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Lieber Freitag.

Man nennt es einen «Briefkasten». Leute kommen und legen dort etwas ab, und dann kommen andere Leute und holen es sich. Es ist ein geheimer Ort, ein Versteck. Ein Schließfach, ein Sandkasten auf der Straße, ein blindes Loch, ein Schrotthaufen irgendwo in einem Hof.

Wir wollen uns jetzt nicht hinstellen und behaupten, wir hätten gar nichts gewußt. An der einen oder anderen Stelle ist natürlich immer etwas durchgesickert. Nicht umsonst hatten wir uns Sorgen gemacht, Vaters Tätigkeit betreffend, ich weiß, daß meine arme Mutter oft geweint hat, dabei gab es eigentlich gar keinen Grund. Vaters Tätigkeit hat sich, genau genommen, immer noch in den Grenzen des durchaus Legalen bewegt — er betreute das Geld anderer Leute, viel Geld, großes Geld, sehr großes Geld. Nur fragt es sich, wessen Geld. Leute kamen und legten es ab, und er nahm es und leitete es in die Kanäle seiner Bank ein, wo es verschwand. Wo es durch die unendlichen Verästelungen lief, durch das Geben und Nehmen, durch die Zinssätze und Währungsdifferenzen und die Zinssätze der Zinssätze, wo es zum Rüstungsfonds und Staatsdarlehen von Venezuela wurde oder Kamerun. Als Rücklagen, Optionen und Kursgarantien, die sich veräußern ließen, und wenn das viele Geld, das sich möglicherweise auch noch vermehrt hatte, wieder in der Mindener Filiale erschien, war es gewaschen, war es — das viele schmutzige Geld — sauber.

Vater, der Geldwäscher.

*

Jawohl, eines Tages hatte er mich beiseite genommen, um ein ernstes Wort mit mir zu reden. Ich war acht Jahre alt damals, ich weiß es, weil ich etwas ziemlich Schlimmes angestellt hatte. Er sagte:

«Verbrechen zahlt sich nicht aus!»

Crime does not pay.

Das hatte er gesagt und hatte es ernst gemeint, soweit es die Folgen, die Proportion von Gewinn und Verlust betrifft, und den Dauerschaden, der unweigerlich resultiert. Was ich nur bestätigen kann. Noch heute empfinde ich ein Schamgefühl, weniger über das, was ich getan hatte, als daß es so leicht entdeckt wurde. Ich habe es nie wieder getan. Dabei hatte das Ganze eigentlich mehr Symbolcharakter gehabt.

– –

Kindergeburtstag. Gartenfest mit allem, was dazugehört, Torte und Kakao, Trampolin für Sechs- bis Achtjährige, alle Freunde waren da, Mädchen mit Zöpfen, eine großspurige Eisenbahn wurde zwischen Blumenrabatten aufgebaut. Denn es war ein reiches Kind, ein Kind reicher Eltern, dessen Gabentisch wir hier bewundern durften. Da gab es zum Beispiel diese Kinderpost, oh, so etwas hatte man noch nicht gesehen, ich glaube, auf der ganzen Welt gab es keine üppigere Kinderpost. Mit Briefen, Briefmarken, Briefwaage, Paketwaage, Paketen, einen ganzen Schaltertisch gab es, mit Glasabteilungen, Zahlkarten, Postanweisungen, Wertsendungen. Und dann gab es natürlich auch Geld, ganze Packen davon, in großen Mengen und hohen Nominationen. Ich weiß nicht, vielleicht sollten Lotterieeinnahmen transportiert werden? Oh, es war wundervolles Geld, absolut echt und feingestochen, die blauen Hunderter, die braunen Tausender — wir lebten ja noch in der Mark-Zeit — sogar das Papier fühlte sich echt an, von Künstlerhand geschaffen.

Das hast du gestohlen?

– –

Alles?

– –

Ich habe den Augenblick genutzt und die ganze Sore abgeräumt. Alles. Ich habe nicht widerstehen können, die Versuchung war zu groß gewesen. Habe mich aufs Fahrrad gesetzt und bin an den Lankower See gefahren, es hätte auch Amerika sein können oder Australien. Natürlich war es nur Spielgeld, es hatte nur ein Viertel der normalen Größe, und insofern natürlich nur Symbolwirkung. Aber es war wirklich gut gemacht und das Verbrechen war auch echt sowie Sühne und Zeichnung fürs künftige Leben. Geistig jedenfalls.

Die Entdeckung war denn auch auf dem Fuß erfolgt, gleich als ich abgefahren war. Man hatte den ganzen Garten abgesucht — obwohl der Eigentümer gar keinen Wert auf die Postgebühren gelegt hatte —, das Geld war verschwunden. Und wer war noch verschwunden?

– –

Als ich mich um zehn Uhr nachts endlich nach Hause traute, fand ich dort die ganze liebe Geburtstagsgesellschaft versammelt, alle Freunde und Schulkameraden, alle Mädchen mit dicken Zöpfen. Um zehn Uhr nachts, so sind die Menschen beschaffen.

Mein Vater sah sehr ernst aus (Crime doesn’t pay).

*

«Aber wie», rief ich aus, «wie konntest du dich bloß mit solchen Leuten einlassen, du weißt doch, was das heißt!»

«Du hast keine Ahnung», ächzte er, «heutzutage kann man sich seine Kundschaft nicht mehr aussuchen, du weißt nichts!»

Ich wußte nichts. Hier stand ich in dieser Luxusvilla im pompejanischen Stil in Luxemburg mit einer Menge Scherben auf dem Fußboden und einem zusammengebrochenen Vater auf dem Sofa — so weit immerhin hatten wir es gebracht. Und wie, um Himmels willen, hatte er sich überhaupt mit solchen Leuten einlassen können!

– –

Folgende furchtbare Geschichte: Da hatte es also einen Schrotthaufen im Hof gegeben, in dem Haus am Färbergraben, wo wir wohnten. Einen alten verrosteten Badeofen in der Ecke. Oder ist es eigentlich nur die Hülle eines Badeofens gewesen, verrottet, verbeult und mit Gras überwachsen. Unter all dem Gestrüpp und Bewuchs kaum zu sehen.

Also dieser Schrotthaufen hatte unten ein Loch, gerade groß genug, daß ein Kind hätte reinkriechen können, nicht größer. Aber auch nicht kleiner. Oder um eine Tasche mit Geld reinzuschieben, möglichst dreckig, oder einen anderen dreckigen Packen, oder sonstwas. Wenn man versteht, was ich meine.

Dieser «Briefkasten» lief hervorragend, er lief ideal. Leute kamen und legten ab. Und dann kamen sie wieder und legten wieder ab. Der Zugang war frei und dennoch abgeschottet durch die Toreinfahrt. Bei Nacht. Und auch bei Nebel. Schlimmstenfalls sogar bei Sonnenschein.

Er lief so gut, daß er fast als Modell gelten konnte.

Und dann war er weg.

– –

Ja, eine fürchterliche Geschichte. Eines Tages plötzlich über Nacht, man weiß nicht wie, war der gute Badeofen verschwunden. Hatte sich schier in Luft aufgelöst. Keiner weiß, wie es geschah, am Morgen war die Welt nicht mehr dieselbe, selbst das Gras war verschwunden, anscheinend hatte sich jemand ausgiebig bedient.

«Jemand», ächzte der Vater.

– –

«Na, und? Wieviel ist es denn gewesen, wieviel Geld?»

«Das weiß ich doch nicht», krächzte er.

Dann packte er mich am Arm, so wie es Sterbende tun, die noch etwas sagen wollen und nicht mehr dazu in der Lage sind.

«Ich habe eine faule Zahl eingespeist. Ich hatte die Wahl: Mein Leben oder eine faule Zahl.»

– –

Eines von beiden.

*

Eines jedoch blieb bei der Geschichte im Dunkeln. Wenn jemand das Geld nehmen wollte, wieso hatte er dann den ganzen Ofen genommen? Ich meine, das wäre doch nicht nötig gewesen. Oder wer, um alles in der Welt, sollte denn so blödsinnig sein, eine alte Rosthaube zu stehlen. Frage ich.

Vater hatte ständig einen gepackten Koffer im Flur stehen. Immer bereit stand er eigentlich jedem im Weg, war aber inzwischen bereits Bestandteil des pompejanischen Treppenaufgangs geworden. Vater zeigte mir einmal, wieviel er wog, nämlich gar nichts. Er zeigte es mir, indem er den Koffer mit zwei Fingern hob und eine Weile ausgestreckt hielt. Voller Stolz. Ich habe bei Gelegenheit einmal hineinschauen dürfen, und ich muß sagen, der Inhalt berührte mein Herz, das heißt, die Umsicht und Präzision, mit der er zusammengestellt war, berührten es. Mein erfindungsreicher Vater hatte hier eine Universalgarderobe erfunden, die jeglicher Klimazone von der Arktis bis zu den Feuchttropen gerecht wurde. Ich übertreibe nicht, wußte er doch nie, wohin es ihn verschlug.

Zum Beispiel der Mantel, ein federleichtes Ding für notfalls schwersten Regen, ja, aber dieser hatte auch ein Doppelfutter aus einer silbrigen Folie, sogenannter Weltraumfolie, die also im Bedarfsfall zehn Grad Kälte abhielt, oder mehr. Ich versteige mich sogar zu der Annahme, daß es da auch noch Luftkammern gab, die zur weiteren Isolation aufgeblasen werden konnten, zugetraut hätte ich es ihm.

Oder der Anzug. Es gab nur einen, aber es waren zwei, ein Wendeanzug, innen naturschwarz und außen neutral kokosfarben. Oder umgekehrt. Er war noch federleichter und für Rio oder Singapur geeignet, — damit er aber auch in Moskau getragen werden konnte, gab es noch ein langes Unterzeug aus Angorawolle, Oberteil und Unterteil in einem Stück, so leicht, daß es praktisch davonflog. Also damit hätten sich noch zehn weitere Minusgrade bequem aushalten lassen.

Die Erfindung des superleichten Reisens. Ich glaube, ich hatte meinen Vater nie mehr geliebt als beim Anblick dieses Kofferinhalts. Federschuhe mit Luftkissen, Aluminium-Rasierer (Skelettausführung), Minibürste, Mini-Zahnbürste, Mini-Aspirin, Hosenträger aus Angelschnur, Tennispullover aus Daunen, Hemden aus gar nichts. Dieser Mann reiste leicht, so wie man von einem Zimmer ins andere geht.

Ich vergaß, zu diesem Anzug gehörte noch ein separater Kragen, ein Latz aus schwarzem Satin, der auf das Schwarz gesetzt eine Art Smoking-Effekt ergab, einen Tuxedo. So daß selbst einer Gala in Rio oder einem Opernball in Moskau beigewohnt werden konnte. Ich nenne hier nur Beispiele, in Wirklichkeit war der Kofferinhalt noch viel erstaunlicher. Jedes Stück hatte Vater bis auf das letzte Zehntelgramm reduziert, in jahrelanger Erfahrung, bis hin zum reduzierten Reiseschmöker. Ein wirkliches Abbild seines Lebens.

Um aber die ganze Tragödie zu sehen: Reiste mein Vater fast ohne Gepäck, reise ich heutzutage ganz ohne, ohne jegliches. Ich trage gar nichts, ich gehe zu Fuß, benutze auch keine Taxis, die sich leicht verfolgen lassen, benutze keine Rolltreppen, die nicht eine Gegenrolltreppe haben, so daß ich mich notfalls auf die Gegenseite schwingen kann. Das geht aber nur ohne Gepäck.

*

Vaters Zusammenbruch hatte in der Folge doch einiges verändert. Ich spreche von mir, Vater war nach einiger Zeit wieder derselbe. Die Stadt war dieselbe, unser Haus, die Straße, aber ich eigentlich nicht. Vater ging inzwischen wieder in seine Banque de Luxemburg und ich ging in meinen Crédit Lyonnaise, man darf aber nicht vergessen, daß ich einer zarteren Generation angehöre. Sah ich ein geparktes Auto vor dem Haus, das sich länger als einen Tag nicht von der Stelle rührte, sah ich einen bärtigen Mann an der Ecke und wohlmöglich einen zweiten Bärtigen an der anderen, war ich bereit, sofort abzureisen.

Vater war inzwischen wieder erstaunlich gelassen. Ging mit mir weiterhin ins Fleur de Lit, unseren Mittagstisch, wo wir sogar eigene Servietten hatten. Ging mit mir am Marktplatz einen heben, um die — übrigens auch sehr paranoischen — Tagestouristen mit ihren Aktentaschen zu begutachten. Vaters Lebensgeister bewegten sich überhaupt wieder in aufsteigender Linie, ich vermerke das, weil uns damit das Folgende um so härter traf. Einmal kam er mit einem Vogel nach Hause, einem ziemlich häßlichen Ding aus weißem Pappmaschee, er hatte es in irgendeinem trendigen Laden gesehen und sein Herz daran gehängt. Es sollte wohl ein Adler sein, Symbol für Freiheit und freiem Davonfliegen, aber es sah eher wie ein trauriger Kakadu aus.

Was hast du denn da um Gottes willen angebracht, hatte ich noch gesagt, das ist ja eine wirkliche Mißgeburt, ein wirklich trauriger Vogel. Nein, ich hätte es nicht sagen sollen, nicht im Hinblick auf die kommenden Ereignisse. Immerhin hatte er sein Herz daran gehängt.

Eines Tages also kommen wir nach Hause. Wir hatten wohl wieder einen Umtrunk genommen, oder war es eine späte Tasse Kaffee im Scène Noir nach Bankschluß. Vater bemerkte es gleich in der Haustür, weil es metallisch roch. Ich roch nichts.

«Es riecht metallisch», sagte er, «was ist das?»

In der Eingangshalle war nichts zu sehen, da stand nur der Palmkübel mit der Kentiapalme sowie das Telefon auf einem Tischchen, aber nach ein paar Schritten blickt man in das Arbeitszimmer, und dort: Chaos.

So etwas hatte ich zuvor nur in Kinofilmen gesehen.

Hier war jede Schublade herausgerissen, jedes Buch aufgefleddert, Zeitungen, Akten, Rückseiten von Bildern, jedes irgendwie Papierene, selbst harmlose Adventkarten, Geburtsgrüße zerfetzt und zerschreddert, die vierundzwanzigbändige Enzyklopädie vollkommen auseinandergenommen, jeder einzelne Band vollkommen aus der Bindung gerissen. Ein einziger wüster Haufen. Als ob eine Herde Hunnen sich darüber hergemacht hätte.

Sogar der Kakadu …

«Was haben sie bloß mit dir gemacht!!!»

Also, dem Kakadu war wirklich übel mitgespielt worden. Die Flügel waren abgerissen, die Beine abgerissen, der ganze Vogel umgestülpt und ausgeweidet. Der Kopf fehlt ganz — wir fanden ihn nachher im Klo.

«Was ist dir geschehen!!!»

Ja, so war Vater. Hier hatte sich Ungeheuerliches begeben, Werte waren zerstört, die Ordnung, der Anstand, die Menschlichkeit in Frage gestellt, hier war eine ganze Bibliothek vernichtet! Gar nicht zu reden von unersetzlichen Dokumenten, von Belegen und Quittungen. Die ja auch nicht mehr zu ersetzen waren. So gründlich hatten sie gearbeitet, so sorgfältig diese Welt zerkleinert. Und er?

Er grämte sich um einen häßlichen Vogel.

So war der Mann.

Nachher saßen wir erschöpft in den beiden Sesseln, deren Polster in Streifen geschnitten waren, und besprachen die Lage, soweit da noch etwas zu besprechen war. Wir hatten uns zur Beruhigung erst einmal einen Tee bereitet, bestehend aus Mate und Coca-Blättern, den Vater von einem seiner Ausflüge mitgebracht hatte und der wirklich ungemein beruhigte. Denn das scheint eines dieser Phänomene zu sein, daß nämlich größte Aufregung, allergrößte, im Gegenzug in große Ruhe münden kann. Weshalb wir am Ende da saßen, als hätten wir ein höchst befriedigendes Tageswerk vollbracht.

«Was aber», fragte ich ihn, «haben die Brüder denn so sorgfältig gesucht?» Ich wußte es ja, das heißt, ich wußte es eigentlich nicht.

«Den Schlüssel.»

«Den Schlüssel?»

«Den Schlüssel», bestätigte er.

Inzwischen hatten wir ein Feuer im Kamin entfacht, in dem die Überreste einer einst umfangreichen Bibliothek brannten, und ich darf sagen, munter brannten. Zur Zeit waren es Teile der Encyclopedia Britannica sowie ein halber Zentner unbezahlter (oder bezahlter) Rechnungen. Und zugleich eine Art Befreiungsakt.

«Sie haben ihn aber nicht gefunden.»

«Den Schlüssel?»

«Den Code. Weil er nirgends steht, deshalb, er steht nur hier», Vater tippte sich an die Stirn, «nur hier drin.»

Wer hatte denn jemals wissen können, wie gut Winnetou I, II und III brennen. Ein halber Meter Journal für das Bankgewerbe, Donnerwetter. Die Hitze wurde so groß, daß wir anfingen, Hemd und Hose auszuziehen, wir wurden sogar lustig.

«Du hast also den einen faulen Betrag mit einem anderen faulen Betrag gedeckt?»

«Was hätte ich sonst tun sollen.»

«Und diesen faulen Betrag mit einem weiteren — — wie oft hast du denn das gemacht!»

– –

«Vater», rief ich voller Entsetzen aus, «das war das Geld der …» Ich sprach es nicht aus, ich konnte es nicht aussprechen. Schlimmer hätte es gar nicht kommen können.

«Na und», fragte ich mit weiterem (sehr viel weiterem) Entsetzen, «wieviel war es denn, wie viel?»

«Frag nicht.»

– –

Und dann packte er meinen Arm — aber so gewaltig, daß ich dachte, er wollte ihn mir neu einrenken. Ich habe mir später überlegt, daß, wenn diese Idioten irgendeine Wanze zurückgelassen hätten, irgendwo, hätten sie jetzt hören können, was sie wissen wollten, und wir hätten uns den ganzen Aufwand sparen können. Aber sie hatten eben nicht, diese Idioten.

«Du mußt jetzt zuhören!!! Ganz genau zuhören!!!»

«Vater!»

«Nein, jetzt nicht. Du mußt dir das jetzt ins Hirn brennen!»

«Brennen?»

«Brennen», bestätigte er, «niemals und nirgendwo hinschreiben!»

Er hob den Finger.

«Der Code besteht aus fünf Zahlen und vier Buchstaben. Er lautet:

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