahinter saßen unnahbare Geschöpfe in schwarzen Röcken und cremefarbenen Oberteilen, die uns Lehrlinge keines Blickes würdigten. Genauer gesagt, gab es eigentlich nur Trennwände in diesem Bankgebäude, so daß man oberhalb einen Stein durch die ganze Länge hätte werfen können, nur daß nach hinten die Abstände immer enger wurden, immer schmaler, und ganz hinten in grellem Kunstlicht saßen wir — ich an einem Tisch von der Größe eines Plättbretts.

In den ersten zwei Monaten sortierte ich ausgehende Briefe, die ich in ein Kuvert mit Sichtfenster schob, das erforderte einige Aufmerksamkeit. In den nächsten zwei wechselte ich in die Geheimabteilung, wo die Kuverts keine Sichtfenster hatten, sie waren innen geschwärzt, nach einem weiteren Monat durfte ich sogar die Adressen schreiben. Daneben viermal in der Woche Berufsschule. Was hattet ihr?

Lombard.

Doch, einen Freiraum hatten wir, wir trugen weiße Socken. Zu unseren Anzügen trugen wir keine schwarzen, auch keine dunkelgrauen, anthrazit- oder asphaltfarbenen, nicht einmal mittelgraue trugen wir. Wir trugen weiße Socken. Das ist jetzt ausschließlich für Eingeweihte bestimmt, von London bis Singapur gab es damals — ich weiß nicht, wie es heute ist — ein geheimes Abkommen, eine Übereinkunft, Stolz der Banklehrlinge und symbolischer Protest. Jedenfalls blitzte es zwischen Hose und Schuh, wenn man unter die Tische schaute, und was sollte eine Bank dagegen einzuwenden haben.

Wir waren die «Whitesocks».

Und ja, einer von uns, er nannte sich Mortimer, hatte den Bogen ganz besonders heraus, er trug die allerweißesten Socken überhaupt, von allen bewundert, aber auch natürlich entsprechend beneidet. Sie waren wahrlich wie Leuchtfeuer. Woher bezog der Mortimer seine Socken? Bis wir darauf kamen — das heißt ich selber kam darauf: Eines Tages nach Bankschluß ging ich nichtsahnend die Kaiser Allee hinunter, sah vor mir im Gedränge weiße Socken blitzen. Wer ging dort? Mortimer. Nichtsahnend fröhlich. Hallo, altes Faß, wollte ich rufen, wie hängt’s denn, wie ist denn das Befinden, und wollte schon aufschließen. Da biegt der Mortimer plötzlich ab und betritt ein Bandagengeschäft, einen Laden für medizinische Artikel, Urinflaschen, Blindenstöcke, Verbandsrollen. Ich sehe ihn am Ladentisch mit dem Verkäufer verhandeln, sehe diesen einen Karton bringen, aus dem er etwas entnimmt. Bis es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt: Arztsocken. Mortimers Geheimnis waren Arztsocken.

*

Ja, da gab es natürlich kein Halten mehr. Mein armer Vater sagte dazu gar nichts. Stand da mit seinem Koffer, und wenn ich ganz ehrlich sein soll, empfand ich ihn damals als ziemlich unmodern. Man bedenke, in Zeiten weltweiten bargeldlosen Verkehrs transportierte er Geld in einem Koffer? Wechselgeld für die Kinokassen? Tageseinnahmen von Kaisers Kaffeegeschäft? Ja, wenn es sich um irgend etwas Verdecktes gehandelt hätte, aber für die Vossische Handelsbank im vierten Stock?

Einmal war der Koffer verschwunden. Vater hatte ihn auf den Schreibtisch gestellt, in seinem Arbeitszimmer, am Samstag, mit Sicherheit um drei Uhr dreißig. Jetzt war er weg. Niemals, nie zuvor hatte es in diesem Haus einen solchen Weltuntergang gegeben, man hätte meinen sollen, daß hier die gesamte Existenz überhaupt in Frage gestellt wurde, alles vorherige und alles künftige Leben, es wurde nicht gebrüllt, es wurde nur totenbleich gesucht. Aber das war die wirkliche Totenblässe, so als ob hier jeden Augenblick der Executer erschiene. Ich saß in meinem Zimmer und hörte die ganze Misere, half auch noch suchen. Also um drei Uhr dreißig hatte er den Aktenkoffer noch stehen sehen. Mit Sicherheit.

Wieviel war denn drin?

Frag nicht! sagte Vater totenbleich.

Sag mal, sagte ich, meinst du etwa den, der auf dem Schreibtisch steht? — –

Na, da steht er doch. — Da steht er nicht. — Da steht er doch. Da stand der Aktenkoffer tatsächlich unter dem Schreibtisch, vierzig Zentimeter tiefer. Also gut, ich hatte nur eine Notiz schreiben wollen, schließlich hätten sie ja auch etwas besser hinschauen können. Nicht meine Schuld. Zeigte es doch schließlich nur, in welch schlechter Verfassung sich mein Vater befand, und eigentlich hätte er mir leid tun müssen. Heute ist er tot. –

Aber vielleicht noch ein Wort zum modernen Geldverkehr. Ich meine den wirklich modernen, wie er wirklich stattfindet. Bewegt werden da nur noch Zahlen, eigentliches Geld gibt es gar nicht mehr. Ich spreche von den bunten Scheinen mit Kopf und Zahl und dem fruchtlosen Bemühen, sie einigermaßen fälschungssicher zu machen. Bargeld, um es einmal ganz drastisch zu sagen, Bargeld ist nur noch Ballast, nur noch totes Gewicht.

Bewegt wird etwas ganz anderes.

Wenn zum Beispiel eine Bank, sagen wir, die BFG, die Bank für Gemeinwesen, zweihunderttausend an die National Westminster in London, 50 Lombard Street sendet, dann tut sie das gar nicht, weder brieflich noch per Kabel oder durch sonstwelche telegrafischen Boten. Vielmehr speist sie die zweihunderttausend in ein potentielles Depot ein, ein einziges großes Zahlungsgebäude sozusagen, bestehend aus Milliarden und Abermilliarden Potenzen. Wo sie auf unerklärliche Weise verschwinden. Die Zweihunderttausend. Um aber, das ist die moderne Zeit, auf Abruf sofort wieder zu erscheinen.

Wenn man den Code kennt.

Es ist ein Sterben und eine Wiedergeburt mit null Verzögerung. Wobei sich dann das Neugeborene plötzlich in London befindet? Wie war das möglich, man weiß es nicht. Und es gibt auch keinen Code (den man kennt), es gibt Milliarden und Abermilliarden Codes, die noch dazu verschlüsselt sind, und selbst die Schlüssel sind möglicherweise noch verschlüsselt. Zu alledem.

Mit einem Wort: Geld wird nicht geschickt noch versendet, und schon gar nicht in ledernen Handtaschen, die plötzlich unter dem Tisch stehen.

Das sollte ein Witz sein.

– –

Vater sagte dazu kein Wort. Er stand da in seinem sorgfältig aufgedämpften Anzug, ich sehe ihn noch heute vor mir, mit der mit dem Lederpflegemittel behandelten Tasche in der Hand. Stand da völlig unmodern, fest im Glauben, fest in Position, wie wir es heutzutage gar nicht mehr zustande bringen würden, stand da und blickte auf meine weißen Socken.

Und dann erzählte er mir die Geschichte von Sindabati, dem Geldträger.

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