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In einer früheren, ferneren Version dieser Geschichte sagt Daniel Defoe, er habe eines der unglaublichsten und abenteuerlichsten Leben gelebt.

Ich sage: Ich auch.

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Der Tod kommt in Gestalt eines freundlichen kleinen Herrn, der mir im Zug nach Grevesmühlen gegenüber sitzt, und er kommt auch nicht sofort, vielmehr läßt er mir Zeit, meine Angelegenheiten zu regeln. Insbesondere dir, lieber Freund, ein beträchtliches Erbe zu hinterlassen. Ein in Ausmaßen und im Umfang geradezu obszönes Erbe, das ich dir vermache, vor allem eine Moral, mit der du, fürchte ich, am Ende ziemlich allein dastehen wirst. Lieber Freund.

Als ich elf oder zwölf war, hatte mich mein Vater eines Tages beiseite genommen und gesagt: Du wirst es einmal schwer haben, mein Sohn, du wirst keine Freunde haben, du wirst entdecken, daß du allein bist, daß du dich auf einer Insel befindest — merke dir, mein Sohn — inmitten eines Ozeans von Menschen über Menschen, die alle laut reden und alle etwas anderes meinen. Die ihre Seele daransetzen werden, dich von dieser Insel — so selig sie immer sein mag — zu vertreiben. Es sind sechs Milliarden, alle miteinander, kannst du das verstehen?

Ja. Vater.

Nein, sagte er.

– –

Ich erinnere mich an dieses Gespräch, das ich nicht verstand, das in dem mahagonifarbenen halbdunklen Arbeitszimmer meines Vaters stattfand. Es ist immer halbdunkel dort gewesen, auf dem Schreibtisch brannte immer eine Bernsteinlampe, draußen fuhr die Straßenbahn. Es sind die Schatten, die mir im Gedächtnis geblieben sind, die tätowierten Köpfe der Maori an den Wänden, die Ledersessel von Mandel, der große Elefant aus dunklem Holz — sehr schwer, wenn ich mich gegen ihn lehnte. Selten durfte ich hier eintreten, denn Vater arbeitete sehr viel, er kam mit großen Packen Papier nach Hause, die Reichtum bedeuteten, ich hatte immer geglaubt, Vater sei reich. Die Ledergarnitur aus dem Kaufhaus Mandel in der Schweidnitzer Straße roch neu, so oft ich hier eintreten durfte. Sie ist immer neu gewesen.

Also erzählte er von den Täuschern, den «Deceivern», wie man sie nenne, die ihren Namen aber zu Unrecht trügen, nicht wert, so genannt zu werden. Eine Geschichte aus dem alten Indien, eine Geschichte von Hitze und Dunkel und einer schrecklichen Gottheit mit ihren vielen Armen und Beinen. Und von bösen Männern, die ihr zu Ehren ihre Opfer mit dem Seidenschal erwürgten. Dazu rauchte er, in seiner Ledergarnitur hinter dem Mahagonitisch sitzend, eine sehr lange hellbraune Zigarre, die Reichtum bedeutete. Zigarre und hellbrauner Anzug, den er trug. Wie sie es anstellten, die Täuscher, wie sie sich drehten und wendeten und ihre Kunst «Kunst» nannten. Zu Unrecht.

Die wahren Täuscher nämlich — und hier hob mein Vater die Stimme —, die wahren Deceiver im alten Indien seien Schatzträger gewesen. Gute Männer, redliche Männer, die das ihnen Anvertraute sicher an seinen Platz brachten. Durch unendliche Tigersümpfe, durch Schlangenwüsten, durch reißende, beißende Wasser und mörderische Schluchten. Mutige, vor allem aber ehrenwerte Männer, die ehrenwertesten — halte dir das immer vor Augen, mein Sohn —, eine Gilde untadeligen Rufes.

Rief er aus.

Während vor meinen Augen in dem halbdunklen Arbeitszimmer ein fernes Land heraufdämmerte, wo Säcke voll Geld, Kisten voll Gold herumgetragen wurden, die nie ihr Ziel erreichten. Immer bedroht — er hob die Stimme — immer belauert von niedrigem Raubgesindel, ja, aber auch lüsternen großen Herren, die da in ihren Raubpalästen am Wege saßen und die zu täuschen viel Todesmut bedurfte. Todesmutige Männer seien es gewesen, ausgestattet mit nichts als ihrer Redlichkeit und der Kunst der Verstellung, verschlagen, kühn, undurchsichtig, sogar durchsichtig: Bettler darstellend, mittellose Verwandte auf dem Weg in die Fremde, flüchtige Schuldner, Straffällige, Ausgestoßene. Sogar Tote.

Hier hob der Vater den Finger.

Immer eingedenk der Redlichkeit, der treuen Hand, hörst du, lieber Sohn, treue Hand bis in den Tod. Solche Geschichten hörte ich am liebsten, wenn Vater sie hoch und heilig erzählte, denn wie hoch sei ein solcherweise in Jahrhunderten treuen Tragens erworbenes Kapital wohl einzuschätzen! Und wem sonst hätte man sein Gut anvertrauen können!

Es folgte eine Liste des zu befördernden Gutes: Ringe, Ketten, Armbänder als Zahlungsmittel, Geschenke und Gegengeschenke, Hochzeitsgeschmeide, große und kleine Kronen, vor allem Geld, Geld und Gold in jeder Form in Ledersäcken, in verschweißten Kästen, runde, viereckige, bandförmige Prägungen, Gold aus der Mahrathenzeit, Gold aus der Bennarenzeit, Stangengold, Zeremoniengold, goldene Prunkelefanten, die an Stangen getragen wurden — letzteres erforderte dann besondere Verstellungskunst. Ich sah, wie sie durch die nur von dem Bernsteinlämpchen erhellten Dämmerung schwankten, zwischen den Mahagonimöbeln und der Ledergarnitur aus dem Kaufhaus Mandel in der Schweidnitzer Straße.

So war es, so ist es gewesen, und so geht es voran. Eines aber, führte der Vater aus, der immer eine Moral mit seinen Geschichten verband, eines solltest du lernen, lieber Sohn, daß nämlich Redlichkeit sich auszahlt. Sie hatte überhaupt erst erfunden werden müssen. Ohne sie wäre ein funktionierendes Bankwesen mit Vertrauen und Gegenvertrauen, wie wir es heutzutage kennen, gar nicht möglich. Dokumentiert und monumentiert in Marmor und Granit für jedermann an jeder Ecke sichtbar. Lieber Sohn.

Er hätte es wissen müssen, ging er doch jeden Morgen pünktlich in die Filiale der Lübschen Kredit- und Depositenbank am Roßmarkt. Dabei hatte er gar nicht indisch ausgesehen, gar nicht todesmutig mit dem geraden Haarschnitt und den blassen Gesichtszügen. Damals hatte er noch einen Scheitel getragen und ein Schnurrbärtchen, die später beide fehlten — überhaupt hatte er sein Aussehen von Zeit zu Zeit verändert. So daß, von hier aus betrachtet, das Bild meines Vaters immer angepaßt erscheint, immer im gleichen Abstand, immer zeitgemäß. Heute ist er tot.

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