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Lieber Freitag.

Stelle dir einen Mann vor, der sich nirgendwo befindet: Das bin ich. Es gibt keine Spuren von ihm, keine Forderungen, keinen Anspruch, keine unbezahlte Rechnung. Es gibt auch kein gebrochenes Heiratsversprechen, nicht einmal die abgeschnittenen Haare beim Friseur gibt es. Der Mann, der sich nirgends befindet, befindet sich überall. In Saarbrücken u n d in Kaiserslautern.

*

In Kaiserslautern in der Einkaufszone betrete ich als blonder langhaariger Mensch das große Untergeschoß des Hertie und komme als Rentner mit Mütze in Saarbrücken wieder heraus. Dazu trage ich diesen besonderen fremdenfeindlichen Ausdruck im Gesicht, und, lieber Freitag, das geht am besten am «Franzosentag» einmal in der Woche, wenn die Franzosen von jenseits der Grenze einkaufen kommen und die Preise hochtreiben. Dann ist es leicht, sich zu verlieren, alles ist austauschbar. Selbst die Fahrkarte ins Nichts, hin und zurück, und die Lulle im Mundwinkel.

Oder London.

In London treffe ich nicht auf dem Victoria-Bahnhof ein, mittags um zwölf, sondern nachts um drei London Bridge Station, wenn kein Mensch auf dem leeren Bahnsteig und draußen kein Taxi zu finden ist, nur heringfarbene Hauswände, die sich in den Pfützen spiegeln. Auf dem langen, erst aufwärts, dann abwärts führenden Weg über die Themse kommt mir höchstens ein Nachtschwärmer mit einem Vampirgebiß entgegen. Das sind diese Plastikdinger mit den langen Eckzähnen, die sie sich aufstecken, ich gehe aber weiter, weil ich weiß, daß ich drüben noch einen 15ner Nachtbus kriege, der dann tatsächlich kommt.

An der West-Indian Dock Road steige ich aus, nun ist es nicht mehr weit. Sie haben hier Glaskästen auf die alten Speicher gestellt, gläserne Luxusvillen hoch oben, die alle so aussehen, als sei kein Mensch zu Hause. Aber täuschen wir uns nicht, hier kostet der Quadratfuß eintausend Pfund, was sage ich, zweitausend Pfund, und sie sind ganz sicherlich zu Hause.

Ein warmer Wind von der Themse her. Einnobles schwarzes Haus, das oben noch Frachtkräne hat. Eine gußeiserne Treppe. Eine Tür, anscheinend aus Sperrholz, wie sie es hier wundervoll dick liefern, aber innen trägt es eine Schicht Stahlnetz, eine englische Spezialität. Und täuschen wir uns nicht, selbst Abstellräume kosten hier eintausend Pfund pro Quadratfuß, selbst Besenkammern ohne Ausblick. Am Morgen bin ich vollkommen verwirrt, ich wache in einem Zwielicht auf, blicke durch das kleine Fenster, vom Bett her, auf eine solide Wand und weiß überhaupt nicht, wo ich mich befinde.

Also versuche ich aufzuwachen. Ich kenne diesen Geruch nach alten Holzbalken und Desinfektion und, oh ja, einer bestimmten Biersorte mit Minze. Sofort gelüstet es mich nach einem englischen Frühstück. Dies ist England! Mit dem wundervoll nussigen Haferflockenbrei, Aal in Aspik, Eiern mit gebratenem Speck und geheimnisvollen Würstchen, in denen sich Brot befindet. Ich will diese dickgeschnittenen schwarzen Scheiben, denen man auch nach zehn Jahren nicht auf die Schliche kommt. Vor allem will ich den schweren schwarzen Tee mit Milch und Zucker. Der hilft. Der hilft auch über den Wetterwechsel, der hier alle halbe Stunde stattfindet.

Dann ist alles geklärt. Als ich ins Freie trete, sind dort soeben zehntausend Banker mit der Hochbahn eingetroffen und strömen jetzt über die Straße, alle in schwarzen Anzügen und blauen Krawatten. Keine Königin zu Pferde. Ich glaube aber, ein paar weiße Socken entdecken zu können.

Während an den Bankparterren die hochangebrachten Blumenkästen mit hochreichenden Spritzapparaten gewässert werden. Auch so eine Spezialität.

Oder Warschau.

Ich kann es nicht leugnen, in Warschau beschleicht mich immer eine Verzweiflung. Ich weiß nicht, woran es liegt, möglicherweise sind es die Schiebermützen. Zwei Männer mit Schiebermützen stehen vor mir auf der Rolltreppe, nicht direkt, direkt vor mir steht eine Mutter mit Kind und Kinderwagen. Nun laufen die Rolltreppen auf den Warschauer Bahnhöfen sehr schnell, beängstigend schnell, ein früheres Geschenk der Sowjets, so daß die Mütter spezielle Klappkinderwagen benötigen, um sich überhaupt transportieren zu lassen. Für die Männer ein offensichtlich erotisches Stimulans, sie lehnen alle schräg auf den Gummihandläufen, als ob hier etwas abliefe. Aber vielleicht ist es auch nur eine generelle Freude am Fortschritt.

Jedenfalls fällt ein plötzlicher Wechsel in die gegenseitige Fahrtrichtung hier weniger auf als in irgendeiner anderen europäischen Großstadt, denke ich mir. Nur daß sich die beiden Herren weiter vorn unmittelbar nach mir auch über die Handläufe schwingen!

Das ist Warschau.

Als ob sie mich durch ein rückwärtiges Auge unter Beobachtung gehalten hätten. Nun gibt es eine raffinierte Verfolgungsart, bei der sich der Verfolger nicht hinter, sondern vor seinem Opfer befindet, während dieses, das Opfer, sich nach hinten absichert und gar nicht weiß, daß es dieses nach vorn tun müßte.

Ich weiß es.

Also schwinge ich mich, und sie schwingen sich über die Handläufe, mit unseren Schiebermützen, an sich nichts Ungewöhnliches in Warschau, trotzdem erfahren wir den ganzen Unmut der Bevölkerung. Wir werden gestoßen und geschlagen, sie möglicherweise mehr als ich, weil sie zwei sind. Weil sie ununterbrochen sich auszuweisen bemüht sind. Ich werde dann am Ende der Rolltreppe abgeführt, so geschehen am helllichten Tag auf dem Wroclav Bahnhof vor einer Menge, die es eigentlich hätte besser wissen müssen. Daß sich die Angelegenheit dann als ein Mißverständnis herausstellte, ändert für meine Person nichts an der Tatsache — man hatte mich mit meiner Mütze für einen Betrüger, einen gewissen Irkuts gehalten, für den in der Bahnhofshalle eine Falle aufgestellt worden war. Man verhörte mich auf einer gelbgefliesten Polizeiwache gleich hinter den Toiletten.

«Bist du besoffen?»

«Eigentlich nicht.»

«Was hast du dich dann über die Handläufe zu schwingen, bist du besoffen?»

Was sollte ich dazu sagen.

«Falls es sich noch nicht herumgesprochen hat, hier herrscht Ordnung in Polen!»

*

Die Mützen übrigens, solche wie ich eine getragen hatte, sind signifikant, obwohl rund im Schnitt, irgendwie unverantwortlich eckig gefaltet, auf eine unverantwortliche Weise. Das Ergebnis ist denn auch wenig Vertrauen erweckend. Kein Wunder, daß man mich für einen Betrüger gehalten hatte.

Athen.

In Athen herrscht auch mehr Ordnung als man denkt, obwohl ich wenig darüber aussagen kann. Der Fisch wird hier mit Zimt zubereitet, bei Hitze sehr angenehm. Und in den Altstadtläden kann man kleine Blechbrunnen kaufen, die, an die Wand gehängt, aus kleinen handgefertigten Messinghähnen Wasser spenden. An sich sehr hübsch, wenn sonst nur braune Brühe aus der Leitung kommt. Das griechische Konfekt hat auch seinen Stellenwert, auch die nett gelispelte griechische Sprache, aber eigentlich weiß ich nicht, was ich hier überhaupt zu suchen habe.

Ich hätte den Zug nach Istanbul nehmen sollen, denn dort wartet ein Hotel auf mich, ein ganz und gar verschwiegenes aus Vaters Zeiten. Wir hatten dort einmal übernachtet, als uns Vaters Tätigkeit noch weit herumführte. Ich erinnere mich deutlich. Es bestand aus einem engen Hofschacht, auf den sämtliche Luftzufuhr mündete, eine erstickende Angelegenheit, Fenster zur Straße gab es keine. Im Beyoglu Viertel. Soweit ich mich erinnere, gehörte es einem Herrn Güllül Pascha, jedenfalls war das der Name des Hotels. Wir verbrachten nur eine Nacht, und am Morgen wachten wir vergiftet auf, mein Vater noch mehr als ich, mit Kopfschmerzen und Übelkeit auf der Straße, offenbar hatte sich die mangelnde Sauerstoffzufuhr mit dem Zimt im Fisch (nein, das ist griechisch) vereint, sagte mein Vater, und beklagte sich bei Herrn Güllül. Dabei war er selber schuld. Denn hier nun wird die ganze Tragweite deutlich: Das Hotel gehörte meinem Vater! Ja, du hörst richtig, eine seiner obskuren Anlagen, irgendwie hatte er ja auch sein eigenes Geld waschen müssen, soweit er es als seines betrachtete.

Und hier nun kommt die zweite Überraschung: Jetzt gehört es mir!

Das Güllül Pascha im Beyoglu Viertel.

So mir nichts, dir nichts, tut mir leid, werde es aber trotzdem nicht aufsuchen, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit.

*

Also doch Warschau. Ankunft ein Uhr nachts. Ich habe dreizehn Stunden Bahnfahrt hinter mir, in den letzten beiden mit dem Kopf in ständiger Schwebe. Jeder Platz ist besetzt, ich habe Schwierigkeiten, meine Beine unterzubringen, weil mein Gegenüber, ein starker alter Mann mit einem Eßkorb auf den Knien, zwar ißt, aber dennoch schläft und seine Füße unter meinen Sitz stellt. In Ziadoz, kurz vor Warschau, wacht er auf und blickt wild um sich, seinen Korb habe ich seit einer halben Stunde festgehalten. Wer weiß, wohin diese Leute alle wollen, es ist entmutigend. In dieser Nacht. In diesem Zug, wo draußen eine lichtlose, nasse Landschaft vor dem Fenster heult, das sich anscheinend nicht ganz schließen läßt. Gott sei Dank sitze ich nicht in Fahrtrichtung, so daß es mich nicht direkt anbläst. Das Paar direkt am Fenster sitzt vereint unter einem Mantel und die Dame im Tangokleid neben mir (sehr polnisch übrigens) hat sich in eine pflaumfarbene Flauschdecke gehüllt. Dann ist da noch ein junger Mann, Schauspieler, wie er wiederholt behauptet, er sieht aber nicht unzuverlässig aus, und eine rothäutige Frau, die nach einer starken Seife riecht, auch sehr polnisch. Ich selber, nur noch fröstelnd, weiß nicht, ob ich das hingekriegt habe, das richtige Bild, jedenfalls reise ich mit einem schweinsledernen Pappkoffer, den ich nachher irgendwo stehen lassen werde.

Warschau, Wroclav-Bahnhof, nachts um eins.

Unter der schwachen Bahnsteigbeleuchtung sind ganze Schicksale versammelt, sitzen auf abgestelltem Gepäck und warten, worauf, auf den Zug nach Lodz. Junge, immer noch hübsche Bräute in ganz billigen Blusen und dünnen Mänteln. Soldaten mit eigenartig geformten Kappen, die anscheinend durch kleine Pappdeckel viereckig gehalten werden, mit einem Gestellungsbefehl nach Rzeszow in der Tasche, die meisten schlafend. Und die Gruppe Wanderarbeiter aus der Gegend von Olsztyn, etwa zehn oder zwölf, auch in tiefem Schlaf. Einige haben sich direkt auf das Pflaster gelegt, auf Zeitungen oder Pappen, und die Entmutigung ist auch bei der schlechten Beleuchtung des Bahnsteigs sichtbar.

Ich stelle mir vor, wie ich nun völlig erschöpft ebenfalls dort sitzend oder liegend die Nacht verbringe. In der Zugluft, im leisen Sprühregen, inmitten krächzender Rangiergeräusche und frierender Soldatenbräute. Stattdessen bin ich aber weitergegangen, dorthin, wo sich am Ende des Bahnsteigs dieser mit ein paar Stufen im Dunkeln verliert. Wo sich das Gelände der ehemaligen Eisenbahner Darlehenskasse Masowinia erstreckt. Dort gibt es eine Kohlentür in der Mauer, braunfleckig und wahrscheinlich seit Jahrzehnten festgerostet und nicht mehr in Gebrauch. Und dennoch gibt es da einen gut geölten kleinen Schlitz in dem Rost (mit Geld ist alles zu erreichen), in den nun mein Schlüssel paßt, ich glaube, man hatte es fast geahnt.

Das Licht empfängt mich, der leichte warme Holzgeruch, Musik aus «Hotel Costes», es ist sogar vorgeheizt. Und wenn ich den Schrank öffne, hängt dort dieser wunderbare lehmgelbe Mantel, den ich in Dijon — war es Dijon? — hatte zurücklassen müssen. Es ist kein Gelb, es ist eine schattige Herbstfarbe, und ich hatte damals gleich den ganzen Satz gekauft. Zahnbürste auf dem Toilettensims — man ahnt —, perlmuttartig mit dem Lichteffekt. Während draußen das Brummen eines der neuen schweren Fernzüge schwach angeschlagen zu hören ist. Ich darf sagen, beim besten Willen, also beim allerbesten Willen kann mich hier niemand finden, besser, also besser kann sich kein Mensch auf dieser Welt verbergen. Das darf ich einmal erwähnt haben.

*

Und warum gibst du ihnen nicht, was sie haben wollen, ich meine, warum gibst du es denn nicht einfach her?

Weil, lieber Freitag, weil es mein Erbe ist!

– –

Um das es sich hier handelt.

– –

Das, was mein Vater mir vererbt hat!

Und was ist das?

Es sind fünf Zahlen und vier Buchstaben.

Nun, wieviel ist es, ich meine: W i e v i e l?

Frag nicht.

Ich habe sogar erwogen, meinen Wohnsitz ganz auf die Schienen zu verlegen, auf eine rollende Bahnmeisterei sozusagen, eine permanente Schlafwagenreservierung, möglicherweise sogar zwei Abteile nebeneinander. In früheren Zeiten wäre das ohne weiteres möglich gewesen, als die Bahnlinien noch private Unternehmungen darstellten. Da wurden ganze Salonwagen an die regulären Züge gehängt, ganze Palast-Suiten für die Eigner solcher Extravaganzen. Doch auch heute gibt es noch Exoten, die Kontingente ihres bewegten Bahnraums verkaufen. Auf Jahrzehnte. Zum Beispiel auf der Strecke Bombay — Malabarküste, oder, noch ausgedehnter, Istanbul — Teheran — Karatschi, danach Bangkok — Singapur, auf der sogenannten Goldenen Route. Die, zwar im ganzen nicht durchgehend, mit angehängten Kurswagen dennoch besteht. Hin und zurück zwei Monate, zu Monsunzeiten sogar drei Monate. Ich sehe da ein feines kleines Kompartment in teefarbener Seide und teefarbener Täfelung mit der Perlmuttzahnbürste im Bad, Musik «Hotel Costes», während draußen dunkle Tempelstädte vorbeifliegen.

Deswegen mußt du aber nicht erschrecken, es ist nur eine Vision, eine Idee. Die rosenrote Nacht, der Zimtgeruch, die von den Tempelstufen Gebete herübersendenden Heiligen, während du an deinem Fensterplatz deine Papaya schlürfst. Das ist der allergrößte Luxus. Es gehört ein Gewürzkern hinein, den die Paschtunen Jel nennen, die Singhalesen Moo. Es werden auch eine Menge Elefanten an der Strecke stehen, und zur Kühlung wird an den Haltestationen ein Block Eis aufs Dach gelegt. Eine ziemlich luxuriöse Version, zugegeben, auch wenig sozial gedacht, immerhin wurde sie von mir erwogen.

Ich gebe hier noch einen Geheimtip: Die Bergbahn am Pancha Punga — nur für Plantagenbesitzer.

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